Was für ein WM-Halbfinale! Ob man es nun im Stadion, auf einer Fanmeile, im Pub oder zu Hause erlebt hat, spielt dabei kaum eine Rolle. Für Millionen Menschen war es das (!) Spiel ihres Lebens – ein kollektiver „Wo-war-ich-damals-Tag“. Wir haben uns zeitlose Erinnerungen erschaffen und ich war beim 7:1 in Belo Horizonte sogar live vor Ort. Da ich etwas vergesslich bin, muss ich meine Gefühle wenigstens für meine Kinder festhalten. Seit zwei Tagen denke ich sogar: Vielleicht kann ich ihnen den Sinn des Lebens anhand eines Fußballspiels erklären.
Zurzeit befinde ich mich wieder in Rio und eines steht fest: die Argentinier sind unglaubliche Fanatiker. Hunderttausende laufen hier durch die Stadt und singen überall – in jeder Straße, an jedem Strand, in jedem Park, früh, mittags und nachts – gemeinsam, dass Maradona viel besser als Pele ist. Die nächste Schmach für die Brasilianer nach dem Deutschlandspiel. Ihre südlichen Nachbarn sind nicht immer ganz fair, aber – objektiv gesehen – schon jetzt Fan-Weltmeister!
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Doch wer ist schon immer fair? Die deutschen Fans etwa? Als wir nach dem Spiel die gebückten Gegner im Mineirão-Stadion nachstellten? Haben wir das gemacht, weil brasilianische Fans nach dem 5:0 in unseren Block gestürmt sind und begonnen haben, uns ins Gesicht zu schlagen? Das glaube ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es der (mit viel mehr Deutschen besetzte) Oberrang mitbekommen hat. Die Bullen schritten ein und riegelten ab. Erst zwei Stunden nach Abpfiff durften wir das Stadion mit gehörigem Polizeischutz verlassen. Die Tracht Prügel wurde den Einheimischen auf dem Spielfeld verabreicht.
Die Rückfahrt mit meinen brasilianischen Freunden war sehr ruhig. Nein anders: es herrschte Grabesstille. Um genau zu sein, wurde mit mir fünf Stunden lang gar nicht geredet. Zu tief saßen Schock, Scham und Schmerz. Auch ich wagte es nicht, nur ein Wort über das irrationale Spiel zu verlieren. Trotzdem war es für mich einer der größten Momente dieser WM. Genau der Kontrast war es, der das soeben Erlebte unwirklich erscheinen ließ.
Diese unbändige Vorfreude an jenem Tag ist schwer zu beschreiben. Es überhaupt geschafft zu haben, ins Stadion zu gelangen und die vielen Umarmungen nur deshalb, dabei sein zu dürfen. Vielleicht lag es auch daran, dass sich beide Seiten ihres Sieges sicher waren. Die überheblich lächelnden Brasilianer mit ihren Neymar-Pappmasken oder wir mit ausgebreiteten Armen, wie die Schwingen eines Vogels, im arroganten Glauben, die Herrscher der Fußballwelt zu sein. Bis heute habe ich meinen Freund Mauro nicht gefragt, wohin er sich nach dem 4:0 verkrümelt hat. Hat er das Spiel zu Ende gesehen? Hat er hemmungslos geweint, wie dieser Junge mit der Brille auf der Videoleinwand? Kann er unsere Gesänge jemals vergessen?
Und wir haben gesungen: „Oh wie ist das schön“ und „Ohne Deutschland wär hier gar nix los“ und „Finale oho“ und „Einer geht noch rein“ und „Auswärtssieg!“ und „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ und „Rio de Janeiro oh-oh-ohoho“. Doch als wir das Lied sangen, wie denn wer nun genau geht, war kein einziger Brasilianer mehr im Stadion. Ich habe mich gebückt und mit geballten Fäusten mitgemacht. Unwohl habe ich mich dennoch gefühlt.
Schon Wochen vor dem Spiel war klar: wir sind richtig gute Freunde und vor dem Anpfiff hat sich dieses Gefühl noch verstärkt. Während des 7:1 ging etwas kaputt und es tat auch mir weh. Das Wort Mitgefühl ist für das brasilianische Jahrhundert-Drama unzureichend. Die Geschichte des Landes, nicht nur die des Fußballs, war in 90 Minuten eine andere geworden. Das merkte ich nicht erst, als ich zögerte beim besagten Lied mitmachen. Aber warum tat ich es dennoch? Wer bin ich?
Beim Brettspiel daheim bin ich ein fürchterlicher Gewinner. Ich koste den Sieg aus und versuche vor allem Mitspieler, die unbedingt siegen wollten, danach zu ärgern. Es macht mir gerade deshalb Freude, weil ich weiß, wie schlecht ich selbst verlieren kann. Es ist ein Spiel und es endet erst dann, wenn man sich wieder besinnt, was wirklich wichtig im Leben ist.
