Eigentlich müsste ich gerade meinen Lebenslauf schreiben. Das hatte mir unsere Lehrerin Frau Wagenbach geraten, weil sie sich im kommenden Jahr bei der Direktorin für meinen Abiturplatz einsetzten will. Trotz zahlreicher Verfehlungen besäße ich zumindest in Deutsch ein gewisses Talent – meinte sie.
Aber das geht leider nicht, denn es beginnt der lang ersehnte Weihnachtsmarkt an der Jannowitzbrücke. Große Leuchtschriften, blinkende Reklametafeln, heulende Sirenen und Lautsprecherdurchsagen locken mich hinter das breite Tor mit den Märchenfiguren im Tannengrün. Den Alten wird alljährlich mit Glühwein, Altberliner Bierbowle und Kräuterschnäpsen eingeheizt und die Kleinsten weinen sich beim Erinnerungsfoto mit dem Rauschebart-Mann im roten Mantel oder während der Tortur in der Geisterbahn die Augen aus. Andere fahren mit dem ununterbrochen von „O du fröhliche“ musikalisch begleiteten Karussell auf Pferdchen und Schweinchen im Kreis. Etliche Touristen aus anderen Bezirken erheben sich in hölzernen Gondeln des Riesenrads in die Lüfte und bestaunen unser Berlin.
Wir hingegen stehen uns im Schneematsch vor dem „Superskooter“ die Beine in den Bauch und stürzen, sobald die laute Sirene ertönt, in einen der per Stange an die Oberleitung angeschlossenen Wagen, werfen hektisch einen Chip in den Schlitz und rammen dann mit aller Gewalt die Autos unserer Kumpel.
Dirk und Lars trifft man zuverlässig am Stand mit den Telespielen, die Tennis, Fußball und Olympia simulieren. Auch ein paar „Einarmige Banditen“ gehören hier zu den Dingen, die urst einfetzen und welche es sonst in der DDR nicht gibt.
Allerdings spucken die Dinger kein Geld, sondern lediglich Spielmarken aus, die man sich – genau wie beim Gewinn in der „Lotterie“ oder nach Treffern am Schießstand – in Tinnef umtauschen kann. Einer der Jungs hängt fast immer in den Schlangen vor den Fressständen herum und so gibt es Goldbroiler, Thüringer Bratwurst und Schaschlik satt. Aber auch Alkohol, weil die Älteren der Schule – für einen kleinen Aufpreis – bereit sind, uns mitzuversorgen. Noch können sie damit einen Kuhlen machen. Doch im nächsten Jahr sind die meisten von uns endlich 16 und brauchen die Ausweiskontrollen des Kirsch-Whiskey-Beauftragten nicht mehr so zu umgehen. Nach diversen alkoholischen Getränken fahre auch ich Karussell – in meinem Kopf.
Ganz ehrlich: Da bleibt keine Zeit, um einen Lebenslauf zu verfassen. Das verschiebe ich mal lieber aufs nächste Jahr.
Doch das Schicksal holt mich ein. Am 26.12. geht es auf einen „Ringel“ mit der Familie durch den verschneiten Friedrichshain. Und wen treffen wir? Die Wagenbach mit ihrem Macker, dieser Lederratte. Der Kerl wird so genannt, weil er fast immer einen schwarzen Ledermantel trägt und Frau Wagenbach die hübscheste Lehrerin Berlins ist. Durch ihn erlernen 15-jährige Jungs, was Eifersucht ist. Enno aus der A brachte den Spitznamen auf und wollte damit wohl andeuten, dass der Typ beim „Memphis“ (MfS) ist – obwohl er kein Parteiabzeichen trägt. Diese Ratte!
„Na Mark, hast du denn schon deinen Lebenslauf fertig?“, fragt mich die 24-jährige Traumfrau mit einem zweifelnden Lächeln. „Na klar doch, Frau Wagenbach. Muss ihn nur noch in Schönschrift abschreiben“, sage ich und spüre dabei die bohrenden Blicke meines Vaters im Rücken. Ich schaue verschämt zu Boden. Meine Lehrerin trägt weinrote Lederstiefel und die sehen echt toll aus.
