Alle wollen nur noch weg aus Santa Fe. Sylvie und mir geht das überfüllte Strandgedöhns auf den Sender, Göte hatte „die schlimmste Nacht seines Lebens“, da er von Mücken zerstochen wurde und Matze jammert, dass der Ventilator so laut wie eine MiG 21 gewesen sei. Er schreit nach einem HILTON. Jenna hat lediglich keine roten Marlboro mehr. Alf hatte sich angeboten, uns nach Puerto la Cruz, das Miami ähneln soll, zu begleiten. Vielleicht könnten wir ja dort auch noch eine Tour buchen.
Wir halten am teuersten Hotel der Stadt, einem staatlichen 5-Sterne-Bunker. Es gibt kein HILTON. Als Göte und Matze aus dem Foyer kommen, glotzen Sylvie und ich erstmals, wie Schweine im Weltall. Die beiden haben eine Suite für 320 Dollar die Nacht gebucht und laden uns ein. „Ich hätte es mir teurer vorgestellt“, sagt Matze zu allem Überfluss. Der graue Luxusschuppen sieht von außen aus, wie ein FDGB-Ferienheim im Ost-Harz. Innen eigentlich auch. Na fast …

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Weiter geht’s mit Alfi in einer einstündigen Fahrt durch den Stau ins Shopping-Center. Angeblich gibt es nur dort Internet. Alvaro ist die gesamte Zeit sehr zuvorkommend und anständig. Er trinkt kaum Alkohol, liebt seine Frau abgöttisch und hasst Leute zutiefst, die Drogen ins Land schleppen. Nachdem wir in einem Cafe eine Lagebesprechung abhalten und er die spendierten Biere rülpsend in einem Zug leert, taut er allmählich auf und erzählt voller Stolz, wie er die örtlichen Damen durchknallt. Er will sogar Sylvie mit Nutten versorgen. Bedacht leise flüstert er, dass er den besten kolumbianischen Stoff der Stadt besorgen könne. Touren kann man hier allerdings nirgendwo buchen und wir werden den schizophrenen Vogel nicht mehr los. „Everything is possilbe.“ Wir wissen alle, dass man Bekloppte nicht provzieren sollte. Er läuft mit uns durch die Stadt und als er mal pinkeln muss, verduften wir um die nächste Ecke. Erleichtert schlendern wir zurück zur Deluxe-Herberge. Und wer ist schon da? Alfi liegt zugedröhnt in unserer Badewanne. Jetzt reicht es aber! Wir lassen die Security holen. Ein Albtraum.
Im besten Hotel der Stadt gibt es keine gefüllte Minibar, absolute Handtuchknappheit und keinen funktionierenden Roomservice, obwohl der mit 24 Stunden angepriesen ist. Wir gehen an die Poolbar und werden schroff abgewiesen. Dem Tonfall nach zu urteilen, hätten sie auch „Verpisst euch, ihr Penner!“, sagen können. Draußen finden wir einen Kiosk, an dem wir frustriert ein paar Bier trinken. Aus den Boxen erschallt venezolanische Mallorca-Musik. Es fängt an zu regnen.
Wir trauen uns in der Dunkelheit nach Downtown zum Essen, doch bereits kurz vor 21 Uhr beschließen wir, einen Heimabend zu machen, da wir uns ja in einer sehr gefährlichen Stadt befinden. Göte, Jenna und ich kaufen beim Liquorshop zwei Literflaschen Cacique-Rum, Pepsi und 5 kg Eis. Sylvie nimmt sich Rotwein und Matze vier kleine Light-Bier mit. „Der Rum ist das Einzige, was noch genauso gut ist, wie vor zehn Jahren“, sagt Göte meckernd. Wie Recht er nur hat.
