Opa SchlittenAnfang Februar 1945 war ich nach einem fast zweijährigen Marsch gen Westen mit meiner Kompanie in der Nähe von Namslau in Niederschlesien angekommen. Wenn meine Söhne später bei Wanderungen jammerten und fragten wie weit es noch wäre, habe ich immer mit „ein Katzensprung“ geantwortet und ihnen erzählt, dass ich schon einmal von Demjansk in Russland bis an die Oder gelaufen bin. „Und die Russen sind gerannt“, war damals ein geflügeltes Wort in unserer Truppe, „und wir immer vor ihnen her!“
Unsere Erwartungen auf einen Sieg waren nach zwei Jahren selbst erfahrener Schlachten weit unter den Nullpunkt gesunken. Ich erlebte diesen Feldzug fast ausschließlich als Rückzug durch zerstörte Dörfer und Städte. Das EK II, EK I und das Infanterie-Sturmabzeichen bekam ich für besonderen Mut – oder Leichtsinnigkeit – in den ersten fünf Monaten an der Front während der letzten verzweifelten deutschen Offensiven. Doch danach war es vorbei mit meinem Heldentum. Glücklicherweise erinnerte ich mich an den Rat meines Vaters, der da lautete: „Wenn es heißt Freiwillige vor, dann schnell zur Seite treten, damit die Freiwilligen vor können!“.Das hat mir sicherlich oft das Leben gerettet. Wahrscheinlich bewahrte es mich auch davor, an Erschießungskommandos teilzunehmen.

Ich weiß bis heute nicht, ob ich so andere Menschen hätte töten können, denn wenn man in dieser Scheiße drinsteckt, ist klares Denken und menschliches Handeln oftmals nicht mehr möglich. Befehlsverweigerung hätte unter Umständen den eigenen Tod bedeutet. Doch zum Glück bin ich nie in diese Verlegenheit geraten, denn wir hatten immer vernünftige Vorgesetzte ohne „Halsschmerzen“. Um das begehrte Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes zu bekommen, welches als Halsbandorden getragen wurde, verheizten einige ehrgeizige Heroen ihre Einheiten oftmals in besonders riskanten Unternehmungen. Wahrscheinlich wollten viele meiner Befehlshaber irgendwann auch einfach nur noch lebendig zu ihren Familien nach Hause kommen. Sie bekamen also keine „Halsschmerzen“.

Wir waren schon jenseits der Oder, also westlich des Stromes, mit dessen Wasser ich als Breslauer sozusagen getauft worden bin und in dessen Fluten wir uns als Jungen nicht immer vorschriftsmäßig getummelt hatten. Mein Unteroffizier, zwei Kameraden und ich hatten in einem einzeln stehenden Haus am Ortsrand eines kleinen Dorfes Stellung bezogen und russische Panzer T34 rollten auf uns zu. Höchste Zeit also, sich zu verdrücken. Wir vier waren uns da völlig einig. Ich stürmte als Erster hinaus. Warum, weiß ich bis heute nicht. Genau in diesem Moment traf eine Panzergranate das Haus. Ich war schon draußen, als das Geschoß mit einem ohrenbetäubenden Krach detonierte. Meine Kameraden leider nicht.
Eine Außenwand stürzte auf mich herab. Dann wurde alles schwarz über mir. Wie lange meine Ohnmacht, verschüttet unter den Ziegeln, dauerte? Ich habe keine Ahnung. Ein Feldwebel buddelte mich schließlich aus. Er schaute mich mit besorgter Miene an und fragte irgendetwas. Ich griff mir ins Gesicht, schaute gleichzeitig auf meine Hand, meinen Mantel und die große Lache um mich herum. Das viele Blut, der Dreck und der Staub der Ziegelsteine hatten sich zu einem Farbton vermischt, den ich mein Leben lang nicht mehr sehen kann. Orange!

