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Pascal, einer meiner besten Freunde in Berlin, ist ein Mischling. Ja, ein Schwarzer, Dunkelhäutiger, Mulatte, oder eben Deutsch-Afrikaner. Er begreift diese Begriffe nicht als Schimpfwörter, da auch er seine Mitmenschen nach Äußerlichkeiten umschreibt.
Vor vielen Jahren erzählte er mir mal folgende Geschichte: Bis zum Alter von 8 Jahren realisierte er gar nicht, dass er anders aussah, als die anderen Kinder seiner Klasse. Er sprach dieselbe Sprache (mit urigem Berliner Dialekt), hatte dieselben Hobbys und spielte den Erwachsenen die gleichen Streiche wie all die Kids in seinem Alter. Er duldete keine Einschränkung seiner Freiheit. Vielleicht war es aber auch eine Frage der fehlenden Eitelkeit in jungen Jahren, in denen man Spiegeln eine eher untergeordnete Rolle beimaß – in einer Epoche, in der es lediglich matte, schwarz-weiß Fotos gab. Außerdem wuchs er bei einer Pflegemutter auf, die bis an ihr Lebensende aufopferungsvoll für ihn sorgte und ihm nie das Gefühl gab, dass die Hautfarbe eines Menschen eine Rolle spielt.
Es kam der Tag, an dem ein dunkelhäutiger Onkel über ein Tagesvisum aus Westberlin erschien und mit Pascal in der U-Bahn zum Alex fuhr. Und genau während dieser Fahrt merkte er erstmals, dass mit ihm etwas nicht „stimmte“. Unzählige Passagiere drehten sich nach den beiden um, tuschelten und kurz vor der Endstation zeigte ein kleines Kind mit dem Finger auf ihn und rief laut zu seinen Eltern: „Guck mal, die Negerpuppe kann ja sprechen!“
Sicherlich muss man dazu wissen, dass es in der DDR eine Spielzeugpuppe für Mädchen gab, die tatsächlich unter dem sinnfreien Namen „Negerpuppe“ in volkseigenen Läden verkauft wurde. Zwei „lebendige“ schwarze Menschen waren in jener Zeit in Ostberlin eine echte Sensation – für das geschockte weiße Kind sicherlich umso mehr.
Neger – ich tue mich heutzutage schwer damit, dieses Wort zu niederzuschreiben, denn ich komme aus einem Land der politischen Korrektheit, in dem man, historisch bedingt, äußerst vorsichtig in seiner Wortwahl gegenüber Andersfarbigen sein muss. In diversen, historisch bedeutsamen Büchern musste diese Bezeichnung mittlerweile entfernt werden. Gleichzeitig lebe ich in einem Land der „Weißen“, in dem unterschwelliger Rassenhass noch immer an der Tagesordnung ist.

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Während der langen Busfahrt dachte ich an die Story von Pascal, da ich vor kurzem das Buch „Herren des Strandes“ von Jorge Amado gelesen hatte. In wenigen Stunden würden wir also Salvador da Bahia erreichen, die Stadt der Negerpriesterinnen, Negerheiligen und Negergöttinnen – wie der Autor sie wortwörtlich nannte, der Ort mit dem seltsamsten Menschenschlag Brasiliens, in dem kräftige Mulatten und schwarze Vagabunden ihr Unwesen treiben und ihre Blicke kaum von den Brüsten und Schenkeln kleiner Negerinnen mit tänzelndem Gang wenden können (in Amados Werk wurden schwarzen Menschen ausschließlich – ohne rassistische Hintergedanken – Neger genannt). In Reiseführern heißt es, dass 80 % der Bevölkerung Salvadors Afro-Brasilianer sind und die ehemalige Hauptstadt die kulturelle, religiöse und musikalische afrikanische Seele das Landes sein soll.
Als wir den Busbahnhof erreichten, war ich dennoch geschockt. Alle (!) waren schwarz und ich hatte das Gefühl, dass uns auch jeder anstarrte. Die braungebrannte Sylvie fiel mit ihren dunklen Haaren und dem eher arabisch anmutendem Äußeren gar nicht so sehr auf. Doch ich, mit meinem flatternden Blondhaar und dem käseweißen Gesicht, fühlte mich, als ob ich soeben im Dschungel von Schwarz-Afrika abgeworfen wurde. Ein dunkelhäutiger Krakeeler zeigte mit dem Finger auf mich und brüllte etwas, was den halben Busbahnhof zu amüsieren schien. „Guck mal, das bleiche Persil-Paket kann ja sprechen“, könnte es gewesen sein.
