Alex
In diesem Buch geht es um die Erlebnisse eines jungen DDR-Bürgers, der den Mauerfall mit 18 erlebte und jetzt, 20 Jahre danach, über seine Kindheit und Jugend und die späteren Veränderungen in seinem Leben nachdenkt. Dies tut er in kurzen, spannenden, temporeichen und witzig geschriebenen Geschichten, die einem nicht nur den Alltag von „ganz normalen“ Ostberliner Bürgern, sondern auch die damaligen politischen Hintergründe und deren Auswirkungen auf das (Nicht-)Funktionieren in der damaligen von Volkspolizisten und Stasi-Leuten kontrollierten Gesellschaft auf lebendige Art und Weise näherbringen.
„Mark Scheppert war Landschaftsgärtner, Möbelträger, Sachbearbeiter, Forstmitarbeiter, Erntehelfer, Vertreter, Partyveranstalter, Fahrrad-Kodierer, Handlungsreisender, Lagerverwalter, Postbearbeiter, Anzeigenverkäufer und Küchenhilfe. Und all das fand er wirklich kein bisschen aufregend. Deshalb begann er 2008, nebenher ein paar Zeilen zu schreiben.“ (aus seiner Biographie, Umschlagtext). Sein Blick auf das verschwundene Land DDR ist ihm wirklich gelungen, in zweierlei Hinsicht: erstens erhält der Leser einen ehrlichen Einblick in die damaligen Lebensverhältnisse von Ostberlin – und auch das, was Jugendliche wie der Autor selbst darüber dachten und wie sie als junge Idealisten etwas verändern wollten – und zweitens tut er das in einem lockeren, jugendlichen, umgangssprachlichen Stil, der auch sprachliche Realitäten der Ostberliner zu offenbaren imstande ist.

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Die DDR hatte Ideale, die sie der ganzen Bevölkerung, insbesondere aber der Jugend einzubläuen versuchte, z.B. der Sport: „Bei den Schul-Spartakiaden gewann ich meine ersten Medaillen (…) Diese Methode, auch die schwächsten und ungelenkigsten Kinder zu motivieren, sorgte dafür, dass ein ganzes Land gerne so gewesen wäre wie seine ehrgeizigen, erfolgshungrigen Spitzenathleten, die der ganzen Welt die Überlegenheit unseres sozialistischen Systems beweisen sollten (S. 87). Fahnenappell, Aufmarsch in der Karl-Marx-Allee, Einführung in die sozialistische Produktion, Jugendweihe, Diebestouren in der „großen Klauhalle“ am Leninplatz (da es keine Kaufhallendetektive gab), Ferien in Prerow auf der Darßer Halbinsel (inklusive Meeresrauschen und Lagerfeuer), vormilitärisches Trainingscamp, Altstoffsammeln der jungen Pioniere waren Teilrealitäten des Lebens, mit dem sich Ossis begnügen mussten.
Der Traum vom Westen, von westlichen Produkten (nur im „Intershop“) oder der Wunsch nach einer Bekanntschaft mit Ausländern schlummerte in vielen: “Zwischen Kindergarten und Abi traf ich jedoch meinen wichtigsten Ausländer: Dejan. Der Diplomatensohn aus Sarajewo war ein Geschenk des Himmels. Er saß ab der 5. Klasse neben mir und wurde mein wichtigster Freund. (…) Erst als er plötzlich (…) aus meinem Leben verschwand, kapierte ich, was mit ihm so alles möglich gewesen wäre: Er hätte mich mal im Kofferraum in den Westen schmuggeln können – und zurück!“ (S. 57). Auch die Versuche, an Westgeld zu kommen, waren meist schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er versuchte es mit einem Freund als Liftboy in einem Hotel, ohne jedoch jemanden vorher um Erlaubnis zu fragen, ob sie arbeiten dürften. „Polnische Zloty, Russische Rubel und Tschechische Heller flossen in unsere Taschen. Zigaretten wurden uns zugesteckt (…). Doch niemand schmiss uns raus. Die Leute am Empfang (…) schienen uns nicht einmal zu bemerken. Nach zwei Tagen wussten wir auch warum und hatten die Schnauze voll – nicht eine einzige DM landete in unseren Händen. Ich sah enttäuscht auf das osteuropäische Geld und schwor mir, nie wieder betteln zu gehen!“ (S. 153)

