„…wir kommen fast zu spät zum vereinbarten Treffpunkt, obwohl ich es ja war, der um 13 Uhr – drei Stunden vor Spielbeginn – aufbrechen wollte. Auch die Frauen haben sich nun herausgeputzt. Sylvie trägt das rote Auswärtstrikot der WM 2006, Danny das schwarz-weiße 75 Dollar-Shirt, plus Flip-Flops in schwarz-rot-gold (!) und Erni seine Retro-74er-Klamotten.
Er sorgt am Taxistand zudem für Belustigung, da er sich mit einem Idioten, der von Hut bis Fuß mit deutschem Tinnef und Lametta behangen ist, ablichten lässt. Auf dessen linker Brust klebt – warum auch immer – der Kopf von Bert. Erni lehnt seinen Schädel grinsend dagegen und Danny knipst die seltsame Sesamstraße in Fortaleza. Sylvie bekommt sich fast nicht mehr ein, aber auch aus einem anderen Grund.
Sie erzählt, dass unser Freund Erni in der Heimat das Limit seiner Kreditkarte auf 500 Euro pro Monat limitiert hatte, sodass er soeben gerade noch 60 Real (ca. 20 Euro) aus dem Automaten ziehen konnte.

Als wir das Taxi mit dem Ziel „Estádio Castelão“ steigen, habe ich gute Freunde und die schönste Frau der Welt an meiner Seite. Obwohl wir uns zu viert auf die Rückbank quetschen, schmusen wir wie zwei junge Welpen. Danny und Jenna auch. Heute kann nichts mehr schiefgehen!
Der Fahrer rät zu einem Umweg, da die Zufahrtstraße zum Stadion verstopft sei. Wir einigen uns auf 75 Real Festpreis. 15 für jeden. Ich rufe: „Erni, dann hast du ja noch 45 Äste.“ Er hatte zwar schon seine Freundin Wendy per Telefonat gebeten, Geld (also „Äste“, wie er es nennt) auf sein Konto zu überweisen, aber heute wird der listige Sparfuchs ohne Weitblick den ganzen Tag hochgezogen.

Wendy ist eigentlich eine patente Werder-Frau – mit krassem Fußballverstand – und ich verstehe bis heute nicht, warum sie nicht mitgekommen ist. Dennoch bin ich froh, dass wir Erni nicht schon am ersten Tag verloren haben. Das war nämlich ihre größte Sorge gewesen. Der fragt Jenna gerade: „Kannste mir mal ‘nen Hunderter borgen?“ „Du hast doch noch fett Kohle“, schallt es gewohnt trocken zurück.

Mein Handy brummt. Eine SMS: „Lasst es krachen und die Karte steht. Trueman.“ Mein liebster Kneipenkumpel aus dem „Rockz“ hatte es leider nicht nach Fortaleza geschafft, obwohl wir für ihn ein Ticket haben. Erst zum Spiel gegen die USA reitet er zur WM ein und hätte dort wiederum eine Karte für mich. ‚Oh Mann‘, denke ich im Wissen, dass wir morgen in den Amazonas fliegen und Recife wohl eher ausfällt.

Ich verzichte noch immer auf ein Smartphone, um nicht ständig online zu sein und wertvolle Lebenszeit mit so einem Scheiß zu vergeuden. „Hört mal. Mein Telefon hat ‘ne sprechende Uhr“, rufe ich. „Es ist 13 Uhr 32“, krächzt eine weibliche Blechstimme und sorgt damit für die nächsten Lacher.

Die weiträumige Umfahrung ist eine gute Idee, da wir schon um 14 Uhr ankommen und im Strom der Massen in Richtung des aus der Ferne gigantisch wirkenden Castelão laufen. Früher soll es abgelegen zwischen den zwei großen Ausfallstraßen am unbewohnten Stadtrand gelegen haben. Das zur WM 2014 völlig renovierte Stadion liegt heute inmitten einer riesigen Favela.

Entgegen aller Vermutung gibt es überall fliegende Händler, die Snacks und Dosenbier verkaufen. Die Brasilianer pfeifen auf die FIFA-Regularien.
„Erni, hol mal ‘ne Runde. Hier ist es noch billig“, ruft Danny. Das Brahma kostet 6 Real, sodass er nach fünf Kaltgetränken, mit 15 Real Barbesitz im Prinzip pleite ist. Ich fühle mich sauwohl, denn es gibt nirgendwo eng zulaufende Gatter und dichtes Gedränge. Dennoch schwitzen wir wie Schweine. Ob es an den Außentemperaturen, der haarsträubenden Intensität oder an der Aufregung liegt?