Die Cacique-Fraktion ist um 23.30 Uhr schrankfertig abgefüllt und Sylvie gibt dem bettelnden Matze noch eine viertel Flasche Wein ab. Dennoch versucht Mr. Lightbier danach vergeblich den Zimmerservice anzurufen und auch an der Rezeption rücken sie keinen Alk mehr heraus. Auf die Frage, warum er denn nicht noch in die Stadt geht, antwortet er: „Für drei Bier lass ich mir doch nicht den Schädel einkloppen.“
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Am Morgen kommen Göte und Matze freudestrahlend ins Zimmer zurück und erklären, dass wir die Suite weiter behalten können. Somit sind auch die letzten Pläne gekippt, doch noch zum Salto Angel zu fahren. Wir gehen bei Sonnenschein in die Stadt frühstücken und bei Regen wieder zurück. Da es den ganzen Tag weiter schüttet, lassen wir uns an der heute geöffneten Poolbar nieder.
Göte und Matze hatte ich lange nicht gesehen und während unserer Gespräche fällt mir auf, wie sehr ich sie vermisst habe. Wir reden über ihre Jobs im Ausland, über Berlin, andere Freunde und die letzte Fußball-EM. Göte war bei vielen Spielen dabei gewesen. Er schwärmt noch immer von Spanien, wie sie im Halbfinale Russland auseinander genommen und auch uns Deutschen im Finale eigentlich keine Chance gelassen hatten.
Ich berichte von meinem Auswärtsspiel in Australien, doch die schönste Geschichte erzählt Matze von der WM 2006. Die kannte ich noch gar nicht. Er hatte sich damals fünf Stunden vor das Olympiastadion gestellt, um eine Karte für das Spiel gegen Argentinien zu ergattern. Als er siegestrunken, Stunden nach dem Match, nach Haus fuhr, herrschte noch immer eine unglaubliche Euphorie in der S-Bahn. Wildfremde Menschen umarmten sich und jeder musste dem anderen mitteilen, dass sie gerade etwas Einzigartiges, Unvergleichbares erlebt hatten. Bis sich ein älterer Mann schüchtern zu Wort meldete und von der „Nacht von Sevilla“ berichtete. Er hatte 1982 das WM-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich live im Stadion gesehen. In der Bahn herrschte für Minuten ehrfurchtsvolle Stille.
Am Abend finden wir ein gemütliches Lokal, mit exzellentem Essen, schaumigem Fassbier, guter Weinkarte und vor allem lächelnden Bedienungen. Von Matze kommt die unvermeidliche Frage nach einem Diskobesuch. Jenna hat keine Lust und so begleiten wir ihn noch nach Hause. Vorher wollen wir Bier kaufen, doch die sozialistischen Spätverkaufsstellen haben alle schon dicht gemacht. Wir laufen, wider besseren Wissens, in eine dunkle Seitenstrasse und sind plötzlich umringt von zehn schimpfenden Venezolanern. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass sie über „El Commandante“ Chávez keifen, der ihnen hier alles versaut, auch das späte Saufen. Zu uns sind sie freundlich und besorgen über einen geheimen Kanal ein Sixpack. Als ob ihnen ihr Land peinlich wäre, schenken sie es uns.
An der Promenade von Venezuelas Miami Beach steht ein blau beleuchtetes Kreuz, dass uns den Weg in eine Bar weist. Auch hier sind die Leute wie ausgewechselt und spendieren uns Kakao- und Kaffeelikör, nur weil wir die Liveband beklatschen. Die zwei süßen Opas spielen ausschließlich „Guantanamera“, und wir singen dazu „es gibt nur ein’ Rudi Völler“ mit.
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Wenngleich es heute die ersten Lichtblicke gab und es über unsere beiden alleinigen Urlaubswochen auch einige positive Dinge zu berichten gibt, sind wir noch immer schockiert. Wir fragen uns: Wem kommen die Einnahmen des Erdölreichtums zugute? Wo sind die blühenden Landschaften? Was hat Chávez mit seiner Anti-Armuts-Kampagne bewirkt? Ist er der Retter der südamerikanischen Völker?
