Icke Karte

Vor ein paar Tagen hatte ein Leser in einer Rezension auf Amazon behauptet, dass mein Buch „90 Minuten Südamerika“ vielleicht die deutsche Antwort auf Nick Hornbys „Fever Pitch“ wäre.
Das ehrt mich zwar, ist aber natürlich großer Quatsch, da „Fever Pitch“ das mit Abstand beste Fußballbuch aller Zeiten ist. Und so weit ist der Herr Scheppert leider noch lange nicht.
Dennoch passte der Zeitpunkt der Rezension ganz gut, denn nur wenige Tage zuvor war ich in London gewesen und hatte dort erstmals ARSENAL live gesehen, also den Verein, den sich Nick Hornby in seiner Kindheit nicht ausgesucht hatte, sondern der ihm schlichtweg gegeben wurde.

Nachdem meine Freundin Sylvie mir und Jenna x-mal in den Hintern getreten hatte, dass wir endlich mal unseren Kumpel Göte in seiner neuen Wohnung in London besuchen müssten (und längst beschlossen hatte, dann auch mitzukommen), reisten wir an einem „Problem-Wochenende“ an. Fest stand schon vorher, dass wir gemeinsam zu einem Fußballmatch gehen wollen, doch Chelsea – das Team welches Göte hier bei seiner Ankunft vor 10 Jahren gegeben wurde – spielte ebenso auswärts wie die Spurs und an Karten für West Ham gegen ManU war nicht zu denken. Was blieb? „The Gunners“ – the Arsenal Football Club!

Arsenal Stadium

Ich hatte natürlich nichts dagegen, die Mannschaft von Nick Hornby und Matthew Bazell (Autor von „The People’s Game“ mit ihren sagenumwobenen Fans und der einzigartigen Atmosphäre einmal live spielen zu sehen. Göte kam überraschend „easy“ (sagte er zumindest) an drei Dauerkarten von befreundeten Arsenalfans heran – vielleicht auch, weil es am 2. April „nur“ gegen die Blackburn Rovers ging. Hier der Spielbericht:

Voller Vorfreude machen wir uns am Samstag gegen 14 Uhr auf den Weg. Nach einem Vorglüh-Bier auf einem Boot an der Themse schleppt uns unser Freund in ein Lokal mit typisch englischem Namen: „Zeitgeist“. Ich weiß zwar, dass wir hier die Bundesligakonferenz glotzen werden, doch zu meinem großen Erstaunen ist der Pub bis auf den letzten Platz mit Deutschen aus allen Ecken unseres Landes gefüllt, die lautstark ihr jeweiliges Bundesligateam anfeuern. Etliche Krombacher und drei Schnitzel später – wir hatten eine grandiose zweite Halbzeit der Dortmunder gegen Hannover (4:1) gesehen – machen wir uns schleunigst auf den Weg mit der Victoria Line nach Highbury & Islington.

Zeitgeist

In der Metro schlafe ich kurz ein und träume: „Highbury“ – welch klangvoller Name, das alte Stadion mit seinen wunderschönen Art-déco-Tribünen und den Jacob-Epstein-Statuetten auf denen verbitterte alte Männer auf Arsenals Westtribünen ununterbrochen „Wichser“ und „Fotze“ brüllen. Die stimmgewaltigen Fans auf der Nordtribüne mit ihrer riesigen Ausdehnung grauer Treppen und metallener Wellenbrecher. Der Lärm, die Gesänge und die Bewegungen auf der Tribünen, wenn die Fans nach einem Tor, wie ein gigantischer reagierender Körper, hin- und zurückgeschleudert werden. Die Kämpfe und der Roar aus dem Clock-End, wo die Gegner stehen und das von Arsenal-Fans ritualisiert gestürmt wird, bis die Polizei einschreitet. Fußballnachmittage an denen es schüttet und alle bis auf die Haut durchnässt sind, vor Schmerzen zittern und dennoch am nächsten Spieltag frohen Mutes wieder kommen. So ähnlich hatte ich es bei Nick Hornby einst gelesen und wache wieder auf.

Polizei

Doch als wir aus der Metro treten, begegnen uns keine harten Jungs aus Finsbury Park und Holloway mit Glatzen und Doc-Martens-Stiefeln, keine Leute bewaffnet mit diversen Schlagutensilien und halbleeren Bierflaschen. Es gibt auch keine Familienausflüge von Vater und Sohn, die an einer Pommesbude vor dem Spiel noch ne Portion „Fish & Chips“ futtern. Die Leute scheinen tatsächlich, wie Bazell das beschrieben hatte, aus einer reichen Mittelschicht zu kommen, sind um die 40 und weiß. Hey, auf Göte, Jenna und mich trifft das ja auch irgendwie zu.
Einige Menschen die zum Stadion strömen, tragen sogar Hemden, Jacketts und fast alle drücken ihr Handy ans Ohr. Hatte ich zunächst noch Befürchtungen, dass wir hier irgendwie auffallen und uns hasserfüllte, zahnlose Engländer mit mehrfach gebrochener Nase als Deutsche entlarven würden, frage ich mich nun, ob man nicht sogar mit dem Adler-Trikot die Straße unbehelligt entlang wanken könnte. Im Gegensatz zu den meisten Arsenal-Anhänger scheinen wir die einzigen zu sein, die bereits „einen im Tee“ haben. Viele sehen aus als gingen sie gleich zu einer Opernaufführung.
Ich bin erst das zweite Mal in London und so kann ich nicht einschätzen, was für eine Wohngegend das hier ist. Arm scheinen die Leute jedenfalls nicht zu sein und im Pub kostet das Pint Bier genauso viel wie in der Innenstadt. Natürlich brauchen wir noch einen großen Topf ohne Blume, da Göte nicht wusste, ob im Emirates Stadium mittlerweile überhaupt noch den Gerstensaft ausgeschenkt wird. Dass man nicht Rauchen dürfe, wissen wir bereits. Jenna qualmt daher in der letzten Stunde vor dem Spiel eine halbe Schachtel rote Marlboro.
Wir stellen fest, dass die Arsenalkneipe immer voller statt leerer wird. Etliche Fans, die sich die ungeheuerlichen Eintrittspreise nicht leisten können, versammeln sich hier. „Endlich normale Leute“, denke ich laut. Doch wir haben ja Tickets und eilen die Straße hinunter und biegen nach rechts in eine Straße ein. Erstmals erblicken wir die roten Neonbuchstaben „Emirates Stadium“ an dem Monster aus Beton und Glas. Es ist das zweitgrößte Stadion der Premier League und dem „Estadio da Luz“ in Lissabon nachempfunden. Ich habe kaum Zeit, den 600 Millionen Palast zu bestaunen, da das Spiel gleich beginnt, doch „Highbury“ hin oder her – das Ding sieht schon cool aus. An den Wänden hängen riesige Transparente mit den Bildern früherer Arsenal-Götter. Nur Dennis Bergkamp kann ich schnell knipsen und renne dann los, um meine Jungs nicht zu verlieren.