Die deutschen Gesänge werden nun immer lauter. Sylvie trägt ein schwarz-rot-goldenes Band im Haar und Danny einen Aufkleber auf dem Rücken, auf dem steht: „I love Brasil“ – wobei dieses Gefühl seit Tagen allumfassend ist.
„Bist du glücklich?“, fragt mich Sylvie. „Oh ja“, posaune ich zurück, denn ich verschmelze gerade mit der Euphorie der Massen und lasse mich kübelweise mit Glücksgefühlen überschütten. Nur einen Wermutstropfen gibt es: niemand sucht nach einer Karte. Sie verkaufen sogar noch welche an den Kassen.

Das Fassungsvermögen soll bei über 60.000 liegen, aber ein wenig enttäuschend ist es schon, dass sie die Schüssel nicht vollkriegen. Außerdem lungern nicht einmal erwartungsfrohe Favela-Kids vor den Toren herum, denen wir die Karte einfach schenken könnten. Das Trueman-Ticket werden wir nicht los.

Hinter der ersten Sicherheitskontrolle – wir sind noch nicht im Stadion – hole ich die DDR-Fahne heraus und lass mich damit vor dem Beton-Monster fotografieren. Das Bild ist im Gedenken an meinen Vater, um ihm – wo immer er gerade ist – zu zeigen, dass es sein Ossi-Sohn tatsächlich bis zur Fußball-WM nach Brasilen geschafft hat. Das soll es dann aber auch mit Nostalgie gewesen sein. Ich stecke den Fetzen in eine Hosenschlaufe, sodass das Emblem nicht mehr zu sehen ist. Erni stellt sich mit Deutschland-Fahne neben mich. Die Vergangenheit ist endgültig ad acta gelegt – von jetzt an lebe ich nur noch im Präsens.

Die Brahma-Brauerei ist auch präsent. Die roten Becher zu 10 Real haben den Aufdruck: „21 de junho de 2014. Estadio Castelão. Fortaleza CE.“ Darunter sind die Nationalflaggen und „Alemanha“ und „Gana“ aufgedruckt. Erni hat nun vier Runden lang Pause vor unserem ätzenden Humor und gleichzeitig Zeit, sich zu überlegen, was er mit den langweiligen FIFA-Fan-Fest Souvenirs machen soll.
Die Stimmung ist überragend: Musik, Lachen, Herzlichkeit und Lebenslust. Neben Deutschen und Ghanaern sind viele Brasilianer aber auch etliche Mexikaner vor Ort. Auf einer Leinwand schießt Messi gerade im Mittagsspiel per Traumtor das 1:0 für Argentinien gegen den Iran. In der 90. Minute! Die Brasilianer finden das Scheiße und ich denke: ‚Hoffentlich werden unsere Nerven heute nicht so lange strapaziert.‘

Direkt hinter der Taschenkontrolle müssen wir die Karten auf einen Scanner legen. Die Anzeige leuchtet grün und meine Augen auf der anderen Seite strahlend blau. Wir sind drin!
Noch haben wir eine Stunde Zeit bis zum Spielbeginn und so schlendern wir durch den Außenring fast einmal um das Stadion. Dummerweise haben wir Karten in verschiedenen Sektoren: vier Tickets in der Kategorie 2 zu 135 Dollar und zwei in der günstigeren Kategorie 3 (90 Dollar), welches der Deutschland-Block ist.
Dennoch entscheiden wir uns für die vermeintlich bessere Sicht, auch vor dem Hintergrund, dass wir dort nur einen einschleusen müssen. Der Witz: wir gelangen, ohne kontrolliert zu werden, auf unsere Plätze. Direkt daneben gibt es zwei Sitze für „Behinderte“. Ich hocke mich schon mal hin. Bei 30 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit werden wir das Spiel sehr nah am Spielfeld auf Höhe der Eckfahne verfolgen und die Schwüle einfach wegsaugen. Um uns herum stehen etliche Landsleute, sodass auch hier das Barometer auf Stimmungs-Hochdruck geeicht ist.

Direkt hinter dem Tor tanzen sich die Ghana-Fans ein, während davor das deutsche Team seine Runden dreht. Sylvie zoomt heran und macht beeindruckende Fotos von all den Helden, die den Titel hoffentlich in drei Wochen mit nach Hause bringen werden. Plötzlich geschieht etwas Außergewöhnliches – mit mir. Beim offiziellen Einlauf der Mannschaften verspüre ich von jetzt auf sofort keinerlei Hektik mehr, bin nicht mehr angespannt oder aufgeregt. In meinem Herzen herrscht gespenstische Ruhe.
Alle um mich herum und die Spieler singen die Nationalhymne, nur Jerome Boateng und ich schweigen, denn bei mir läuft gerade ein anderer Film.
In „90 Minuten Südamerika“ hatte ich noch betont, dass dies kein Fußballbuch ist. Heute sind etwa 8.000 Deutsche im Stadion – von 80 Millionen Einwohnern – und ich bin einer von ihnen. Irgendwann schreibe ich mal ein Fußballbuch!