Im Stadion, auf den Fanmeilen und vor den Bildschirmen gab es viele gute Gewinner und Verlierer. Ich sah in Belo Horizonte einige schlechte. Charakterisieren diese also den brasilianischen Fußballfan? Nein! Sie beschreiben lediglich einige Idioten, die zugeschlagen haben. Ich glaube nicht an den Deutschen oder den Brasilianer. Ich glaube nicht einmal an Grenzen. Wenn ich könnte, würde ich sie ignorieren. Mauern wird es immer irgendwo geben – sie werden nur ständig schmaler – nicht zuletzt durch das Reisen, das Kennenlernen, die Späße, das gegenseitige Sich-auf-die-Schippe-nehmen und durch den Fußball!
Wie sich das äußert, wurde schon in Recife deutlich: Deutschland gegen die USA. Man muss vorab sagen, dass der gegnerische Fan kein gewöhnlicher US-Amerikaner ist. Soccer ist in den USA eher eine Randerscheinung. Wer dort Fußball spielt, ist meist auch Rebell. Oft wird das Spiel in den Staaten allerdings auch als Mädchensport bezeichnet.
Wo wir bei der Frage sind, wofür stehen Mädchen? Was ist ein Mädchensport? Rennt eine Frau anders? Wirft sie anders? Anatomisch gesehen hat das weibliche Geschlecht in der Regel weniger Kraft, obwohl ich da nur bedingt zustimmen kann, wenn ich meine Art, krank zu sein, mit der meiner Frau vergleiche, ganz zu schweigen von den Geburten unserer drei Kinder.
Meinen Töchtern werde ich zeigen, wie man schnell rennt, wie man effektiv wirft, wie man gewinnt und wie man verliert. Und ich werde meinen Kindern beibringen, nicht zu fallen wie Arjen Robben. Aktionen, wie jene im Spiel gegen Mexiko, wo er in der letzten Minute wie ein Sack Mehl einfach umfiel, machen den Fußball kaputt und sind der Grund für das Unverständnis an diesem Sport in den USA. In meinen Augen gibt es nichts Schlimmeres, als ein Spiel so zu gewinnen. Und es gibt nichts Größeres als einen Sportler, der seinem Gegner fair gegenübertritt. Das hat mir mein Vater früh beigebracht. Ich mag es wie Robben Fußball zelebriert, aber seine Schwalben sind Momente, wo ich mich für diesen Sport fremdschäme. Damit kann ich mich nicht identifizieren. Welche Botschaft wird damit Nachwachsenden vermittelt? Soll eine Welt voller Kinder mit aufgeblasenen Egos einfach umfallen und brüllen: „Elfer!“? Fußballer haben die Verantwortung, sich gerecht zu verhalten. Sein Ego ablegen zu können, ist die allergrößte Kunst im Leben.
Die Deutschen spielten nach dem 5:0 unfassbar seriös und fair. Sie verarschten die verängstigten Gegner nicht noch mit sinnlosen Übersteigern. In der zweiten Halbzeit wurden sie dafür vom brasilianischen Publikum mit „Olé-Rufen“ bedacht. Aber nur bis Schürrle eingewechselt wurde. Der hielt sich nicht an die Anti-Demütigungs-Taktik, sondern freute sich diebisch über seine Tore zum 6:0 und 7:0. Der Block stimmte: „Ihr seid nur ein Karnevalsverein“ an. Unfair, oder einfach nur lustig in Gedenken an Mertesackers Wutausbruch nach dem Achtelfinale?
Womit ich auf die US-Boys zurückkomme. Als viele Deutsche im Stadion in Recife brüllten: „U are gay. U are gay.“ in Parodie auf „Uuu-S-Aaa, USA“, begannen deren Supporter einfach zu rufen: „We are gay. We are gay.“ Selten hat mich eine Schar Fußballfans mehr beeindruckt. Der Soccer-Fan ist anders, er ist besonders, er ist weiter. Hätten wir das gesungen? Nein! Zu so einer schrägen Begeisterung und coolen Antwort sind Nicht-Amerikaner kaum in der Lage.
Wenn mir mein Sohn eines Tages sagen sollte, er sei schwul, dann würde ich mich ärgern, keine Enkel von ihm zu bekommen, aber enttäuschen könnte mich das nicht. Ich würde die ersten Tage einige schlechte Witze machen, die jedem Homosexuellen unglaublich auf den Wecker gingen und es dann aber gut sein lassen. Hauptsache er bleibt mein Junge. Nein: Hauptsache er ist glücklich. Das möchte ich wenigstens einmal festhalten – bevor ich es vergesse – denn ich fühle mich gerade so lebendig wie noch nie und spüre: jeder Tag sollte eigentlich ein „Wo-war-ich-damals-Tag“ sein.
Vielleicht werden meine Kinder irgendwann einmal erzählen, dass ihr Papa am 8. Juli 2014 beim 7:1 in Belo Horizonte im Stadion live mit dabei war und versucht hat, ihnen den Sinn des Lebens anhand eines Fußballspiels zu erklären.
