Anfang August 1971 standen eine hübsche Frau aus Sachsen und ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt glücklich vor der Notversorgungsanlage im Krankenhaus in Berlin-Mitte und schauten auf ein komisch gefärbtes Kind. Eine Woche musste ich dort als das „blaue Baby“ im Sauerstoffzelt liegen, weil ich mir die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte. In meinem Ausweis steht als Geburtsort Berlin, tatsächlich aber bin ich ein sächsisch-anhaltinischer Berlin-Mischling. Pfui!
Im Kindergarten, spätestens jedoch in den ersten Schuljahren lernten wir Kinder eines: Berliner sind die Allergrößten, und besonders Sachsen sind das genaue Gegenteil. Bereits mit sieben Jahren lagen wir vor Lachen im Dreck, als wir erfuhren, dass „Nuklear“ auf Sächsisch „Na klar“ heißt. Die Sachsen konnte man einfach nicht ernst nehmen. Komisch sprechende Menschen aus Bayern und Schwaben waren durch den Mauerbau in Vergessenheit geraten. In der DDR war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Sachsen in Berlin nicht besonders willkommen waren – und umgekehrt. Punkt.
Das Hauptziel des Spottes war Dresden. Ein Berliner Spruch zeugt von der besonderen Wertschätzung der Stadt an der Elbe: „Wie kommt man am schnellsten von Berlin nach Dresden? – Da steckst du einfach den Finger in den Arsch und dresden (drehst ihn).“
Über diverse Informanten und Kanäle hatte mein Vater eines Tages erfahren, dass Dresden der einzige Ort zwischen Rügen und Fichtelgebirge war, wo es noch einen neuen RFT-Farbfernseher zu kaufen gab – wenn auch nur nach vorheriger telefonischer Anmeldung. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, einen Tag frei zu bekommen. Unsere Mutter wusste jedenfalls nichts von seiner geplanten Fahrt. Eine Überraschung bahnte sich an.
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Welche Farbe hat Colt Seavers‘ Wagen?
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Ich hatte natürlich gesagt, dass ich mitkomme. Mit 13 Jahren lernte ich endlich die schlechteste Autobahn der Republik kennen. Die holprige Fahrt nach Dresden war kein Zuckerschlecken. Tempo 100 war bei dem Zustand der Straße eigentlich kaum möglich, und kurz hinter Berlin versuchte ich verzweifelt, einen Westsender im kleinen Radio des Trabis hereinzubekommen. Ich drehte und drehte an dem kleinen Knopf, es gelang mir nicht.
So redeten Vater und ich den Rest der Fahrt ohne Musik über die völlig neuen Möglichkeiten, die sich uns erschließen würden, wenn wir erst mal das Farbfernsehgerät im Wohnzimmer aufgebaut hätten.
Es gäbe die „Sportschau“ mit grünem Rasen, und wir könnten endlich die Mannschaften richtig unterscheiden. Blaues Wasser bei der Schwimm-WM mit Kristin Otto, kein grauer Schnee bei der Vierschanzentournee mit Weißflog, Nykänen, Züchner und Co., bunte Westprodukte in den Werbepausen und wir würden endlich die Farbe von Colt Seavers‘ Auto erfahren. Bei alten Schwarzweißfilmen würden wir wegschalten.
Als wir nach Dresden hineinfuhren, wunderte ich mich, wie grau und farblos die Stadt wirkte. Fast könnte man sagen: schwarzweiß. Wir kurvten kreuz und quer durch die Straßen. Natürlich hatten wir keinen Stadtplan, und so hielt Vater an jeder zweiten Kreuzung, wo ich die Einheimischen nach dem Weg fragen sollte. Leider verstand ich kein Wort in dieser komischen Sprache, und wir folgten einfach den Armbewegungen.
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Geheimverhandlungen
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Nachdem wir endlich den Laden in einem schäbigen Hinterhof gefunden hatten, sollte ich im Auto warten, denn Vater wollte die Verhandlungen allein führen. Ich malte mir aus, wie er unsere Datsche, den Trabi oder sonst was verpfändete, um diesen wertvollen Farbfernsehapparat zu bekommen. Sicher war zumindest, dass er eine hohe Summe schwarz zahlen würde, da ich sonst ja hätte mitkommen dürfen. Keine Zeugen!
Nach einer halben Stunde winkte er mich aufgeregt herein. Eine riesige Kiste stand auf dem Verkaufstresen – und mein Vater lächelte mich an. Dass ich mir keinen Leistenbruch zuzog, ist ein Wunder, denn das Ding wog ungefähr eine Tonne. In der DDR war es oft so: Was viel wog, war sehr teuer, stand aber auch für Qualität. Insgeheim hoffte ich für den Familienfrieden, dass Vater wirklich nur die 4500 Mark geblecht hatte, die er nannte. Wir klatschten uns ab und fuhren los. Keine Zeit für eine Stadtbesichtigung oder sonstigen Quatsch. Ab nach Hause ins farbenfrohe Berlin!
Mein zweiter Ausflug in die Stadt des berühmten Weihnachtsstollens verlief anfangs ganz ähnlich. Mein Vater rief von der Arbeit zu Hause an: „Marko, hast du heute Lust, mit nach Dresden zu kommen? Ich hab noch eine Karte für das Spiel.“ – „Nuklear!“, brüllte ich in den Hörer. Ja, hatte ich! Am Nachmittag saß ich mit Vater und drei seiner Kollegen in einem Wartburg; die Straßen waren unverändert schlecht, und das Radio spielte keine Westhits. Ich saß hinten in der Mitte, und der Typ neben mir stank widerlich aus dem Mund. Der andere trank ein Bier nach dem anderen, und wir mussten seinetwegen dreimal zum Pinkeln halten.