Der Feldwebel war Waffenmeister, wie er unter Hinweis auf zwei, mir riesig erscheinende, Holzkisten sagte, die er mitschleppte. Über die Felder machten wir uns in Richtung Autobahn davon. Ich schrie nach meinen Kameraden, doch er schüttelte nur den Kopf und zerrte mich weiter. Mühsam humpelte ich ihm hinterher. Die Entrüstung des Mannes werde ich nie vergessen, als ich ihn bat, mir ein bisschen unter die Arme zu greifen und doch um Himmelswillen die blöden Kisten stehen zulassen. Ich weiß nicht, ob das „tausendjährige“ Reich dem Deutschpreußen später noch ausreichend gedankt hatte, ob der Rettung der Dinger. Auf den Kriegsausgang hatte die Korrektheit des Feldwebels jedenfalls keinen entscheidenden Einfluss mehr gehabt.
Ein auf der Autobahn vorbeikommender, schon mit Verwundeten voll gestopfter Sanka lud mich ein. Obwohl ich kaum Schmerzen verspürte, muss ich furchtbar ausgesehen haben und auch mein feldgrauer Mantel leuchtete noch immer in dieser schrecklichen Signalfarbe. Als wir endlich hielten, befand ich mich vor dem Eingang des Elisabethinerinnen-Krankenhauses in der Gräbschener Straße in Breslau, einmal um die Ecke – nur fünf Minuten Fußweg – von der Rehdigerstraße 11 in der wir wohnten. Ich atmete tief durch. Endlich wieder zu Hause!
postkarte rathaus
Den Schwestern, die mich zur Untersuchung bringen wollten, entwischte ich erst einmal. Ich fand ein Telefon und rief in der Bäckerei in der Hochstraße an. Im Gegensatz zu uns besaßen Hartmanns ein Telefon. Von ihm erfuhr ich, dass Muttel (Mutter) zu ihrer Schwester nach Gablonz an der Neiße aufgebrochen und mein Vater noch immer an der Front war. Wo genau konnte er nicht sagen.
Im Krankenhaus, das einem katholischen Kloster angeschlossen war, verarztete man mich provisorisch. Granatsplitter, die dabei in meinem Schädel entdeckt wurden, rührte man zunächst nicht an. Die Schwestern in ihren schwarzen Kutten sorgten sich rührend um uns. Ich glaube sie hätten uns auch Händchen gehalten und ein Gute-Nacht-Lied gesungen, wenn das erforderlich gewesen wäre. Immer wenn wir früher mit unserer HJ-Gefolgschaft 27 an der Kirche und dem Kloster vorbeigelaufen waren, hatten wir respektlos ein Lied gebrüllt: „Spieß voran, drauf und dran, setzt aufs Klosterdach den roten Hahn! Spieß voran, drauf und dran, setzt aufs Kirchendach den roten Hahn!“ – zündet es an, bedeutete das. Jetzt schämte ich mich zutiefst dafür.
Bis zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich recht fit. Erst als ich im Bett lag, kamen die Schmerzen. Sie wurden so stark, dass ich öfter für mehrere Stunden in Ohnmacht fiel. So richtig denken konnte ich eigentlich erst wieder, als ich nach einer wohl mehrtägigen Fahrt mit einem Lazarettzug in Ulm an der Donau landete.

Erst viel später erfuhr ich, dass dies einer der letzten Züge gewesen war, der meine Heimatstadt verlassen hatte, bevor die Schlacht um die „Festung Breslau“ begann, bei der nochmals zigtausende Menschen ums Leben kamen.
Im Ulmer Lazarett diagnostizierte man eine Schädelfraktur und eben diverse Granatsplitter im Kopf. Zum Glück bat ich den Arzt rechtzeitig, in mein rechtes Ohr zu schauen. Dort steckten dann tatsächlich noch unzählige orangefarbene Ziegelstücken, die sie ohne Operation entfernen konnten. Sie wollten mir eigentlich schon den halben Schädel aufschneiden.
Offenbar wehrt sich der Körper gegen Beschwerden und Schmerzen solange man noch in Gefahr ist und gibt erst nach, wenn man sich in Sicherheit wähnt. Ich habe mir diese sehr persönliche Erfahrung nie von Medizinern bestätigen lassen, wie ich es ohnehin vermeide, bei jeder kleinen Unpässlichkeit gleich zum Arzt zu rennen. Geholfen haben mir meine Erkenntnisse später dennoch. Beschwerden, die im Augenblick nicht erwünscht waren, habe ich einfach immer weggeredet.