Mit noch etwas anderem liebäugelt mein Hirn. Wäre dies nicht der ideale Zeitpunkt, Sylvie zu fragen, ob sie mich heiraten will? Ich hatte ihr 2006, als ich die Fußball-WM daheim nicht erleben durfte, die Pistole auf die Brust gesetzt: Falls jemals eine WM in Brasilien stattfinden sollte, fahren wir hin – ohne Rücksicht auf das, was gerade im Leben ansteht. Wir sind hier! Kann es ein schöneres, eingelöstes Versprechen geben?
Es soll im Leben eines Mannes nur drei Frauen geben, von denen man glaubt, dass sie die Richtige ist. Ich habe meine eine längst gefunden.
Erni bringt mich zurück in die Wirklichkeit, denn er brüllt: „Nu ghana losgehen“. Ich liebe seinen Dialekt und Humor. Das Spiel geht los!

Schon nach wenigen Ballberührungen herrscht Unruhe im Stadion. Nicht auf dem Platz, sondern im Ring – direkt gegenüber. Heerscharen von Ordnern sammeln gerade hektisch die Banner unserer Freunde aus Dubaiern, Halle/S. und Gladbach ein – so sieht es zumindest aus der Ferne aus. Ein Pfeifkonzert und „FIFA raus“ schallt zu uns hinüber. Dass Zaunfahnen ein elementarer Bestandteil der Fankultur sind, vergessen die Weltverbands-Idioten mal wieder, zumal die Sponsoren ja sowieso in einer Art Dauerwerbesendung allgegenwärtig sind.
Falls auf der Videoleinwand das Original-TV-Bild übertragen wird, schwenken sie außerdem nur sehr selten in die Fanblocks, was Erni, der permanent in eine Zuschauer-Kamera winkt, augenscheinlich scheiße findet. Unsere Bier-Fahnen wehen durch die Arena – ohne Konsequenzen.

Das Spiel ist weniger aufregend. Ein Hin- und Her im Mittelfeld und Ghana hat sogar die bessere Spielanlage, weil die Deutschen das Tempo arg verschleppen. Lediglich Kroos serviert gewohnt elegante Pässe und auch Özil gefällt mir, im Gegensatz zu Mario Götze, ganz gut. Im Boateng-Bruderduell gewinnt Jerome gegen Kevin-Prinz jeden Zweikampf. Gute Ansätze, aber große Torchancen kann sich Deutschland nicht herausspielen. Sind die Afrikaner etwa besser als Portugal?
Auch das Liedgut lässt zu wünschen übrig. Der Klassiker „Deutschland, Deutschland“ ist lautstark zu hören und „Steht auf, wenn Ihr Deutsche seid“, wobei man an den „Sitzenbleibern“ sieht, wie viele Brasilianer im Stadion sind. Die besingen das müde Gekicke mit: „Eu sou brasileiro, com muito orgulho, com muito amor.“ Aus tausenden Kehlen schallt es wie ein Manifest durchs Oval. Sie spielen heute nicht – feiern sich aber selbst, mit großem Stolz und viel Liebe. Zur Pause steht es 0:0.

Wir lassen uns vom Ergebnis die Laune nicht verderben. Unsere Frauen holen die nächste Runde Souvenirs (Bierbecher), Jenna fachsimpelt mit mir und Erni klettert vier Reihen hinauf, um sich mit drei deutschen Schönheiten fotografieren zu lassen. Die Hübschen halten ein riesiges Plakat in die Höhe: „Jetzt wird wieder geMüllert und geHummelst“, ist dort zu lesen. Gerade drücken sie meinem Freund einen Fußball in die Hand, den er hin- und herschwingen soll. Auch sie wollen ins Fernsehen, was nicht gelingen wird, denn in Deutschland läuft momentan sicherlich die Tagesschau oder FIFA-Werbung. Plötzlich hängen auch die Zaunfahnen gegenüber wieder. Mal sehen, ob wir wenigstens dieses Duell gewinnen werden.

