Icke und Terry
Ich habe mal drei Jahre in Mannheim gewohnt. Es war ’ne geile Zeit, nicht nur weil ich meine Sylvie und Jenna, seither mein bester Freund, dort kennen gelernt habe. Letzterer ärgert sich allerdings bis heute, dass ich damals nicht mit zu seinen „Waldhöfern“ gegangen bin, sondern deren Erzfeind die Daumen gedrückt habe.
Dabei ist er selbst Schuld. Hätte er mich, wie Kai, gleich nach drei Wochen mit zum Fußball geschleppt, wären mir wohl nicht – und so etwas geschieht eben auch im „Ausland“ – die „Roten Teufel“ gegeben worden, sondern „Mannem“.
Doch einmal mitgegangen, gehangen und wie der Zufall es wollte, erlebte ich dort mehr als nur ’ne geile Zeit, denn der 1. FC Kaiserslautern spielte die Fußball-Saison des Jahrhunderts. Waren sie 1997, in meinem ersten Jahr, „nur“ in die 1. Bundesliga gestürmt, erlebte ich im Jahr darauf das Unfassbare: „Lautre“ holte als erstes (und vermutlich letztes) Team in der Bundesliga die deutsche Meisterschaft nach einem Aufstieg. Einen Spieler hatte ich dabei besonders ins Herz geschlossen…

Drogba Torres

Sylvie war ganz in der Nähe des „Betze“ groß geworden. Als ich sie erstmals traf, hatte sie noch knallrote Teufel-Haare, obwohl sie mit Fußball eigentlich recht wenig am Hut hatte. Bei Maria, ihrer besten Freundin, war das anders. Sie erzählte mir einmal eine Geschichte, die ich bis heute nicht vergessen habe, obwohl ich nicht für ihren Wahrheitsgehalt garantieren kann.
Sie war 1998 Kellnerin im „Cafe am Markt“ und da Kaiserslautern (vor den Zeiten von Hoffenheim) das größte Fußballdorf der Liga war, tauchten dort eben auch öfter mal die Bundesligaprofis auf. Ein immer wiederkehrender Satz zwischen Spielern und Trainer Otto Rehhagel in Richtung der vornehmlich gut aussehenden Bedienungen lautete: „Geht doch mal mit dem Michael aus. Der kennt hier doch niemanden!“
Genau von diesem Zeitpunkt an mochte ich den unscheinbaren Mann aus Görlitz, denn in meiner „ersten Saison“ in Mannheim war es mir ähnlich ergangen – ich kannte keine Sau. Das änderte sich mit der Zeit, doch „den Michael“ – eine Simone hatte sich damals erbarmt – kennt heute ein ganzes Land. Richtig, der schüchterne Junge aus ’m Osten hieß: Michael Ballack!

Ich habe seinen spektakulären Werdegang somit fast von Anfang an verfolgt, sah ihn live in Leverkusen auflaufen und mit den Bayern und der Nationalmannschaft im Olympiastadion spielen. Noch heute gerate ich ins Schwärmen wenn ich an die WM 2002 denke, wo er sich im Halbfinale aufopferungsvoll die Gelbsperre einhandelte, um „uns“ kurz danach ins Finale zu schießen. Sein Hammer-Freistoßtor bei der EM 2008 gegen Österreich verursacht noch immer eine Gänsehaut.
Und was wird momentan aus „dem Michael“ gemacht? Mein Lieblings-Sachse gilt als arrogantes, eingeschnapptes Arschloch, der nie einen großen Titel gewonnen hat und als einer, der sich mit unserem „allseits beliebten“ Jogi Löw eine Blutfehde liefert. Zugegeben, ich kenne Ballack nicht persönlich, weiß nicht ob er in mein Schema eines guten Freundes passen würde, aber rein sportlich hat er vermutlich mehr große Titel gewonnen als alle (!) dieser geschniegelten aktuellen Nationalspieler.
Viermal Deutscher Meister, dreimal DfB-Pokalsieger, einmal Englischer Meister, dreimal FA-Cup-Gewinner, um nur die wichtigsten zu nennen. Von wegen „Vize-Ballack“. Bei den letzten WM- und EM-Titeln Deutschlands 1990 und 1996 war auch kein Lahm, Müller oder Schweinsteiger mit dabei gewesen. Ballack ist 2002 Vizeweltmeister und 2008 Vizeeuropameister geworden und stand zweimal im Championsleague-Finale. Und?
Das ist doch grandios! Seine Demontage nach dem Foul von Boateng kotzt mich extrem an, denn ich bin mir sicher, dass wir bei der WM 2010 mit ihm nie und nimmer schlechter abgeschnitten hätten. Ein würdiges Abschiedspiels des Mannes der bei der „BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marx-Stadt“ das Fußballspielen erlernt hatte und zum torgefährlichsten Mittelfeldspieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft „ever“ wurde, wäre ja wohl nicht zu viel verlangt gewesen…