Obwohl ich viele der sozialen Vorhaben durchaus begrüße, werde ich in diesem Land seit Tagen daran erinnert, wo ich herkomme. Die letzten ostalgischen Gefühle werden hier aus dem Herzen verbannt. Wenn das der erstrebenswerte Sozialismus des 21. Jahrhunderts sein soll, bin ich glücklich, dass die DDR nur noch in meiner Erinnerung existiert. Nicht zum ersten Mal wird mir klar, dass ich nicht hier bin um Südamerika zu ändern, sondern dass es mich verändert.
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Gegen Mitternacht wird die Kneipe zu einer Karaokebar und danach zur Disko umfunktioniert. Etliche Speckbarbies werden uns vom Barchef für harte Devisen feilgeboten. Sylvie amüsiert sich prächtig und gegen 3 Uhr wanken wir heim. Als sich die Fahrstuhltür öffnet, sitzt ein völlig dichter Typ, nackt auf einem der Stand-Aschenbecher und scheißt offenbar hinein. Wenn wir sein Gebrabbel richtig deuten, war er auf dem Weg zum Klo gewesen und hatte sich in der Tür geirrt, die dann zugefallen war. Er hätte es irgendwann nicht mehr ausgehalten. Sylvie gibt ihm ein Handtuch und ruft unten an, dass man sein Zimmer wieder aufschließt.
Wir sind überrascht, dass bei uns noch Licht brennt und uns Jenna mit verquollenen Augen begrüßt. Er hätte die ganze Zeit wach gelegen, weil Kätzchen im Zimmer wären. Ich suche unter dem Bett tatsächlich nach Samtpfoten, bis mich Jenna aufklärt, dass es sich um Riesenkakerlaken handelt. Schon prima, dass wir in der 320-Dollar-Suite solche Tiere haben (und nur noch zwei Handtücher). Mir gelingt es zudem auf der Terrasse, die letzte Flasche Rotwein fallen zulassen. Matze hatte für zwei Pullen 40 Dollar bezahlt. Ich sammle die Scherben auf und verziehe mich schuldbewusst ins Bett. Zumindest wurde ich dafür nicht totgeschlagen!
Brasilien-Kolumbien 224
Ich wache auf und fühle mich beschissen. Einzelheiten? Übelkeit, Kopfweh, Durchfall, Rückenschmerzen, Blasenschwäche, eine Ekelgriebe und allgemeines Unbehagen. Macht schon Spaß so eine Wellness-Woche mit alten Freunden. Aus dem Ascher im Gang müffelt es und am schmierigen Pool müssen wir wiederholt um Handtücher betteln. Die Diskomucke ist heute nochmals deutlich lauter und 60 aufgedrehte Deppengesichter machen den Animateuren die Übungen nach. Andere beschmeißen sich im Wasser besoffen mit Sahnetorte, oder brutzeln in der Karibik unter der Sonnenbank! Sind die hier alle total bescheuert oder was?
Am Nachmittag verabschieden sich Matze und Jenna, die ihren wohlverdienten Urlaub nach fünf Tagen beendet haben und sich auf den Rückweg nach Miami – ins Original – machen. Wir verbringen den Rest des Abends in unserem neuen Stammlokal, schauen Baseball, essen flambierten Salzfisch und quatschen. Später verschlägt es uns auf unsere kleine Oase, die Terrasse, mit dem Blick auf das Meer und den Hafen. Ab und an hören wir Schüsse aus Schnellfeuerwaffen.
Per Inlandsflug geht es nach Caracas. In der Hauptstadt quatscht uns das örtliche Sicherheitspersonal an und fragt: „Was haben sie in Venezuela gemacht? Warum sind sie hier gewesen?“ Wir finden spontan keine Antwort darauf.
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Zum Weiterlesen: 90 Minuten Südamerika
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