Bei der Einlasskontrolle müssen wir die Karten auf einen Scanner legen. Es leuchtet grün und meine Augen auf der anderen Seite strahlend blau. Wir sind drin! Noch haben wir eine Stunde Zeit bis zum Spielbeginn und so schlendern wir durch den Innenring fast einmal ums Stadion. Dummerweise haben wir Karten in verschieden Sektoren: vier Tickets in Kategorie 2 zu 135 Dollar und nur zwei in der günstigeren 3er (zu 90 US-Dollar), wobei das der Deutschland-Block ist. Dennoch entscheiden wir uns für die vermeintlich bessere Sicht, auch vor dem Hintergrund, dass wir dort nur einen einschmuggeln müssen. Der Witz: wir gelangen ohne kontrolliert zu werden auf 1-A-Sitze. Direkt daneben gibt es Plätze für „Behinderte“, die es heute augenscheinlich nicht gibt. Enri hockt sich hin.
Bei 30 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit werden wir das Match nah am Spielfeld auf Höhe einer Eckfahne verfolgen und die Schwüle einfach wegsaugen. Um uns herum sind unzählige Landsleute, sodass auch hier das Barometer sicher auf Stimmungs-Hochdruck geeicht ist. Direkt vor dem Tor tanzt sich die Ghana-Kolonie ein und vor ihnen drehen die Fußballer ihre Runden. Sylvie zoomt heran und macht lebensgroße Fotos von all den Helden, die den Titel hoffentlich in drei Wochen mit nach Hause bringen werden.
Plötzlich geschieht etwas Außergewöhnliches – mit mir. Beim Einlauf der Teams verspüre ich von jetzt auf sofort keinerlei Hektik mehr, bin nicht mehr angespannt oder aufgeregt – in meinem Herzen herrscht gespenstische Ruh. Alle um mich herum und die Spieler singen die Nationalhymne, nur Jerome Boateng und ich schweigen, denn bei mir läuft gerade ein anderer Film. In „90 Minuten Südamerika“ hatte ich noch betont, dass dies kein Fußballbuch sei. Heute sind etwa 15.000 Landsleute mit uns im Stadion – von 80 Millionen Einwohnern. Jetzt fühle ich mich durchaus dazu berufen, mein Werk so zu nennen!
Mein Zeitgefühl kommt mir abhanden. Die Minuten vor Beginn der Partie können im Nachgang nur 10 aber auch 100 gewesen sein.
Mit noch etwas anderem liebäugelt mein Hirn. Wäre dies nicht der ideale Zeitpunkt, Sylvie zu fragen, ob sie mich heiraten will? Ich hatte ihr 2006, als ich die Fußball-WM daheim nicht erleben durfte, die Pistole auf die Brust gesetzt: Falls jemals eine WM in Brasilien stattfinden sollte, fahren wir hin – ohne Rücksicht auf das, was gerade im Leben ansteht. Wir sind hier! Kann es ein schöneres eingelöstes Versprechen geben? Es soll im Leben eines Mannes ja nur drei Frauen geben, von denen man glaubt, dass es die richtige ist. Ich habe meine eine längst gefunden. Doch was spricht eigentlich dagegen, mit ihr in ewiger Liebe als Traumpaar und beste Freunde durchs Leben ziehen? Erni bringt mich zurück in die Wirklichkeit, denn er brüllt: „Nu ghana losgehen“. Das Spiel geht los!
Schon nach wenigen Ballberührungen herrscht Unruhe im Stadion. Nicht auf dem Platz, sondern im Oberring – direkt gegenüber. Heerscharen von Ordnern sammeln gerade hektisch die Banner unsere Freunde aus Dubaiern, Halle an der Saale und Gladbach ein – so sieht es zumindest aus der Ferne aus. Ein Pfeifkonzert und „FIFA raus“ schallt zu uns hinüber. Dass Zaunfahnen ein elementarer Bestandteil der Fankultur sind, vergessen die Weltverband-Idioten mal wieder, zumal die Sponsoren ja sowieso in einer Art FIFA-Dauerwerbesendung allgegenwärtig sind. Falls auf der Videotafel das Original-TV-Bild übertragen wird, schwenken sie außerdem nur sehr selten in die Fanblocks, was Erni, der permanent in eine Zuschauer-Kamera winkt, augenscheinlich scheiße findet. Unsere Bier-Fahnen wehen weiterhin durch die Arena – ohne Konsequenzen.
Das Spiel hingegen ist weniger aufregend. Ein Hin- und Her im Mittelfeld und Ghana hat sogar die bessere Spielanlage, weil die Deutschen das Tempo arg verschleppen. Lediglich Kroos serviert gewohnt seine überheblich-eleganten Pässe und auch Özil gefällt mir im Gegensatz zu Götze ganz gut. Im Boateng-Bruderduell gewinnt Jerome gegen Kevin-Prinz jeden Zweikampf. Gute Ansätze, aber Torchancen kann sich Deutschland – im Gegensatz zu den Afrikanern – kaum herausspielen. Sind die echt besser als Portugal?