Es gab dort keine Harmonie und Ausgewogenheit der Rassen, dass es einem augenblicklich ganz warm ums Herz wurde und zum allerersten Mal im Leben ahnte ich, wie es ist, „anders“ zu sein. Wir waren umgeben von Mördern, Frauenschändern und Dieben. Nein! Niemand krümmte uns ein Haar und mit unerwarteter Herzlichkeit erklärte man uns, mit welchem Bus wir ins Zentrum gelangten.
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Auf dem Weg dorthin trafen wir unseren ersten weißen Menschen seit einer halben Stunde. Im Buch von Amado gab es ein Foto vom Autor – mit weißem Haar und Oberlippenbart – und wenn ich nicht gewusst hätte, dass er bereits 2001 gestorben war, hätte ich gedacht, wir säßen ihm nun genau gegenüber. Das Krasse: es war ein Deutscher, der vor über 50 Jahre ausgewandert war, um in der schönsten Stadt der Welt zu leben. Mit viel Witz und Charme begleitete uns Bruno auf der fast einstündigen Fahrt nach Pelorinho und stellte uns – wie bei einer teuer erkauften Stadtrundfahrt – seine Stadt, mit eingeworfenen Anekdoten, vor. Zu fast jeder Häuserzeile, aber auch zum altehrwürdigen Fußball-Stadion kannte er unzählige Geschichten und recht schnell merkten wir, dass er „die Negerstadt“ Amados über alles auf der Welt liebte. Die noch im 17. Jahrhundert größte Stadt der Südhalbkugel und ehemalige Hauptstadt Brasiliens ist noch heute mit seinen fast 3 Millionen Einwohnern die drittgrößte Metropole und das eigentliche kulturelle Zentrum des Landes.
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Wir waren fast ein wenig traurig als wir das historische Altstadtzentrum in der so genannten „Oberstadt“, erreichten, da wir uns nun per Umarmung voneinander verabschieden mussten. Leider hatte ich Bruno vergessen zu fragen, ob die „Herren des Strandes“ noch immer in der „Capital da Alegria“ (Hauptstadt der Freude) ihr Unwesen treiben, zumal er uns eindrücklich geraten hatte, das Museum von Jorge Amado zu besuchen.

„Pelorinho“ – so der Name des Stadtteils, den wir nun betraten, bedeutet übersetzt Pranger oder Steinpfosten und – so viel wussten wir bereits – war einmal Teil des größten Sklavenmarktes in Südamerika, wo der Hauptteil der fünf Millionen Sklaven vor einigen Jahrhunderten aus Westafrika ankam und nicht wenige von ihnen an diesem Steinpfosten ausgepeitscht wurden. Noch heute ist die bestimmende Hautfarbe auch hier „oben“ eher schwarz, doch das vormals heruntergekommene Viertel wurde aufwendig saniert und gehört seitdem zum UNESCO-Weltkulturerbe. Demnach waren die Menschen weiße Touristen gewohnt. Niemand beachtete uns bei der Suche nach einer Unterkunft.
Dummerweise hatten wir im Vorfeld nichts gebucht, sodass wir ziemlich lange herumirrten. Die ersten vier Hotels waren ausgebucht. Zum Glück gab es weitere Alternativen und von der, von uns schließlich gebuchten Behausung, konnten wir direkt auf einen Platz mit futuristischem Springbrunnen schauen und das bunte Treiben auf den Straßen beobachten. Wir hielten uns gar nicht lange am Fenster auf, sondern stürzen uns sofort ins pralle Leben!

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Die Menschen in Salvador sollen für ihre Lebensfreude, ihre Lust am Musizieren und am Tanzen bekannt sein. Bereits bei den ersten Schritten über die heißen Pflastersteine der beeindruckend hübschen Altstadt bekamen wir das zu spüren. Überall erklang Musik aus Bars und Cafés, die Menschen tanzten spontan – und recht wild – auf der Straße und das alles ohne, dass es aufgesetzt wirkte. Direkt vor dem berühmten Art-Deco-Fahrstuhl „Elevador Lacersa“, mit dem man in 30 Sekunden die 72 Meter tiefergelegene „Unterstadt“ erreichen kann, zelebrierte eine Gruppe dunkelhäutiger Typen gerade eine Capoeira-Vorstellung. Wir waren beeindruckt, was man mit seinem Körper in dieser Mischung aus Kampf, Tanz, Geschicklichkeit und Spiel alles so anstellen kann.