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Es ging um viel
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Aber immerhin: Es ging zum Halbfinale des Uefa-Cups zwischen Dynamo Dresden und dem VFB Stuttgart – das war es allemal wert! Ich war jetzt 17, und auf der Karte stand: Stehplatz Erwachsene 15,10 M.
Natürlich hatte Vater die Karten über „Vitamin B“ – B wie Beziehungen – bekommen, und die echten Dresdner Fans, für die es keine mehr im Vorverkauf gab, dürften uns dafür gehasst haben. Bereits 50 Kilometer vor der Stadt leuchteten die ersten schwarz-gelben Farben. Viele Leute ließen ihre Schals aus dem Auto flattern und fieberten wie ich dem Spiel gegen Jürgen Klinsmann und Co. entgegen.
Für die Dresdner ging es dabei um viel. Sie vertraten den Osten gegen den Westen, DDR gegen Bundesrepublik und gleichzeitig inoffiziell die immerwährende Schlacht der Sachsen gegen den Stasi-Verein BFC aus der Hauptstadt. Hier wurde vor aller Augen und den ARD-Kameras ein Exempel statuiert, das zeigen sollte, dass Dynamo Dresden nicht nur die beste Mannschaft der DDR war, sondern auch das Team mit den fanatischsten Fans der ganzen Republik.
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Ich konnte es nicht glauben
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Als wir um 17.30 Uhr vor dem Stadion ankamen, wunderten wir uns noch, weshalb hier so wenig los war. Doch als wir die Gänge ins Innere betraten, sahen wir, dass die Ränge bereits randvoll gefüllt waren. Wie in fast allen Meisterschaftsspielen auch, waren die Dynamos bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das heutige Spiel sollte um 20 Uhr beginnen und schon jetzt, zweieinhalb Stunden vorher, waren 36.000 heißblütige Sachsen im Stadion! Schnell kamen wir mit einigen der äußerst freundlichen Jungs ins Gespräch.
Um 19 Uhr begann ein Vorprogramm, wie ich es noch nie im DDR-Fußball erlebt hatte. Die Leute erhoben sich, als der Stadionsprecher mit dem Glücksschwein Eschi ins Stadion einfuhr. Unter Jubel wurde ein Tandemrennen ehemaliger DDR-Sportler angekündigt. Plötzlich fuhren Jens Weisflog, Olaf Ludwig und Kristin Otto an uns vorbei – natürlich in Begleitung zweier lauter Dixielandgruppen. Altbekannte Größen des DDR-Fußballs brachten große Blumensträuße für die möglichen Dresdner Torschützen und spielten danach Fußball-Tennis hinter den Toren.
Ich konnte gar nicht glauben, was hier abging, und als der Stadionsprecher das Sachsenlied ankündigte, verstanden wir unser eigenes Wort nicht mehr. Aus fast 36.000, jetzt schon heiseren Kehlen, erklang das berühmte: „Sing, mein Sachse, sing“. Die beiden Mannschaften versanken beim Einlaufen im schwarz-gelben Fahnenmeer. Ich erkannte Jürgen Klinsmann, der gerade in diesem Moment in unseren Block schaute und genau mich anlächelte. Im April 1989 jubelte ihm in Dresden noch niemand zu.
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Im Hexenkessel
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Neben mir brüllten die Fans aufgeregt unverständliches, sächsisches Zeug. Zum ersten Mal verstand ich, was mit einem „Hexenkessel“ gemeint war. Ich stand in unserem Block D mittendrin. „Obseids!“ (Abseits) verstand ich, als Guido Buchwald den Ball ins Aus schlug. Der Schiri schüttelte den Kopf, und ich brüllte zusammen mit Tausenden anderen Menschen „Nuklear, Obseids!“ ins Stadionrund. Das Spiel war aufregend, es ging hin und her. Am Ende bedeutete das 1:1 jedoch, dass Dynamo Dresden ausgeschieden war.
An den Ausgängen zwängten sich die enttäuschten Massen durch ein viel zu schmales, rostiges Eisentor. Vater schob mich vor sich her, doch ich bekam immer weniger Luft. Zu groß war der Druck der Menschenmenge, so groß, dass ich immer mehr zusammengequetscht wurde. Ich dachte plötzlich an die vielen vor kurzem zu Tode gedrückten Menschen beim Fußballspiel in Sheffield. Ich hatte jetzt keine Kontrolle mehr, wohin ich trieb, die Menge schob mich hierhin und dorthin. Jeder versuchte jetzt nur noch, auf den Beinen zu bleiben.
Ich wurde irgendwann an eine hohe Mauer gedrückt und konnte mich keinen Millimeter mehr bewegen. Mit weit aufgerissenen Augen schaute ich zu meinem Vater. Später erzählte er mir, dass mein Gesicht schon blau angelaufen war. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmte, doch auf einmal brüllte er etwas nach oben, über mich hinweg. Ich konnte den Kopf nicht drehen und wusste nicht, was dort los war. Plötzlich packte eine Hand von oberhalb der Mauer meinen Arm und zog mich aus den immer stärker nachdrückenden Massen hinauf.
Erst vor dem Stadiontor traf ich, schockiert und noch immer schweratmend, meinen besorgten Vater wieder. Glücklich nahmen wir uns zum erstem Mal in unserem Leben in die Arme und fuhren schweigend auf der holprigen Autobahn durch die Nacht.
Das Halbfinale des Uefa-Cups war mein bestes Fußballerlebnis in der DDR gewesen – und am Ende hatte sogar noch ein Dresdner dem ehemals blauen Berliner Baby das Leben gerettet!
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