Auch das Liedgut lässt zu wünschen übrig. Der Klassiker „Deutschland, Deutschland“ ist lautstark zu hören und „Steht auf, wenn Ihr Deutsche seid“, wobei man an den „Sitzenbleibern“ sieht, wie viele Brasilianer im Stadion sind. Die besingen das müde Gekicke mit: „Eu sou brasileiro, com muito orgulho, com muito amor.“ Aus tausenden Kehlen schallt es wie ein Manifest durchs Oval. Sie spielen heute nicht – feiern sich aber selbst, mit großem Stolz und viel Liebe. Zur Pause steht es 0:0.
Wir lassen uns vom Ergebnis die Laune nicht verderben. Unsere Frauen holen die nächste Runde Souvenirs, Jenna fachsimpelt mit mir und Erni klettert vier Reihen hinauf, um sich mit drei Schönheiten fotografieren zu lassen. Die Hübschen halten ein riesiges Plakat in die Höhe: „Jetzt wird wieder geMüllert und geHumeltst“, ist dort zu lesen. Gerade drücken sie meinem Freund einen Fußballball in die Hand, den er hin- und herschwingen soll. Auch sie wollen ins Fernsehen, was nicht gelingen wird, denn in Deutschland läuft momentan sicherlich die „tageschau“ oder FIFA-Werbung. Plötzlich hängen die Zaunfahnen gegenüber wieder. Mal sehen, ob wir wenigstens dieses Duell gewinnen werden.
Danny und Sylvie kommen mit zehn Brahma-Bechern rechtzeitig zurück, um beim Blick auf die Anzeigetafel fast zeitgleich den legendären Satz zu rufen: „Was ist denn ein Shkodran Mustafi?“ Okay, den Typen kannte ich bisher selbst kaum und nur weil auf der Videoleinwand auch der Name J. Boateng daneben steht, weiß ich, dass er gerade eingewechselt wurde. Schon krass, was für eine multikulturelle Truppe unser Team geworden ist. Schön krass!
Deutschland spielt jetzt auf das gegenüberliegende Tor und es sind erst wenige Minuten gespielt, als Müller von rechts in die Mitte flankt und Mario Götze der Ball irgendwie auf den Kopf und dann ans Knie prallt. Egal – das Ding ist urplötzlich im Netz. Tooor! Mit meinen Freunden vollführe ich den wüstesten Jubel-Pogo unseres Lebens. Sind wir bescheuert, oder was? Nein! Es ist unser Premieren-Tor bei einer Fußball-Weltmeisterschaft. ‚Der Götze ist ja doch nicht so übel‘, denke ich, während ich im Pulk mehrere Treppenstufen hinuntertreibe.
Als wir uns wieder gefangen haben, flitzt ein mit Filzstift bemalter, bärtiger Typ auf den Rasen. Sylvie zoomt heran und es schaut so aus, als ob der Spinner SS-Runen auf seinem Arschloch-Körper zur Schau stellt. Abführen! Eine Minute später patzt Lahm und Ghana stürmt sofort auf unser Tor zu. Nach einer Flanke köpft Ayew unbedrängt von Shkodran und Per Mertesacker ein. Ausgleich – Scheiße!
Schon in den ersten 10 Minuten der zweiten Halbzeit wurde mehr Herzinfarkt-Risiko erzeugt, als in unserem ganzen WM-Fanleben. Deutschland hängt mächtig in den Seilen & wir kommen eben aus diesem Land. Das macht uns dünnhäutig.
Danny reißt mich herum: „Das halte ich nicht mehr aus – mach was!“, denn plötzlich entdecken auch die Brasilianer ihr „Coração“ (Herz) für den Außenseiter. „Gana, Gana, Gana“, schallt es durchs Rund und direkt unter uns beschwört ein krass geschminkter Voodoo-Priester seine schwarzen Brüder. Es nun ein wilder Schlagabtausch und es gibt Riesenchancen auf beiden Seiten – doch nur Ghana trifft. Der erste Rückstand bei der WM und ich hoffe sogleich, dass es der letzte sein wird. Torschütze Gyan und der irre Medizinmann im Ghana-Block lassen sich feiern. Die Brasilianer starten eine La-Ola, die (fast) durchs ganze Stadion rollt. Die letzten Minuten kamen mir vor wie im Zeitraffer. Was für ein Drama!