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Vor der Aussichtsplattform – mit herrlichem Blick auf das Büro- und Hafenviertel mit dem berühmten „Tor des Meeres“ – stand eine große, schwarze und vor allem vollbusige Figur. So viel wusste ich schon durch Amado: in Salvador werden vor allem die mutigsten und tapfersten Frauen von der schwarzen Bevölkerung nach ihrem Tode als Heilige verehrt.
Wir fühlten uns gut aufgehoben und sicher, denn durch die Restaurierung des historischen Zentrums war hier eine Gegend wiederbelebt worden, die zuvor als extrem gefährlich galt. Das hatten wir noch von Bruno erfahren. Als tapfere Touristen trauten wir uns demnach bis tief in die Nacht sogar in dunkle Seitenstraßen, wo vermeintliche Messerstecher lauerten. Leider viel zu spät bemerkten wir jedoch, dass uns bei der Hotelwahl einen Fehler unterlaufen war, denn der moderne Brunnen begann alle halbe Stunde riesige Fontänen auszuspucken. Doch damit nicht genug: dazu erklang eine unfassbar laute und vor allem nervige klassische Musik. Am Tage wäre das ja alles zu ertragen gewesen, aber nicht nachts, halbstündlich und vor unserem Fenster. Sylvie lehnte sich um 4 Uhr neben mir ungläubig mit hängenden Brüsten weit über die Brüstung, da sie das alles nicht glauben konnte. Der Mond übergoss den Platz mit gelben Licht. Irgendwo in der Ferne sang jemand eine traurige Samba und das Schluchzen eines Mädchens war zu hören.

Nach zu wenig Schlaf tauchten wir wieder in das faszinierende Leben der Altstadt ein. Die Sonne überzog die Straßen und pastellfarbenen Häuserfassaden mit einer sanften Helligkeit. Schon nach kurzer Zeit spürten wir die Herrlichkeit des Tages und die einzigartige Freiheit, die Straßen dieser Stadt durchstreifen zu dürfen. Nach einem Cafezinho, den wir an einem rollenden Kiosk von einem frech grinsenden Jungen gekauft hatten, der so schwarz, wie der von ihm gereichte kleine Kaffee war, kamen wir an unzähligen Galerien, Kunst- und Trödelläden vorbei. Die Kopfsteinpflaster-Plätze und alten Kirchen zogen uns magisch in ihren Bann. Besonders die mächtige Catedral Basilica, die barocke Igreja de Sao Francisco und die auffallend blau getünchte Igreja do Rosario dos Petros, aber auch der Terreiro de Jesus (ein Brunnen mit Figuren, welche die vier großen Flüsse Brasiliens symbolisieren) ergaben prächtige Fotomotive.
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Später entdeckten wir endlich das Wohnhaus von Jorge Amado. Schräg gegenüber befand sich das Museum, wobei uns die ausgestellten Fotos und die Übersicht seiner Bücher nicht gerade zu Begeisterungsstürmen veranlassten. Aber sagen wir es mal so: Salvador zu besuchen, ohne seinen bedeutendsten Bewohner zu huldigen, ist in etwa so, als verbrächte man erstmals einige Tage in Ostberlin und hätte zuvor nicht den „Mauergewinner“ gelesen. Vor der Museumstür gab es eine Skulptur aus Stahl, namens Exu, welche laut Amado ein Kind darstellen soll, dass es liebt, sich vagabundierend auf den Straßen herumzutreiben, Streiche zu spielen und keine Einschränkung seiner Freiheit duldet.
Nach einem Mittagsschlaf und ein paar Bahia-Frikadellen (Bällchen aus brauen Bohnen, Salz, Zwiebeln und serviert mit einer Creme aus zermahlenen Krabben, Nüssen, Öl und Kokosmilch) stürzten wir uns einmal mehr ins lebendige Nachtleben.