Bergkamp

„Emirates Airlines“ hatte sich an der Baufinanzierung beteiligt und die Namensrechte des Stadions für 15 Jahre gesichert. Seit 2006 treten sie auch als Trikotsponsor in Erscheinung. Dennoch nennen die echten „Gooners“ ihren neuen Fußballtempel trotzig „Ashburten Grove“, nach dem Ort wo er steht.
Natürlich sind wir Kategorie C – Moment, ich meine unseren Block im Unterrang – doch obwohl wir uns in der „Stehplatzkurve“ befinden (die Fans stehen hier mit dem Rücken an die hochgeklappte Sitzbank gelehnt), ahne ich langsam, warum Bazell in seinem Buch von “Highbury the Library“ (Bücherhalle Highbury) sprach und nun von “Emirates the Mortuary” (Leichenhalle Emirates). Die Fans sind hier zwar etwas jünger, aber beängstigend leise – fast stumm. 17.30 Uhr, das Spiel beginnt…

Was gehört laut Nick Horny zu einer denkwürdigen Partie? Hier mein Fazit zu FC Arsenal London vs. Blackburn Rovers FC am 2. April 2011:

1. Tore (so viele wie irgendwie möglich)
Das Spiel ist derart beschissen und endet folgerichtig mit 0:0.

2. Eine empörend schlechte Schiedsrichterleistung
Der Schiri ist mit Abstand der beste Mann auf dem Platz

3. Eine lautstarke Zuschauermenge
Wie die Atmosphäre in einer Leichenhalle eben so ist

4. Regen, ein glitschiger Boden
Wir haben 18 Grad, es ist leicht bedeckt, aber größtenteils sonnig

5. Der Gegner vergibt einen Elfer
Das ist leider auch nur Wunschdenken

6. Ein Spieler des gegnerischen Teams sieht Rot
Erster Treffer: Steven N’Zonzi fliegt gegen Ende vom Platz

7. Irgendeinen unangenehmen Zwischenfall, Dummheit, Schande
Fehlanzeige – nicht mal Lehmann wird eingewechselt und stellt was Blödes an

Zusammen mit 60.084 Zuschauern sehen wir also eine Partie, der ich nur einen von sieben Punkten – laut der Hornbyschen Regel – geben kann.

Ich Stadion

Aber irgendwie, ich weiß nicht – vielleicht weil es in der Pause dann doch noch (wenn auch äußerst schales) Bier gab, oder weil Jenna den kleinen Handball, der von den Zuschauern zur Belustigung im Stadion herumgeworfen wurde, knapp vor meinem Kopf gefangen hatte, oder weil die beiden ollen Opas in unserer Nähe unerwartet oft „Wichser“ und „Fotze“ brüllten, ohne dafür von Oberordnern ermahnt zu werden – es war trotzdem geil.
Arsenal hatte als Zweitplatzierter soeben wieder einmal alle Chancen vergeigt, Meister zu werden (ManU gewann 4:2 bei West Ham) und ich musste an einen der letzten Sätze in „Fever Pitch“ denken: „…deshalb begann ich mich wieder wohl zu fühlen, als die Saison sich in nichts auflöste, Highbury einmal mehr zur Heimat unzufriedener Spieler und unglücklicher Fans wurde und die Zukunft derart trostlos auszusehen begann, dass es unmöglich war, sich daran zu erinnern, warum man ursprünglich gedacht hatte, sie würde strahlend sein.“

Fans

Auf dem Weg zur Metrostation „Arsenal“ – Jenna raucht auf dem Weg drei rote Marlboro Kette – erklärt mir Göte zum wiederholten Male, warum fast jeder in England Arsenal hasst. Doch ich bin ihm unendlich dankbar für die Tickets. Ich hatte mir den Verein nicht ausgesucht und er wurde mir heute auch nicht gegeben, doch ich war endlich einmal bei dem Team und seinen Fans gewesen, über welches das beste Fußballbuch aller Zeiten geschrieben wurde!

Am Sonntag ging es weiter nach Sheffield, also an den Ort, der dafür verantwortlich ist, dass es heute nur noch Sitzplatz-Arenen in England gibt. Doch darüber schreibe ich dann ein anderes Mal…

Im Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams bemerkt der Barmann angesichts des drohenden Weltuntergangs übrigens: „Glück für Arsenal, wenn’s stimmt.“

Hier der Trailer zu „90 Minuten Südamerika“