Sylvie schreit mir ins Ohr: „Anscheinend wird Deutschland doch nicht Weltmeister.“ „Nein, scheinbar wird Deutschland nicht Weltmeister“, brülle ich zurück, denn endlich habe ich den Unterschied zwischen den Wörtern kapiert. Der Schein trügt, natürlich holen wir den Titel! Rede ich mir gut zu. Allerdings haben sich die neutralen Fans nun komplett auf die Seite des Gegners gestellt. Es stürmt gerade aber auch nur eine Mannschaft – und das ist Ghana. Atempause. Ecke für Deutschland. Kroos flankt präzise in den Strafraum, Höwedes verlängert geschickt und Klose – gerade erst eingewechselt – staubt ab. Tooor, Salto, Ausgleich – Wahnsinn! Es folgt der wüsteste Jubel-Tanz unseres Lebens. Mehr Glückshormone können nicht durch einen Körper schwappen. Wir kullern im Knäul hinunter bis zum Zaun. Weiter geht es mit völlig irrationalem, unkontrolliertem Offensivfußball von beiden Seiten. Erni reißt mich aus dem Geschehen: „Pixie schreibt gerade, dass Miro den fetten Ronaldo jetzt eingeholt hat“, dabei ist es mir scheißegal, wie viele Tore Klose bei WMs (jetzt 15) macht – Hauptsache er kann sich mal Weltmeister nennen. Ich brülle mit ihm hemmungslos: „Miro Klose! Miro Klose! Miro Klose!“
Nach einer vergebenen Großchance von Müller endet das Spiel mit 2:2. Der liegt beim Schlusspfiff blutüberströmt am Boden. Aber auch ich bin fix und alle. Noch nie habe ich eine Partie mit solch einer brodelnden Intensität im Stadion verfolgt. Sylvie umarmt mich lange und Danny ruft mir in Jennas Armen liegend zu: „Noch so ein Spiel halte ich definitiv nicht aus.“ Sie spricht mir aus dem Herzen.
Zwei Typen mit schwarz-weiß gestreiften Trikots quatschen uns nach dem Spiel an. Wir wären ja abgegangen, wie sie – Fans aus São Paulo – plappernd sie drauflos. Anscheinend haben sie uns während der Partie beobachtet. Sie spendieren Erni (dem cleveren, geldknappen „Corintians-Fan“) zwei Bier.
Als wir die Arena eine Stunde nach Abpfiff verlassen, versinkt die Sonne gerade in den Häuserschluchten von Fortaleza und hinter dem glitzernden Pazifik. Ich bin noch immer so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich dies zwar wahrnehme, aber gar nicht so richtig zu würdigen weiß. Sonst würde ich in diesem Augenblick heulen.
Wir laufen zurück wie wir gekommen waren. Unterwegs steht mitten auf der Straße ein einsamer Plastikstuhl. Ich muss mich kurz sammeln, ausruhen, wieder zu Kräften kommen und will meinem Herzschlag lauschen. Erni hält den Augenblick inmitten der Massen in einem Bild fest. Es wird das Fußball-Foto – von mir – für die Ewigkeit.
Zurück in der Stadt entern wir zielsicher ein Kilo-Restaurant. Als erfahrener Brasilen-Reisender erläutert Jenna den Frischlingen, dass sie sich bitte keine Kartoffeln oder sonstigen Beilagen-Quatsch auf die Teller packen sollen, da an der Kasse nur das Gewicht zählt. Fleisch, Würste, Fisch, Krebse, Garnelen und Gemüse im Überfluss gibt es auch für Erni, dem Danny 100 Real geliehen hatte, da sie unsere dummen Sprüche nicht länger ertragen konnte. Im Gegensatz zu mir macht Sylvie das Gelage müde. Sie verzieht sich ins Hotel. Ohne mein Mädchen taumeln wir in ein Konzert auf dem Fanfest. Ein dicker Sänger namens „Pericles“ heizt dort mit dunkelschwarzer Engelsstimme und Bigband in einer Mischung aus Samba-Reggea-Ska den Massen ein. Erni und ich schlagen uns in die vordersten Reihen durch. Dort bemerkt mein Kumpel, dass wir direkt vor der fest installierten Kamera stehen, die alle dreißig Sekunden ins Publikum schwenkt. Er greift mir an die Hose und zieht die DDR-Fahne aus der Schlaufe. Jede halbe Minute lachen wir nun – Tränen.
Ausschließlich umgeben von krass abgehenden brasilienbraunen Jungs und beinahe barbusigen Schönheiten erschaffen wir ein durch den Zufall inszeniertes Bühnenbild. „Ordem e progresso“ und „Hammer, Sichel und Ehrenkranz“ werden von gut 5.000 Leuten nun alle 30 Sekunden gesehen, während alle dabei in Ekstase zur Musik springen. Brasilien feiert mit den zwei Ossis. Glückswellen durchziehen meinen Körper. Die besten Jahre sind noch lange nicht vorbei. Was für ein perfekter Tag!
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Zum Weiterlesen: 90 Minuten Update
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