Schon zuvor hatten wir erfahren, dass wir genau zur richtigen Zeit in der Stadt waren. Am Abend fand, wie jeden Dienstag, in „Pelo“ das Open Air Fest „Dia & Noite“ statt. Unglaublich, aber die Stadtverwaltung bezahlt tatsächlich allwöchentlich die diversen Rhythmusgruppen, Trommler und Musiker damit wir kalkweißen Touristen uns die Darbietungen kostenlos anhören können. In Berlin feiert man einmal im Jahr beim „Karneval der Kulturen“ das Miteinander aller Hautfarben – in Salvador da Bahia jeden Dienstag. Muito bom!

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Eine ständig wachsende Menschenmenge wälzte sich wenig später durch die nunmehr eng wirkenden Straßen der Stadt, denn nicht nur auf dem Hauptplatz des Viertels sangen und tanzten die Gruppen – die ganze Altstadt war nun eine Bühne. Die Leute bewegten sich rhythmisch im Strom durch die Gassen. Zusätzlich gab es überall fliegende Händler bei denen wir günstige Snacks und Dosenbier bekamen. Allerdings gab es noch immer keine Spur von den räuberischen und stolzen „Herren des Strandes“ aus meinem Buch. Wir sahen aber auch nirgends verwahrloste Straßenkinder in Lumpen und Taugenichtse die Klebstoff schnüffelten, stahlen oder Frauen (und blonde Männer) belästigten. Der größte Barock-Slum der Welt – aus den Zeiten Amados – hatte sich in dieser Hinsicht deutlich verändert. Lediglich ein einziger schwarzgelockter Junge im Alter von etwa 10 Jahren, der gekonnt mit fünf Kokosnüssen jonglierte und dabei freudestrahlend seine blitzenden weißen Zähne zeigte, erinnerte mich an die Jungs mit Namen wie Hinkebein, Kater, Joao Grande, Gottesliebling und Pedro Bala, die trotz allerlei Flausen im Kopf, immer einen Stern an der Stelle des Herzens trugen.
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Die Polizei lief dennoch ein paar Runden, kontrollierte aber lediglich, ob alle Bierverkäufer Genehmigungen besaßen. Die leeren Dosen wurden uns von Blechsammlern regelrecht aus den Händen gerissen. Obwohl mir das bunte Treiben sehr gefiel, konnte besonders Sylvie nicht genug bekommen und wollte bis weit nach Mitternacht um die Häuser ziehen. Aber auch ich konnte die Blicke kaum von den Schenkeln und Brüsten der dunkelhäutigen Frauen abwenden, die ekstatisch und mit elegantem Hüftschwung Lambada und Samba tanzten. Doch die schönste Frau, mit dem zärtlichsten Blick der Welt, befand sich an meiner Seite. In diesem Moment wusste ich, dass unter den abertausenden Sternen über Salvador da Bahia gerade nur einer für mich leuchtete.
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Urplötzlich waren die Straßen stockdunkel und menschenleer. Ich hielt es daher für keine schlaue Idee, ganz allein in der Finsternis zu flirten, denn die verlassenen Ecken wirkten nun nicht mehr sehr sicher. Um 3 Uhr nachts war Feierabend und nur der singende Brunnen erklang noch klagend bis zum Morgengrauen.

Vor der langen Busfahrt ins weiter nördlich gelegene Recife schliefen wir gemütlich aus, frühstückten in einem Straßencafé und bummelten nochmals durch die entzückende Stadt. Bei einigen Galerien kehrten wir sogar ein und kauften – erstmals auf dieser Reise – ein paar farbenfrohe Bilder. Die postkartengroßen Malereien im typisch salvadorianischen Stil haben bis heute einen Ehrenplatz in unserer Wohnung. Nach einer nochmaligen Bahia-Buletten-Stärkung stiegen wir in den Bus zum Fernreisebahnhof. Und wen trafen wir wieder? Richtig, unseren Freund Bruno. Mit überschäumender Begeisterung berichteten wir ihm von unseren Erlebnissen in seiner tiefschwarzen aber doch so bunten Stadt. Er hatte uns nicht zu viel versprochen. Lediglich die „Herren des Strandes“ hatten wir nicht getroffen, erzählte ich ihm. Bruno schaute mich groß an und sagte: „Wie der Name schon sagt, werdet ihr sie am Strand treffen, doch heutzutage…“. Bruno überzeugte uns, mal wieder alle Pläne über den Haufen zu werfen, denn am Busbahnhof kauften wir uns Tickets bis nach Valencia (statt nach Recife), um zuvor an die – laut seiner Aussage – schönsten Strände Brasiliens zu gelangen. Auf nach Morro de Sao Paulo!
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