Icke

„Scheiß Ostler!“, brüllt Ottmar. Doch sie können ihn nicht hören. Mit zwei Sixpacks Schultheiss sitzen wir auf einem grasbewachsenen Turmsockel der Oberbaumbrücke. Er hatte sie als Erster gesehen, und nun beobachten wir gemeinsam die grölend vorbeiziehenden Idioten. Sturzbetrunken schwanken sie im Zickzack an uns vorbei in Richtung Kreuzberg. Sie brüllen „Deutschland ist Weltmeister!“ Zwei der Kerle in Marmorjeans schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen. Sie wollen offenbar martialisch wirken, tatsächlich wirken sie eher peinlich und unfassbar dumm. Ich kann nicht glauben, was sie da veranstalten und schäme mich. Für meine Landsleute.

Die Oberbaumbrücke zwischen den Berliner Stadtteilen Friedrichshain und Kreuzberg symbolisiert in diesen Tagen im Sommer 1990 für meine Freunde und mich grenzenlose Freiheit. 28 Jahre lang war es DDR-Bürgern nahezu unmöglich gewesen, über sie in den Westen zu gelangen. Kurz nach dem Mauerfall hatten wir sie für uns entdeckt. Hoch oben auf den verfallenen Stümpfen der Türme haben wir einen phantastischen Blick über die Spree, bis hin zum Hotel „Stadt Berlin“ und dem Fernsehturm. Wir können die neugierigen Menschen aus Richtung Friedrichshain kommend und gleichzeitig das bunte Treiben in Kreuzberg beobachten. Der Sonnenuntergang, über dem sich verändernden Berlin, ist hier der schönste in meiner Stadt. Es ist ein magischer Ort.

Der torkelnde Ossi-Mob ist nun schon fast an der U-Bahn angekommen. Doch wir können noch hören, dass sie ein Lied angestimmt haben. „Sind die bescheuert?“, ruft Ottmar, der aussieht, als wollte er sich gleich auf sie stürzen. „Deutschland, Deutschland, über alles. Über alles in der Welt“, schallt es zu uns herauf.

Ich bin kein Deutscher!

Wir hatten die erste Halbzeit des WM-Finales in einer kleinen verrauchten Kneipe gesehen. Deutsche Devotionalien gab es keine, nur vereinzelnd ließen Gäste ihren Emotionen freien Lauf. Einige drückten offenbar den Argentiniern, also Maradona und seinem Team, die Daumen. In der Pause verließen wir die Kneipe und kletterten mit ein paar Bieren auf die Brücke. Die Stadt war wie ausgestorben. Um uns herum eine unfassbare Stille, wie man sie wohl kein zweites Mal an einem Sonntagabend an dieser sonst vielbefahrenen Straße über der Spree erleben würde.

Plötzlich ertönt ein gewaltiger Schrei, der aus Tausenden Kehlen gleichzeitig zu kommen scheint. An der ehemaligen Mauer und den Häuserwänden hallt das Echo sekundenlang nach. Deutschland musste in Führung gegangen sein. Doch die Ahnung lässt mich kalt. Obwohl die Wiedervereinigung in wenigen Monaten bevorsteht und ich mit der DDR schon lange nichts mehr am Hut habe, empfinde ich nichts. Das ist nicht mein Land, nicht mein Team und auch nicht mein Tor. Es ist nicht mein Schrei. Die bundesdeutsche Nationalmannschaft kann mir heute und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit gestohlen bleiben. Und dieses Deutschland eigentlich auch. Ich bin kein Deutscher!

Statt hier zu hocken, möchte ich lieber reisen und rote Punkte auf eine riesige Weltkarte kleben. Will andere Kulturen kennenlernen, andere Landschaften und Architekturen bestaunen, andere Lebensweisen begreifen lernen, andere Menschen treffen, andere Bier- und Fischsorten testen, andere Musik hören und anderen Sex haben.

Heute ist das große Spiel

Ich drehe mich zu Ottmar, der mir gerade ein neues Bier reicht und sage mit ironischem Unterton: „Weißt du eigentlich, dass heute ein ganz besonderer Tag ist?“ Er schaut mich fragend an. „Warum?“ Ich erhebe die Flasche und rufe: „Die BRD ist letztmalig Fußball-Weltmeister geworden!“ Raketen fliegen in den nächtlichen Himmel. Diese einfachen, billigen: rot, gelb, einige grün. Auch Böller sind nun zu hören. Es ist die Nacht des 8. Juli 1990.
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Zwanzig Jahre später, an einem herrlichen Sommersonntag im Juni 2010, erinnere ich mich noch einmal daran. Ich war mit Steffi in Kreuzberg zum Kaffee verabredet und habe es nun eilig, zurück nach Friedrichshain zu kommen. Auf der Oberbaumbrücke halte ich einen Moment inne. Wie schön sie nur ist, „unsere“ Brücke. In den vergangenen Jahren war sie aufwendig renoviert worden. Das rote Gewölbeviadukt mit seinen Türmen gilt mittlerweile als Symbol der wiedervereinten Stadt.

Langsam fahre ich mit meinem Rad über das historische Pflaster durch einen immer dichter werdenden Menschenpulk. Ich blicke über die Spree und überlege, wie viele dieser Gebäude damals anders hießen oder noch nicht standen. Meine Stadt hatte sich verändert und mit ihr auch die Menschen. Vor mir laufen nun Hunderte aufgeregt plappernde Leute. Fast alle tragen Trikots der Nationalmannschaft, schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen und haben sich die Gesichter und Arme „deutsch“ bemalt. In Vuvuzelas trötend sind sie auf dem Weg in eine der unzähligen Kneipen mit Flachbildschirmen und Leinwänden oder in die „11-Freunde“-Arena. Heute ist das große Spiel, heute beginnt die Fußball-WM 2010 erst richtig. Heute trifft Deutschland im Achtelfinale auf den Erzrivalen England.