„Das freut mich, Mark. Zeig ihn mir einfach am 4. Januar. Mit meiner Unterstützung kommst du vielleicht doch noch auf die EOS.“ Sie schmunzelt dabei eher meinen Alten an. Die hässliche Lederratte ist derweil zum zugefrorenen Ententeich gelaufen.
Nur kurz können wir danach unserer ängstlichen Mutter und der Oma elegante Schwünge auf den Gleitern zeigen, da Benny während der Abfahrt auf der „Knochenbahn“ böse stürzt und sich dabei, laut Diagnose von Prof. Dr. Scheppert (meinem Vater), die Hand lediglich leicht verstaucht hat. Wir kehren trotzdem um.
Am 27.12. ist mein Bruder mal wieder zu Gast im Krankenhaus Friedrichshain. Dort wird nach langer Warterei ein Bruch des rechten Handgelenks diagnostiziert. Mit wehleidigem Gesicht und Gipsarm blockiert der Schwerverletzte ab dem 29.12. – der Qualifikation des ersten Springens der Vierschanzentournee – die Wohnzimmercouch und brüllt zusammen mit mir ununterbrochen „Uuullf“, was Vater beinahe in den Wahnsinn treibt. Ulf Findeisen ist in diesem Jahr der beste Flieger aus unserer Heimat, aber auch die BRD hat mit Klauser und Bauer potenzielle Siegspringer dabei, weshalb der euphorische ARD-Reporter fast durchdreht. DDR-Olympiasieger Jens Weißflog ist außer Form.
Mein Alter feiert noch Resturlaub ab, aber mit „Kürbis Kugelbauch“ allein zu Hause zu sein ist ganz okay. Er ist ein angenehmer Kerl, wenn er was trinkt, und er trinkt eigentlich fast immer. Der Bierkönig schaut sich mit uns am 30.12. im Wachkoma das Wertungsspringen in Oberstdorf im West-TV an, weil er die hohlen Ost-Kommentatoren nicht ausstehen kann.
In einer Kneipe in Brandenburg war es deswegen sogar mal zum Eklat gekommen. Er hatte einer Kellnerin gesagt, dass Dirk Thiele der beschissenste Berichterstatter des DDR-Fernsehens sei. Wie sich herausstellte, war die Bedienung die Ehefrau Thieles, doch statt einer rechten Geraden auf die Zwölf bekam er einfach kein neues Pils mehr ausgeschenkt, was ihn viel schwerwiegender traf.
Vegard Opaas aus Norwegen gewinnt knapp vor Klauser und unser Ulf wird Fünfter. Wir sind zufrieden und ärgern uns lediglich darüber, dass der Schwede Boklöv, trotz großer Weiten, so viele Abzüge wegen seines Stils mit weit geöffneten Skiern (statt sie parallel zu führen) bekommen hatte. Alle freuen sich aufs Neujahrsspringen. Vorher ist jedoch noch Silvester. Meine Alten feiern im „Scheppert-Eck“ mit den Schnapsdrosseln der Gegend und dieses Jahr müssen wir nicht mehr mit.
Um 19 Uhr schließe ich den Alfclub auf, um 22 Uhr sind fast alle breit und gegen 23 Uhr habe ich total den Überblick verloren, da unser Heim im 9. Stock zur Partybühne ausgeweitet wurde, nur weil Assi dort oben mal aufs Klo wollte. Wenigstens ist die Wohnung Sperrgebiet für sämtliche Filous, Harzer Knaller und Fliegende Blitze.
Die Jungs aus meiner Clique achten sogar darauf, die Briefkästen unseres Hauses von Feuerwerkskörpern und Stinkbomben zu verschonen, damit uns keiner wegen des Clubs blöde kommt. Auch Klingelstreiche fallen somit flach.