Kurz nachdem ich mein Studium in Mannheim 1999 (halbwegs) erfolgreich beendet hatte, ging Göte, mein bester Freund in Berlin, wegen eines Jobs und der Liebe nach London. Keine Ahnung wer ihn – den Jungen, der dort niemanden kannte – erstmals mitgeschleppt hatte, jedenfalls wurde ihm „Chelsea“ gegeben. Er erlebte mit seinem Team viele Tiefs aber eben auch die glorreichste Zeit des Vereins in seiner Historie. Fünfzig Jahre nach dem bisher einzigen Titel wurden sie 2005 wieder Englischer Meister und wiederholten dies 2006 und – 2010 mit dem Michael!
Göte hatte mich in den Ballack-Jahren öfter einmal eingeladen, doch irgendwie hatte ich es verkackt und das Team nie mit ihm live in London spielen sehen.

Stadion außen

Doch immer wieder erzählte er mir, wie sehr sie den „Meikel“ mit der Nummer 13 noch immer verehren, wie sehr sie ihm nachtrauern – wie beliebt er gewesen war.
In Chemnitz, Kaiserslautern, Leverkusen und München war ich schon bei einem Fußballmatch, es fehlte mir also nur noch die Stamford Bridge, um an all seinen Wirkungsstätten als Profi einmal gewesen zu sein. Ich wollte das Kapitel Michael Ballack endlich abschließen. Chelsea-Time!

„Scheppert, bist du eigentlich total bescheuert oder was?“, fragt mich Jenna als wir uns in London zum Treffpunkt begeben. Auf dem Weg mit der Tube zum „Oxford Circus“ erzählt er mir von Götes E-Mail, die mich nie erreicht hatte. Dieser hatte „zur Feier des Tages“ Karten in einer Box (Lounge) besorgt und uns als Investment-Heinis einer deutschen Bank angekündigt. Seine E-Mail: „Ihr braucht euch ja nicht aufzuschlipsen, aber bitte kein Kapuzenpulli und auf keinen Fall Turnschuhe!“ Mein Outfit: Bluejeans, grüne Regenjacke, schwarzer Kapuzenpulli und natürlich Turnschuhe – herzlichen Glückwunsch Herr Scheppert. Zumindest trage ich auch ein Hemd drunter und Jenna sieht – trotz Nobelpullover – scheiße aus wie immer.
Göte und Matze begrüßen uns im Pub dennoch herzlich, doch ihr Kollege Lars fragt sogleich in die Runde, ob wir „Headhunter“ (Alt-Hooligans) wären.

Nach etlichen „Becks Vier“ – Leichtbier mit nur 4 Prozent Alkohol – geht es los in Richtung Stadion. „Fulham Broadway“ ist nicht gerade in der Nähe, aber erst auf den letzten drei Stationen steigen endlich auch „Blues“ ein. Göte erklärt im typischen Meckerton, dass in London eben mehr als nur zwei Teams beheimatet sind. Die Chelsea-Leute leben somit fast alle rundherum um ihr Stadion und viele „Ausländer“, wie er, unterstützen sie.
Die „Stamford Bridge“ ist von außen extrem unspektakulär, da sie sich in einer Wohngegend hinter unzähligen Apartmenthäusern versteckt – kein gigantisches Bauwerk, welches sich in den blau-weißen Himmel erhebt.
Alles friedlich. Geteilte Chelsea-Benfica-Schals werden verkauft und die Fans mischen sich 1:10 durcheinander. An den das Stadion begrenzenden Mauern hängen Bilder der größten Chelsea-Götter – auch „der Michael“ ist zu sehen.

Ballack
Ein Pseudo-Investmentbanker mit Hooligan-Turnschuhen betritt das Allerheiligste.
Ich brauche keine „Box“ mit Schnickschnack und die hiesige sieht eher aus wie ein Besprechungsraum der AOK, aber es gibt Freibier und gutes Essen, welches den Alkohol bindet. Nörgeln sollte ich sowieso nicht, da ich zum Viertelfinale der Championsleague 2012 eingeladen bin.
Als das Spiel beginnt, begreife ich jedoch unmittelbar, wie sich der Fußball in England in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Okay, die VIP-Boxen und die anderen Leute mit teuren Karten finanzieren das Business, aber da sitzen eben häufig nicht gerade die heißblütigen Supporter des Teams. In unserer Lounge befinden sich drei Fan-Touristen die überhaupt keine Ahnung von Fußball haben und besonders eine Frau fragt viele unnötige Dinge über Abseitsfallen.
Man darf in keiner Ecke des Stadions rauchen, das Bier nicht mit auf die Tribüne nehmen (ich werde fast von einem Ordner angesprungen) und selbst „Aufstehen“ und „Brüllen“ bei brenzligen Situationen wird von den Guards äußerst ungern gesehen. Das ist der Fußball des 21. Jahrhunderts in England…