Danny und Sylvie kommen mit zehn Brahma-Bechern rechtzeitig zurück, um beim Blick auf die Anzeigetafel fast zeitgleich den Satz zu rufen: „Was ist denn ein Shkodran Mustafi?“ Okay, den Typen mit dem lustigen Namen kannte ich bisher selbst kaum und nur weil auf der Videoleinwand auch der Name Jerome Boateng danebensteht, weiß ich, dass er gerade eingewechselt wurde. Schon krass, was für eine multikulturelle Truppe unser Team geworden ist. Gut so!

Deutschland spielt jetzt auf das gegenüberliegende Tor und es sind erst wenige Minuten gespielt, als Müller von rechts in die Mitte flankt und Mario Götze der Ball irgendwie an den Kopf und dann ans Knie prallt. Das Ding ist urplötzlich im Netz. Tooor! Mit meinen Jungs vollführe ich den wüstesten Jubel-Pogo unseres Lebens. Sind wir bescheuert, oder was? Nein! Es ist unser Premieren-Tor bei einer Fußball-Weltmeisterschaft. ‚Der Götze ist ja doch nicht so übel‘, denke ich, während ich im Pulk mehrere Treppenstufen hinuntertreibe.

Als wir uns wieder gefangen haben, flitzt ein mit Filzstift bemalter, bärtiger Typ auf den Rasen. Sylvie zoomt heran. Es sieht so aus, als ob der Spinner SS-Runen auf seinem Arschloch-Körper zur Schau stellt. Abführen!
Eine Minute später patzt Lahm und Ghana stürmt sofort auf unser Tor zu. Nach einer Flanke köpft Ayew, unbedrängt von Shkodran und Per, ein. Ausgleich. Scheiße!
Schon in den ersten 10 Minuten der zweiten Halbzeit wird mehr Herzinfarkt-Risiko erzeugt als in unserem ganzen WM-Fanleben. Deutschland hängt in den Seilen.
Danny reißt mich herum: „Das halte ich nicht aus – mach was!“, denn plötzlich entdecken auch die Brasilianer ihr „Coração“ (Herz) für den Außenseiter. „Ghana, Ghana, Ghana“, schallt es durchs Rund und direkt unter uns beschwört ein krass geschminkter Voodoo-Priester seine schwarzen Brüder.

Es ist nun ein wilder Schlagabtausch und es gibt Riesenchancen auf beiden Seiten – doch nur Ghana trifft. Der erste Rückstand bei dieser WM und ich hoffe sogleich, dass es der letzte sein wird. Torschütze Gyan und der irre Medizinmann im Ghana-Block lassen sich feiern.
Die Brasilianer starten eine La-Ola, die fast durchs ganze Stadion rollt. Die letzten Minuten kamen mir vor wie im Zeitraffer. Was für ein Drama!
Sylvie schreit mir ins Ohr: „Anscheinend wird Deutschland doch nicht Weltmeister.“ „Nein, scheinbar wird Deutschland nicht Weltmeister“, brülle ich zurück, denn endlich habe ich den Unterschied zwischen den beiden Wörtern kapiert. Der Schein trügt, natürlich holen wir den Titel! Rede ich mir gut zu.
Allerdings haben sich die neutralen Fans nun komplett auf die Seite des Gegners gestellt. Es stürmt aber gerade auch nur eine Mannschaft – und das ist Ghana. Atempause. Ecke für Deutschland. Kroos flankt präzise in den Strafraum, Höwedes verlängert geschickt und Klose – gerade erst eingewechselt – staubt ab. Tooor – Salto – Ausgleich – Wahnsinn! Es folgt der wüsteste Jubel-Tanz unseres Lebens. Mehr Glückshormone können bei einem Fußballspiel kaum durch den Körper schwappen. Wir treiben im Knäul hinunter bis zum nächsten Wellenbrecher.

Weiter geht es mit völlig irrationalem, unkontrolliertem Offensivfußball von beiden Seiten. Erni reißt mich aus dem Geschehen: „Wendy schreibt, dass Miro jetzt Ronaldo eingeholt hat“, aber mir ist doch scheißegal, wie viele Tore Klose bei WMs (jetzt 15) gemacht hat. Hauptsache er kann sich endlich mal Weltmeister nennen. Dennoch brülle ich mit Erni hemmungslos: „Miro Klose! Miro Klose! Miro Klose!“

Nach einer vergebenen Großchance endet das Spiel mit 2:2. Thomas Müller liegt beim Schlusspfiff blutüberströmt am Boden. Aber auch ich bin fix und alle. Nie zuvor habe ich eine Partie mit solch einer brodelnden Intensität live im Stadion verfolgt.
Sylvie umarmt mich lange und Danny ruft mir in Jennas Armen liegend zu: „Noch so ein Spiel halte ich definitiv nicht durch.“ Sie spricht mir aus dem Herzen …“
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