OLYMPUS DIGITAL CAMERALangsam fahre ich mit meinem Rad über das historische Pflaster durch einen immer dichter werdenden Menschenpulk. Ich blicke über die Spree und überlege, wie viele dieser Gebäude damals anders hießen oder noch nicht standen. Meine Stadt hatte sich verändert und mit ihr auch die Menschen. Vor mir laufen nun Hunderte aufgeregt plappernde Leute. Fast alle tragen Trikots der Nationalmannschaft, schwenken schwarz-rot-goldene Fahnen und haben sich die Gesichter und Arme „deutsch“ bemalt. In Vuvuzelas trötend sind sie auf dem Weg in eine der unzähligen Kneipen mit Flachbildschirmen und Leinwänden oder in die „11-Freunde“-Arena. Heute ist das große Spiel, heute beginnt die Fußball-WM 2010 erst richtig. Heute trifft Deutschland im Achtelfinale auf den Erzrivalen England.

Diesmal trage auch ich das Trikot der Deutschen. Gekauft hatte ich es mir während der WM 2006 und erstmals in Südamerika getragen. Damals hatte ich den Leuten dort zeigen wollen, wo ich herkomme, wo meine Wurzeln sind, wo ich das viele Geld verdient hatte, um durch diesen traumhaft schönen Kontinent zu reisen und vor allem, wem ich die Daumen drückte!

Meine Freunde sitzen schon vor unserer Stammkneipe und albern nervös herum, als ich eintreffe. Wir sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Nord und Süd, Ost und West. Erst der Mauerfall hatte viele von uns zusammengebracht und fast alle wissen das sehr zu schätzen. Auch einige, mit denen ich noch vor 20 Jahren auf den Turmsockeln gehockt hatte, sind dabei. Wochen vorher hatten wir die Bänke reservieren müssen und mittlerweile kleben sogar kleine Zettelchen mit unseren Namen auf den Tischen. Durch die Straßen schiebt sich noch immer ein unüberschaubarer Strom schwarz-rot-golden gekleideter Fans.

Meine Stadt erstarrt in angespannter Vorfreude. Ein bisschen Herzklopfen, ein leichtes Aufatmen und ein spürbar wohliges Gefühl im Magen: Das Spiel beginnt.

Dann in der 20. Minute: Langer Abschlag von Neuer direkt in den Lauf von Klose. Er enteilt dem englischen Verteidiger und schiebt – fast im Fallen – den Ball über die Linie. Ein ohrenbetäubender Schrei donnert wie eine Lawine durch die Simon-Dach-Straße. Ein Urschrei, aus Tausenden Kehlen gleichzeitig. An den Häuserwänden hallt das Echo sekundenlang nach. Der grenzenlose Jubel lässt mich freudig erschaudern. Ich schaue auf den Bildschirm. Das dort ist mein Land. Es ist mein Team und auch mein Tor. Es ist mein Schrei!
.
Zum Weiterlesen bei Spiegel Online
.
Zum Buch 90 Minuten Südamerika
.
.
.