Wir haben „draußen“ 16 Plätze und da nicht alle immer gleichzeitig anwesend sind, ist der linke Sitz neben mir frei. Ein Typ, der so ähnlich aussieht wie die ätzenden Oberordner, fragt mich höflich, ob er sich mal kurz setzen darf. Ich nicke doch Göte ruft sofort: „Aber nur kurz, wenn Jenna kommt, musste dich wieder verpissen.“ Der Typ nickt unterwürfig während Göte zum Pinkeln verschwindet.

Icke Fahne

In diesem Moment geschehen viele Dinge gleichzeitig. Genau als mich mein neuer englischer Sitznachbar fragt, ob ich Chelseafan wäre, taucht ein Kerl mit einem Stapel Bilder auf. Ich sage: „No, but“, und beobachte, wie der Mensch neben mir, äußerst routiniert Autogramme auf den Dingern verteilt. Viele Zuschauer drehen sich nun um und grüßen ihn mit einem Lächeln im Gesicht.
Göte bleibt cool. Als er zurückkehrt und erfährt, dass dies der Spieler mit den zweitmeisten Toren von Chelsea „ever“ – noch vor Frank Lampard – ist, wiederholt er seinen Satz: „Aber wenn Jenna kommt, musst du abhauen!“ Kerry Dixon nickt.
Wir kommen ins Gespräch. Ich erfahre, dass er 1985 – zusammen mit Gary Lineker – Torschützenkönig der englischen Liga war und sein erstes Länderspieltor gegen Deutschland erzielt hatte. Mein Stichwort: ich spreche ihn auf Ballack an.
Was jetzt kommt, gleicht einer Lobeshymne, denn „der Michael“ war für Dixon einer der besten Spieler, der jemals für Chelsea aufgelaufen ist. Er war weder der schnellste noch der torgefährlichste oder technisch versierteste Player, aber der Mann hatte Klasse, Eleganz, Spielverständnis und vor allem Ausstrahlung.
Jenna kommt. Mein neuer Freund Kerry steht unbeholfen auf. Von weitem ruft er mit zu: „Hey Mark. My second name is Michael“. Ich grinse. Wir sehen uns nie wieder.

In der Halbzeitpause – Frank Lampard hatte per Elfmeter bereits zum 1-0 getroffen und ein Portugiese war vom Platz geflogen – erzählt mir Matze, das Göte seinen Sohn nach einem Spieler von Chelsea benennen will. Seine Freundin ist nunmehr im siebten Monat schwanger und alle überlegen schon ob er Didier, Fernando oder Branislav heißen wird. Mir fiele da noch etwas anderes ein…

Zweite Halbzeit. Chelsea spielt kacke und Benfica – zumindest bis zum 16er – genial. Doch sie versauen die besten Chancen und treffen eher unverhofft nach einer Ecke in der 85igsten Minute zum 1-1. Das Hinspiel war 1-0 für Chelsea ausgegangen. Endlich Championsleague-Feeling. Die knapp 3000 mitgereisten Portugiesen flippen schlichtweg aus.

In einer atemberaubenden Schlussphase haben sie trotz Unterzahl Chancen zum Sieg, doch gerade der verhasste Meireles (spielte mal bei Porto) entscheidet die Partie in einem Konter für Chelsea. Göte und die Jungs auf den „Stehrängen“ rechts unter uns drehen durch. Halbfinale gegen Barça!

Und ich? Endlich war ich einmal in dem englischen Stadion gewesen in dem einer der besten deutschen Fußballer „ever“ gespielt hatte. Ich habe in den 90 Minuten tatsächlich sehr oft an ihn gedacht und deshalb möchte ich Michael Ballack einen Rat geben. Da Chelsea das Finale der Champions League ja sicherlich gegen Bayern München erreichen wird: Fahre hin! Es wäre auch dein Abschiedspiel. Jeder wüsste, dass du mit diesen beiden Teams deine größten Erfolge im Vereinsfußball gefeiert hast, jeder würde sich noch einmal vor dir verneigen und niemand würde dich von einem Platz mit dem Spruch: „verpiss dich, gleich kommt mein Kumpel wieder“, verweisen, da „den Michael“ auch Menschen kennen, die überhaupt keine Ahnung vom Fußball haben.
Noch!

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Stadion voll