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In Ulm erlebte ich in den letzten Monaten des Krieges etliche Luftangriffe. Uns Verwundete schaffte man in tiefer gelegene Kellerräume – es waren wohl die ehemaligen Katakomben einer Burg. Und plötzlich kam die Angst. An der Front hatten wir immer in behelfsmäßig ausgehobenen, gammligen Löchern gehockt, die gerade mal so tief waren, dass mein eingezogener Kopf nur Zentimeter unter der Erdoberfläche war. Doch hier im scheinbar sicheren Kellergewölbe hatte ich mehr Angst als jemals zuvor als Infanterist. Überall krachte, bebte und spritzte es und mir kam die Einsicht, dass all die Menschen daheim, Frauen, Kinder und Greise bei den Luftangriffen genauso litten wie wir draußen im Graben.
Ich vermisse diese Tatsache leider bei vielen Beschreibungen des Krieges. Genauso wenig kann ich verstehen, wenn in Schlachtfilmen, die ja heute massenhaft über den Bildschirm flimmern, all jene verherrlicht werden, die keine Angst haben. Was müssen das nur für Dummköpfe sein? Keine Angst zu haben, bedeutet doch nichts anderes, als sich der Gefahr, die auf einen zukommt, nicht bewusst zu sein. Und das ist dumm. Diese Angst zu überwinden, um anderen Menschen zu helfen, sie zu retten oder zu beschützen, das nenne ich Mut. Doch den bekommt man erst im Laufe seines Lebens, schneller oder langsamer – oder niemals.

Ich erinnere mich noch meine „Feuertaufe“. Wir standen im Feld hinter einer Kartoffelmiete, die etwa 1,20 Meter hoch und 15 Meter lang war. An ihrem Fuß war der Länge nach ein schmaler Graben von ca. 30 cm Tiefe ausgehoben, offenbar zum Wasserauffangen bei starkem Regen. Plötzlich setzte feindliches Gewehrfeuer ein. Doch ich rannte nicht etwa leicht gebückt ans andere Ende der Miete, denn ihre Höhe hätte mich ohne weiteres vor Treffern geschützt, sondern kroch angstgeschüttelt, rückwärts, eng an den kleinen Graben gepresst, zurück. Einige Kameraden lachten mich später aus und tatsächlich: in den Monaten danach bin auch ich, ohne mich groß um das Pfeifen der Kugeln zu kümmern und teilweise nicht einmal geduckt, von Deckung zu Deckung gelaufen. Man hatte sich an die Gefahr gewöhnt und wusste: nicht jede Kugel würde treffen. Ich war leichtsinnig geworden. An jenem Tag in Russland rauchte ich übrigens zitternd meine allererste Zigarette und habe erst neulich mit 86 Jahren wieder aufgehört.
Opa und icke
Nach relativ kurzem Lazarettaufenthalt wurden viele, die schon wieder halbwegs auf zwei Beinen laufen konnten, zu regulären Wehrmachtseinheiten versetzt. Mit zwei anderen Infanteriefunkern musste auch ich mich auf den Weg nach Bermaringen, einem Dorf in der Nähe von Ulm, machen. Uns kam das kalte Grausen, als wir sahen, dass die ganze Truppe, mit der wir drei den Krieg nun zu Ende spielen sollten, im kleinen Saal des Dorfgasthauses einquartiert war. Dem Kompaniechef, einem Oberleutnant, erzählten wir deshalb, dass uns in wenigen Tagen Funkgeräte und Fernmeldematerial folgen würden und wir uns deshalb nach einem zweckmäßigeren Quartier umschauen müssten. Er fiel auf unseren Schwindel rein und so erhielten wir eine separate Unterkunft bei einem Bauern in der Nähe der Dorfkneipe. Der winzige Raum mit Sofa und einer Strohschütte war zwar keineswegs luxuriös, aber immerhin konnten wir so in der Nacht und nach einiger Zeit auch am Tage, dem Kompanietrott aus dem Wege gehen.
Der Lange, wie wir ihn nannten, kam aus Kornwestheim und hatte zwei prima Ideen. Zum einen liefen wir abends los, klopften mal hier und da und erzählten etwas von einem geplanten Kompaniefest. Die schwäbischen Bauern waren nicht geizig und schnell hatten wir einen großen Vorrat an Eiern, Speck, Wurst, Butter, aber auch eingelegte Leckereien zusammen geschnorrt. Wir aßen von nun an fürstlich und die Dorfkinder freuten sich über unser Kochgeschirressen, das wir uns täglich bei der Kompanie abholten, damit unser kulinarisches Eigenleben nicht auffiel.
