OLYMPUS DIGITAL CAMERABis heute weiß ich, was ich an dieser DDR nicht mochte, was ich zutiefst verabscheute und warum ich froh bin, nicht mehr in diesem Land zu leben. Leute in meinem Alter mit ostdeutschem Migrationshintergrund fürchten sich immer noch vor solchen – oft unausgesprochenen – Drohungen: „Wenn du dies nicht machst, wirst du aber jenes nicht erreichen.“ Oder: „Falls du hierbei erwischt wirst, kannst du dir dies ein Leben lang abschminken.“, „Wenn du hier nicht eintrittst oder unterschreibst, ist die Karriere leider beendet.“
In den Firmen, in denen ich nach der Wende gearbeitet habe, waren komischerweise fast immer die Leute aus Westdeutschland die größten Anpasser, Intriganten und Petzen beim Chef. Und das, wo doch gerade diese Leute immer geargwöhnt hatten, dass sich im Osten so gut wie alle gegenseitig ausgehorcht hätten. Jeder anständige Ostdeutsche lässt seinen Arbeitgeber heute sofort angewidert abblitzen, wenn er für die Firma spitzeln oder Kollegen verpfeifen soll. Die meisten Ossis haben etwas aus ihrer Geschichte gelernt und lassen sich nicht mehr erpressen oder unter Druck setzen. Die „Stasi West“ regiert die Büroflure des 20. Jahrhunderts, könnte man augenzwinkernd meinen.
Wenn man nicht straffällig wird, ist es heute allerdings kaum mehr möglich, dass man sich seine gesamte Karriere und seinen weiteren Lebensweg ernsthaft und irreparabel versaut. Den Job könnte man jederzeit wechseln. Fragen zum politischen Background, zur Religion und zu persönlichen Ansichten sind in Einstellungsgesprächen sogar verboten. Wir müssen in keine Organisationen eintreten, um einen Studienplatz zu bekommen oder um Abteilungsleiter zu werden. Selbst wenn man bei einer Prüfung dreimal durchfällt, bekommt man in diesem Land irgendwann eine neue Chance. In der DDR hatte man, anders als beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen, meistens nur ein Leben.

Nach der zweiten Unterrichtsstunde wurden wir Kinder jeden Tag in den Milchkeller geschickt. Die Küchenfrauen mit ihren bunten Kittelschürzen hatten dort die Milchkübel aufgestellt. In jedem befand sich eine exakt abgezählte Anzahl Milchtüten in dreieckigen Pappkartons und außen war mit weißer Kreide die jeweilige Klasse draufgeschrieben. Ich mochte den Geruch der vergorenen Milch nicht, der dort unten in den gefliesten Räumen hing.
Jedes Kind musste zu Beginn des Schuljahres angeben, ob es Vollmilch, Vanille-, Erdbeer- oder Schokomilch trinken wollte. Ich weiß nicht, ob es diese recht große Auswahl wieder einmal nur in Berlin gab – jedenfalls war Kakao am teuersten und weiße Vollmilch am unbeliebtesten. So ein „Milchmonat“ kostete unsere Eltern zwischen vier und sieben Mark und meistens bezahlte man die zusammen mit dem Mittagessensgeld.
Irgendwann schenkte man sich die uncoole Milchpause, und spätestens ab der 7. Klasse steckte man sich auch das Geld für das Mittagessen in die eigene Tasche. Zu Hause erzählte man in jedem Jahr, dass „die Schweine“ schon wieder das Essensgeld erhöht hätten, und meine Eltern gaben mir bereitwillig monatlich die erlogenen 15,50 – eine willkommene Erhöhung des Taschengeldes. Mein Vater wunderte sich nicht über die verhältnismäßig teuren Preise und Mutter war froh, dass ich nicht am heimischen Gasherd herumhantierte sondern vollwertige Schulkost aß. Meistens klauten wir uns nun unsere Essensrationen in der Halle an der Höchste Straße.