Ein Urschrei aus tausend Kehlen

Diesmal trage auch ich das Trikot der Deutschen. Gekauft hatte ich es mir während der WM 2006 und erstmals in Südamerika getragen. Damals hatte ich den Leuten dort zeigen wollen, wo ich herkomme, wo meine Wurzeln sind, wo ich das viele Geld verdient hatte, um durch diesen traumhaft schönen Kontinent zu reisen und vor allem, wem ich die Daumen drückte!

Meine Freunde sitzen schon vor unserer Stammkneipe und albern nervös herum, als ich eintreffe. Wir sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Nord und Süd, Ost und West. Erst der Mauerfall hatte viele von uns zusammengebracht und fast alle wissen das sehr zu schätzen. Auch einige, mit denen ich noch vor 20 Jahren auf den Turmsockeln gehockt hatte, sind dabei. Wochen vorher hatten wir die Bänke reservieren müssen und mittlerweile kleben sogar kleine Zettelchen mit unseren Namen auf den Tischen. Durch die Straßen schiebt sich noch immer ein unüberschaubarer Strom schwarz-rot-golden gekleideter Fans.

Meine Stadt erstarrt in angespannter Vorfreude. Ein bisschen Herzklopfen, ein leichtes Aufatmen und ein spürbar wohliges Gefühl im Magen: Das Spiel beginnt.

Dann in der 20. Minute: Langer Abschlag von Neuer direkt in den Lauf von Klose. Er enteilt dem englischen Verteidiger und schiebt – fast im Fallen – den Ball über die Linie. Ein ohrenbetäubender Schrei donnert wie eine Lawine durch die Simon-Dach-Straße. Ein Urschrei, aus Tausenden Kehlen gleichzeitig. An den Häuserwänden hallt das Echo sekundenlang nach. Der grenzenlose Jubel lässt mich freudig erschaudern. Ich schaue auf den Bildschirm. Das dort ist mein Land. Es ist mein Team und auch mein Tor. Es ist mein Schrei!

Was für ein Schrei!

Noch dreimal jubeln wir an diesem Nachmittag und viermal berauschen wir uns an den Toren im Spiel gegen Argentinien. Doch gegen Spanien ist Schluss. Müdigkeit und Trauer – Millionen Deutsche fallen emotional in ein schwarzes Loch.

Am Tag nach der Niederlage buche ich einen Flug nach Madrid. Ich möchte dem Hochgefühl hinterherfliegen, kann nicht akzeptieren, dass die WM schon vorüber ist. Eine innere Stimme sagt mir, dass ich dort etwas finden werde.

116. Minute: Van der Vaart passt unglücklich auf Fábregas, der den Ball weiter zu Iniesta spielt. Iniesta nimmt Maß und trifft platziert zum 1:0. Für den Bruchteil einer Sekunde verharren die Leute in ungläubigem Staunen, doch dann brüllen sie es heraus. Wie eine zerstörerische Lawine bricht das hunderttausendstimmige „Gooool“ über die Stadt herein. Es ist ein nicht enden wollender Schrei, so als ob ganz Spanien jahrzehntelang dafür Luft geholt hatte. Und noch immer nimmt die Lautstärke weiter zu. Plötzlich ahne ich, was sie vorhaben: Das immer länger werdende Gebrüll soll ihre Mannschaft zum ersehnten Schlusspfiff tragen. Es gelingt. Schon Sekunden später weiß ich, dass ich dieses markdurchdringende Kreischen nie wieder im Leben hören werde. Spanien wird nur einmal zum ersten Mal Fußball-Weltmeister. Was für ein Schrei!

Eine wild gewordene Meute tanzt durch Straßen. Ich laufe den Weg zurück zu meinem Hotel. Bis tief in die Nacht will ich diese Emotionen auf mich wirken lassen. Möchte beobachten, wie die Iberer ihren Gefühlen freien Lauf lassen, wie sie vor Freude lachen und weinen. Ohne Neid und Missgunst, aber voller Hoffnung, dass auch ich, wir, mein Land, Deutschland, dies noch einmal erleben dürfen.

Wie auf Kommando beginnen die Madrilenen ein Lied zu singen. Nicht vier oder fünf, sondern alle. Hunderttausende gleichzeitig. „Yo soy español, español, español! Yo soy español, español, español!“ (Ich bin Spanier). Gerührt beobachte ich das Schauspiel. Nach 20 Jahren des rastlosen Reisens bin ich plötzlich ergriffen: Ich identifiziere mich endgültig mit meinem Heimatland. Die Wiedervereinigung hat nun auch in meinem Herzen stattgefunden. Doch manchmal muss man wahrscheinlich sehr weit reisen, um in solch einem Moment, genau das herauszufinden. Zunächst flüstere ich es nur, doch sie können mich nicht hören. Mit Inbrunst stimme ich in ihren Chor ein und schreie es in den Abendhimmel: „Yo soy alemán, alemán, alemán! Yo soy alemán, alemán, alemán!“ Ja, ich bin Deutscher! Es ist die Nacht des 11. Juli 2010.

Mit Bildern auf Spiegel Online „Ein Schland, ein Schrei“

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