Der zweite Trick war schon etwas krimineller. Wir hatten spitz bekommen, wenn wir im Dunkeln auf unseren Verpflegungstouren durchs Dorf bummelten, dass aus manchen – pflichtgemäß verdunkelten – Hauskellern noch tief in der Nacht Licht drang. Die beiden schönen Töchter unseres Bauern vermuteten, dass da sicher aus Äpfeln, Birnen oder Pflaumen Schnaps gebrannt werde. Das sei zwar verboten, aber alle schönen Angewohnheiten wollten die Schwaben dem Krieg ja auch nicht opfern. Also zockten wir nun auch frisch gebrannten Obstschnaps für „die Kompanie-Feierlichkeiten“ ab. Den Genuss mussten wir allerdings stark limitieren, da einen der Fusel mächtig umhaute.
Mark Scheppert Horst Schubert 2
Und diese lasche Moral schien sich auf die gesamte Truppe übertragen zu haben. Die Kompanie bekam eines Tages ganz neu eingeführte Schnellfeuergewehre geliefert, aber keinen einzigen Schuss passender Munition. Als sich während der Einweisung ein Unteroffizier die Frage erlaubte, wie man denn im Ernstfall reagieren solle, wenn man zwar hochmoderne Waffen aber keine Patronen dazu habe, meldete sich der Spieß zu Wort. Der Stabsfeldwebel – die so genannte Mutter der Kompanie – fragte vor der versammelten Mannschaft ganz trocken: „Aber weiße Taschentücher habt ihr doch wohl?“ Keiner muckte auf, nicht einmal der Kompaniechef. Klar war damit, dass mit unseren Jungs nicht mehr groß zu rechnen wäre, wenn die Amerikaner kämen.
Und die kamen früher als gedacht. Wir wurden in Marsch gesetzt und zogen gen Süden. Bei einem der unzähligen Halte hatte der Kompaniechef seinen Gefechtsstand in einem Frisiersalon eingerichtet. Wir drei Funker saßen bei ihm und zehrten von unseren Bermaringer Obstlerreserven, als es dem Chef gelang, am Radiogerät einen Sender zu finden, der uns über den aktuellen Stand der militärischen Lage in unserem Gebiet informierte. Einen „Feindsender“!
Plötzlich klopfte es an der Tür, die vom Laden zur Wohnung der Friseurfamilie führte. Schnell schalteten wir aus und öffneten leichenblass die Tür. Vor uns stand die Friseursfrau und stammelte: „Wir haben oben in der Wohnung auch noch einen zweiten Lautsprecher.“ Langsam kehrte die Farbe in unsere Gesichter zurück. Für das „feindliche Mithören“ hätte uns die Frau auch beim Ortsgruppenleiter der NSDAP verpfeifen können. Zu jener Zeit wurden dafür sogar noch Zivilisten gehängt. Hat sie aber nicht.
Am Tag, als wir die Iller überquert hatten, versammelte der Bataillonskommandeur alle auf einer Lichtung. Er kam, wie zu Kaisers Zeiten, auf einem Pferd angeritten, stieg ab, hinkte gotterbärmlich die gesamte Aufstellung ab und verkündete, dass er das Bataillon am kommenden Tag ordentlich, diszipliniert und in allen Ehren an die Amerikaner übergeben werde. Wer zufällig in unmittelbarer Nähe zu Hause wäre, könne ja versuchen, die Heimat ohne den Umweg einer Kriegsgefangenschaft zu erreichen. Mein Freund Heinz Böder und ich befanden, dass unsere Heimatstädte Berlin und Breslau eigentlich in unmittelbarer Umgebung wären. Wir verkrochen uns in einer Scheune, süffelten den Rest unseres Schnapses und hörten in der Nacht nicht einmal die ersten durchfahrenden Amis. So einfach, ganz simpel, endete für mich der zweite Weltkrieg im April 1945.
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Nachtrag: 2012 war ich, der Enkel, erstmals mit Freunden zu Besuch in der Heimatstadt meiner Großeltern – und Wroclaw ist eine großartige Stadt mit superfeinen Menschen!
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