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In der sozialistischen DDR hielt man gewisse Rituale, um die Bevölkerung fühlen zu lassen, dass sie zu manchen Zeiten etwas Besonderes erwarten kann, aber auch, um die Indoktrination immer wieder voranzutreiben. So z.B. bei der Jugendweihe (Weihe – ein sonst nur im religiösen Bereich verwendeter Begriff – man bemerkt hier schon den Anspruch der sozialistischen Weltordnung als Religionsersatz): „Die Feierstunde mit Eltern und Verwandten verlief nach dem gewohnten Muster. (…) Danach rezitierte unser GOL-Schulsekretär Hannes Jungblut die Gedichte ’Für den Frieden der Welt’ (…). Die Festansprache selbst hielt Prof. Dr. Heinz Schmidt, Oberst der Volkspolizei. (…) Endlich bekamen wir die Urkunden, das Geschenkbuch ‘Vom Sinn unseres Lebens’ und unseren Blumenstrauß. Dabei legten wir auch das Gelöbnis ab.“ (S. 166f).
Der Verfasser beschreibt in vielen Einzelheiten, die sich insgesamt wie Mosaiksteinchen zu einem zusammenhängenden Bild fügen lassen, sein Leben, und zwar in dem Land, in dem sich ab 1989 so viel ändern sollte. Er resümiert über diese Zeit: „Zeitgleich mit dem Fall der Mauer haben sich alle diese Dinge komplett verändert. Von einem Tag auf den anderen gab es keine ‘Bückware’ [unter dem Ladentisch verkaufte Ware, Anm. R. U.] mehr. Was das gesamtdeutsche Herz begehrte, stand plötzlich in den Warenhäusern und Supermärkten und später auch günstig und gebraucht im Internet. Auch riesengroße, preiswerte Farbfernseher. (…) Eine Sache finde ich außerdem bemerkenswert. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung haben sich ein paar Dinge im Kopf der Menschen verschoben und teilweise sogar grundlegend geändert. Für den gemeinen Ostberliner, aber auch für den Ursprungs-Sachsen, gebürtigen Erfurter oder Schweriner gibt es einen völlig neuen Gegner: den Wessi. Kein Unterschied, ob Kölner, Bayer oder Schwabe – der Westdeutsche ist der große Feind. Punkt.“ (S. 197).

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Dies ist ein spannendes Buch eines normalen Ossi, der keine besonderen Privilegien genossen hatte, der oft unter dem Staat und seinen eigentümlichen Kontrollorganen gelitten hatte und der seit seiner Geburt im gleichen Stadtteil wohnt – nur sein Land und das politische bzw. wirtschaftliche System haben sich geändert: „Der Westen eröffnete mir eine prall gefüllte Wundertüte. Ich konnte die Welt sehen. Ich machte eine einjährige Weltreise (…) Ich bin ein Ossi auf Tour.“ (S. 206). Ein Buch zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln, denn: Mark Scheppert erzählt direkt und (es klingt) spontan, er verschweigt nichts, auch wenn´s unangenehm wird, er gibt uns (s)einen persönlichen Blick auf den Alltag in der DDR, als ein Jugendlicher, als junger Erwachsener. Und dies macht er mit viel Witz, mit Situationskomik, auf eine Weise, die sicher jeder als unterhaltsam anerkennen muss. Ein äußerst gelungenes Buch, das jeder Ossi und jeder Wessi einmal gelesen haben muss – der Ossi als fruchtbare Reflexion seines eigenen Lebens und der Wessi, um seinen engen, rein westlich-kapitalistisch gefärbten (Erlebnis-)Horizont endlich einmal zu erweitern.

Dr. Reinhold Utri, veröffentlicht im Arbeitsbereich Linguistik Warschau/Polen