Auf dem Parkplatz vor der Tür drehen dennoch alle total durch und Trulli, dessen Bruder sich für diverse Krachmacher von „Pyrotechnik Silberhütte“ bei klirrender Kälte saufrüh vor der Drogerie angestellt hatte, erleidet durch einen „Blitzschlag“ böse Verbrennungen am Unterarm. Didi und Tessi liefern sich draußen derweil eine Essensschlacht, indem sie sich gegenseitig mit Buletten bewerfen. Die sind schon total blau und von nun an heißt es: saufen bis zum Erbrechen.
Benny, für den ich heute verantwortlich bin, grölt im Keller zusammen mit Bommel fast unterbrochen „Knall!“, „Bumm!“ und „Peng!“, weil er (wie mein kleiner Freund) ein viel zu großer Schisser ist und gar nicht selbst zum Zündeln hinausgeht. Er begnügt sich mit Wunderkerzen aus Riesa und strahlt. Wenigstens bleibt mir dadurch eine nächtliche Fahrt mit einem „Aua, aua! Hier war ich schon mal!“ brüllenden Bruder ins Krankenhaus Friedrichshain erspart.
Kurz vor Mitternacht stehen meine besten Freunde mit mir am Wohnzimmerfester. Benny zählt hinter uns – parallel zur großen Uhr in der Glotze – den Ablauf der letzten Minute bis zum Jahreswechsel hinunter und zupft dann theatralisch das letzte Blatt des kleinen Abreißkalenders ab. Dann schauen alle gebannt auf die Silvesterraketen, welche vor den Neubaublöcken in die Nacht steigen. Die meisten von ihnen leuchten weiß, manche sind grün und einige wenige rot. Am Horizont, dort wo wir Westberlin vermuten, scheint der Himmel in grellen Blitzen regelrecht zu explodieren. Alle wünschen sich, einmal Silvester dort erleben zu dürfen.
Während Benny, wie auf einer grünen Wiese – die leere Curaçao-Pulle und der Rest von fünf ausgequetschten Kuba-Orangen neben sich liegend – auf unserer Couch vegetiert, beginne ich gegen 1 Uhr mit der großen Säuberungsaktion und versuche, meine Leute zurück in den Keller zu treiben. Zum Glück hatte Jürgen aus der A nur unten im Club gereihert (schade um den Fleischsalat) und da mein Vater selbst qualmt, wird der Geruch nicht allzu groß auffallen. Ein Hauch von Pfeffi-Likör wabert noch durch die Luft.
Plötzlich ruft Bommel aus dem Kinderzimmer: „Kommt mal alle her. Da unten steht die Wagenbach und kotzt in die Rabatte!“ Ich räume sicherheitshalber die von Oma Halle „vergessenen“ Apfelsinen weg und schaue ebenfalls hinunter.
„Hey Zuckerpuppe, willste hochkommen?“ schreit Andi und schnippt seine Kippe hinunter. „Schnauze, die will was sagen!“, ruft Bommel. Zu viert schauen wir aus dem Fenster: „Das bleibt aber unter uns, Mark!“, hallt es nach oben. „Die ist ja breit wie zehn sowjetische Matrosen“, lacht Tessi. Alle anderen schauen mich fragend an. Doch eigentlich weiß ich ja selbst nicht genau, ob ich ihr Versprechen, sich für mich beim EOS-Platz einzusetzen, oder ihre Kotzaktion für mich behalten soll.
„Alles klar. Na dann, ein gesundes neues Jahr und danke für alles“, rufe ich nach unten. Die hübscheste Frau Friedrichshains winkt und schwankt dann hinüber zum S-Block. Wenn das kein guter Start ins Jahr 1987 ist!
Am Nachmittag des nächsten Tages lege ich die Amiga-LP von Simon & Garfunkel auf den Plattenteller – träume mich zum Klassenfeind in den Central Park von New York – und scheibe meinen Lebenslauf.
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Zum Weiterlesen: „Leninplatz“ von Mark Scheppert, 9,90 €