Im Sommer nahmen wir den kleineren Kindern, die beim Schweinebammeln an der Klopfstange hingen auch schon mal die Milch weg – ausschließlich Schoko. In den Pausen lungerten wir rauchend in der Ecke an der hinteren Front unseres Schulgebäudes. Auf dieser Seite gab es keine Fenster für spionierende Lehrer und gleichzeitig standen wir hier unmittelbar an der Grenze zum Schulhof der verfeindeten Rosa-Luxemburg-Oberschule. Die Vormachtstellungen änderten sich jedes Jahr, aber es war immer die älteste Stufe einer der beiden Schulen, also jeweils die 10. Klasse, welche die aktuelle Macht hatte. Wir waren gerade in der 9. und wussten, dass wir ab dem nächsten Jahr die herrschenden Könige der Höfe sein würden. Die Jungs aus der 9. der Rosa in unserem Alter, aber eigentlich auch die beiden momentanen 10., waren die größten Pfeifen – unsere Zeit würde bald kommen.
Urkunde vorbildlich
Plötzlich flogen faule Äpfel in unsere Raucherecke. Sie kamen vom gegenüberliegenden Grundstück. Ein engmaschiger Zaun war die unüberwindbare Grenze zwischen den Schulen, denn zum einen war er fast drei Meter hoch und außerdem gab es auf beiden Höfen Lehrer, die Aufsicht schoben. Astrid schrie laut auf, als sie von einem Apfel genau in den Bauch getroffen wurde. Wir hatten da ein Problem mit der Rosa.
Ohne groß zu überlegen, rannten Tessi und ich in unseren Milchkeller und nahmen uns jeder einen dieser stinkenden, grünen, sechseckigen Kübel. Auf meinem stand mit Kreide: Klasse 2a. Aus unserer Ecke wurden wir lautstark angefeuert, als wir begannen, mit den Milchkartons in Richtung Nachbarhof zu schmeißen. Tessi konnte weiter werfen als ich, dafür brillierte ich als respektabler Schütze beim Zielen auf Personen in näherer Reichweite. Wir waren richtig gut und setzen fünf Volltreffer. Vor drei kreischenden Mädchen zerklatschten die Pappkartons in einer riesigen Fontäne. Bei zwei jüngeren Schülern bekamen wir die Milch sogar am Körper zum Platzen. Schoko: eine Riesensauerei. Beifallsbekundungen und Jubel begleiteten unsere Würfe aus der Raucherecke. Thomas und Torte rannten in unsere Richtung und riefen: „Scheppi, lass uns noch was übrig“. Doch plötzlich bremsten sie ab und ich merkte, wie mich jemand von hinten mit festem Griff in den Schwitzkasten nahm. Das Blut schoss mir in die Schläfen und ich konnte plötzlich kaum noch atmen.
Scheiße, die Rosa hatte uns doch angegriffen, ging es mir kurz durch den Kopf. Aber nein: Mein vor Wut schäumender Sportlehrer, Herr Pinka, schleifte mich in dieser misslichen Haltung quer über den Schulhof ins Zimmer der Direktorin – zur Fehlerdiskussion.
Frau Seifert sagte zunächst nur: „Scheppert und Tesselitz, Sie erhalten einen Tadel!“, bevor sie inhaltlich mehr in die Tiefe ging. Mit immer noch feurigem Kopf mussten wir uns einen fünfzehnminütigen Vortrag über hungernde Kinder in Angola und Mosambik anhören. Viele dieser armen Kreaturen hätten noch nie im Leben echte Milch gesehen, sagte sie, und vieles mehr. Wir schauten kurz einer zum anderen hinüber und lächelten uns unmerklich an. Der abschließende Satz haute mich jedoch nach hinten um: „Ihre Abitur-Bewerbung, Jugendfreund Scheppert, können Sie sich ja wohl erst einmal abschminken.“
Das konnte sie doch nicht ernst meinen! Ich habe zwei linke Hände, möchte und darf nicht in die sozialistische Produktion. Was soll aus mir werden? Das geht einfach nicht!
Plötzlich sah ich mein Schicksal ganz deutlich vor mir. In einer dreijährigen Ausbildungszeit würden sie mich zum staatlich geprüften Milchfahrer des VEB-Getränkekombinates Berlin schulen, der täglich früh um vier aufzustehen hatte, damit unsere kleinen ABC-Schützen und Frösi-Kinder alle am Morgen ihre Milch im Schulkeller vorfanden. Mein Leben stand auf dem Spiel und ich hatte nur eins.