Doch so harmonisch wird diese Story leider nicht enden, denn nur wenige Monate später musste ich diese Zeilen von meinem Freund Trueman lesen: „Ich habe Krebs und mir steht erneut eine Chemotherapie bevor, die es diesmal in sich hat. Mit 26 verspürte ich einmal den Gedanken, falls es jetzt vorbei ist mit dem Leben, dann war es wenigstens bisher fantastisch. Ich hatte bereits so viel erlebt und ein derart freies Leben gehabt, dass ich zufrieden sein konnte. Das ist heute, sieben Jahre später, anders. Ich darf nicht sterben. Ich habe drei Kinder, eine Frau und Verantwortung. Verantwortung, am Leben zu bleiben und meine Hauptaufgabe ist es, Teil dieser Familie zu sein. Der Tod ist keine Option!
Wenn man tot ist, kann man nicht mehr Teil dieses Lebens sein. Soll ich also meinen Kindern einen Brief schreiben, bevor es nicht mehr geht? Was kann darin stehen? Sollen es Zeilen sein, die ihnen auf Augenhöhe im Erwachsenenalter begegnen? Weisheiten aus meinem Leben? Nein: Ich glaube wichtiger ist es, ihnen von unserer gemeinsamen Zeit zu berichten, denn sie sitzen immer gebannt da, sobald man von Erlebnissen erzählt als sie noch kleiner waren. Wie ist unser Leben aktuell? Welche Beziehung haben wir zueinander? Dinge, über die man sich viel zu selten Gedanken macht. Ist es meine Pflicht diesen Brief zu schreiben? Meine jüngste Tochter wird sich an ihren Vater nie erinnern können. Mein Sohn, gerade vier, wird Bruchstücke aus dieser Zeit mitnehmen – meine Große (5) vielleicht ein paar mehr. Doch alles was vor dem siebten Lebensjahr passiert, wird in der Masse an Eindrücken Platz für Neues machen. Für mich ist das gerade ein äußerst schrecklicher Gedanke.“
Mit diesen Sätzen eröffnete Trueman damals sein Online-Tagebuch und fast jeden Tag schaute ich hinein – selbst an Tagen, wo ich wusste, dass aufgrund seines Zustandes nichts Neues zu erwarten war. Ich hatte die Hoffnung, lebensbejahende, oder eben auch krasse Texte vorzufinden – Hauptsache er lebt noch! Irgendwann war zumindest klar, dass sich mein Freund die Frage: „Muss ich diesen Brief schreiben?“ nicht mehr stellte – er hatte ja bereits damit begonnen.
Vergesslichkeit gilt gemeinhin als eine niedliche und schrullige Eigenschaft, doch das ist sie in meinen Augen nicht! Zu viele Menschen vergessen dabei schlichtweg, wie sie ihr Dasein verbracht haben. Daher empfinde ich es als Pflicht eines jeden, einen Lebensbericht abzulegen. Das können Fotoalben, Tagebuch-Einträge, Blogs oder eben auch Briefe sein. Wie sehr ärgere ich mich darüber, dass dies meine Vorfahren nur unzureichend getan haben, denn viel zu oft habe ich mich gefragt, wer bin ich, woher komme ich – wer wart ihr?
Sterben ist Scheiße und mit Anfang Dreißig umso mehr – das steht fest. Dennoch setzen sich zu wenige Leute mit dem Tod auseinander – leben vor sich hin, als ob es ihn nicht gäbe. Sie verdämmern kostbare Zeit scheintot vor der Glotze oder einem Handy, verbringen als Büroleiche Urlaube auf Balkonien, verhausschweinen oder saufen sich täglich ins Koma, um den Trübsal des Alltags zu vergessen.
Der weltoffene Trueman gehörte nie zu einer dieser Kategorien und hatte in jungen Jahren schon mehr erlebt und gesehen als manch 90jähriger im ganzen Leben. Am liebsten hätte ich mich an sein Krankenbett gestellt und mit einem Aufnahmegerät all das – nicht nur für seine Kinder – aufbewahrt, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Aber nun hatte er ja von sich aus angefangen, zu schreiben. Sein zweites Leben begann, als er begriff, dass er nur eines besaß.
„Fick dich Krebs, Fick dich einfach selbst!“ Mit diesen Worten endete sein Tagebuch …
…aber nein: diese Geschichte darf kein tragisches Ende nehmen, denn ich habe den Anfang des Satzes unterschlagen: „Morgen nach dem Arztbesuch weiß ich, ob ich mir abends einen hinter Binde kippen kann und angetrunken herausschreien werde: Fick Dich Krebs, Fick dich einfach selbst!“
Oh ja: Du warst an jenem Tag betrunken und glücklich und verfickt nochmal geheilt. Um all die schrecklichen Erfahrungen beneide ich dich nicht, aber seit jenen Tagen um deine Kraft, deinen Optimismus, deinen Mut, deine Kinder und bis ans Lebensende um dieses Ticket beim WM-Halbfinale 2014 in Brasilien.
Auch das habe ich nicht vergessen, mein Freund!
Zum Weiterlesen mit Union-Bezug:
von Mark Scheppert und El Rubio
BoD-Verlag: 128 Seiten; 9,90 €
ISBN: 978-3751967013
Erhältlich z. B. bei AMAZON
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