In der DDR gab es pro Klasse und Schule nur wenige nach einer gewissen Quote zu verteilende Abiturplätze. In meiner Klasse waren es genau drei. Zwei waren schon so gut wie vergeben. Sabine hatte – natürlich außer in Sport – alles Einsen, war also nicht zu schlagen, und Lars hatte sich für 25 Jahre bei der Nationalen Volksarmee als Offizier verpflichtet. Mit dem Halbjahreszeugnis der 9. musste ich somit alle anderen 23 Schüler aus meiner Klasse hinter mir lassen, um überhaupt eine Chance zu haben. Trotz oder wegen der Milchtütenwürfe stellte ich mich in diesem Schuljahr erfolgreich zur Wahl des FDJ-Sekretärs, schrieb erstklassige agitatorische und solidarische Artikel für unsere Wandzeitung, erklärte mündlich, dass ich auf jeden Fall für drei Jahre meinen Dienst bei der NVA machen würde, und hatte vor dem entscheidenden Zeugnis tatsächlich fast überall Einsen – auch in Sport. Notendurchschnitt: 1,3!
Als Frau Seifert auf der Lehrerkonferenz kund tat, dass ich für die 11. Klasse der Friedrich-Engels-EOS (Erweiterte Oberschule) vorgesehen war, konnte ich mein Glück nicht fassen, auch wenn sie im Nebensatz erwähnte: „Noch ein winzig kleiner Ausrutscher und der Abiturplatz ist trotzdem weg.“ Meine Freunde Torte, Bommel und Tessi, ausgewiesene Spezialisten in Sport, Mathe oder Zeichnen, aber eben nur mit einem Zweier-Zensurenschnitt, hatten gegen mich keine Chance gehabt. Für sie hieß es: ab in die sozialistische Produktion!
5 Rosa Luxemburg POS

Ich war ein schlaues Kind. Erst im Zeugnis der dritten Klasse hatte ich meine allererste Zwei und Mutter erzählt noch heute, dass ich deswegen zwei Tage lang geheult hätte. Das mit dem Ehrgeiz ließ ein bisschen nach und als das Fach „Schönschrift“, durch „Werken“ und „Schulgarten“ abgelöst wurde, wurde sowieso nichts mehr aus dem perfekten Zeugnis, durchgängig mit der Note Eins. Ich war eindeutig zu blöd dazu, Schraubstock, Feile oder Harke liebevoll zu bedienen. Ab der 7. Klasse gab es dann plötzlich die Fächer ESP – Einführung in die Sozialistische Produktion, TZ – Technisches Zeichnen und PA – Produktive Arbeit.
Den theoretischen ESP-Teil konnte ich natürlich ganz gut bewältigen, obwohl mir bis heute nicht klar ist, wie Lochstreifen und die Planwirtschaft funktionieren, weder einzeln noch zusammen. Technisches Zeichnen ging auch irgendwie, aber das Problemkind war PA – für den Mann mit den zwei linken, feingliedrigen Händen.
Im volkseigenen Betrieb in Rummelsburg gegenüber vom Knast sollten wir Wäscheständer herstellen, die ich im fertigen Zustand noch nie zuvor in der DDR gesehen hatte. Damit ich wenigstens eine Zwei bekam, schlug ich meinem Meister vor, dass ich die vier Stunden jeden Mittwoch auch gerne damit zubrächte, diverse Schrauben und Muttern zu sortieren. Die handlichen Exportschlager wurden somit alle ordnungsgemäß montiert und ich, das ostdeutsche Aschenputtel, hatte auch einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt geleistet.
Die Verlagerung unserer produktiven Arbeitsstätte in der 10. Klasse ging einher mit dem Wechsel unserer Stammkneipe in das Hochhausrestaurant „Gutenbergstube“. Beide befanden sich nun am Ostbahnhof, und unser Motto hieß: „Vor der Arbeit das Vergnügen!“
Wir trafen uns also am Mittwochmittag an unserer so genannten „Tränke“ und fast alle Jungs versuchten, ihren Rekord im Saufen eines halben Liters Berliner Pils zu toppen. Unser Weltrekord lag bei unglaublichen handgestoppten 3,5 Sekunden – nach drei, vier Versuchen gingen wir arbeiten.
Man hatte mich an eine Maschine eingeteilt, an der ich per Dampfdruck permanent, also vier Stunden lang, kleine metallene Ringe ausstanzen sollte. Das konnte selbst ich tollpatschiger Vollidiot ganz gut bewältigen – sollte man meinen. Der feine zukünftige Abiturient hatte in seinem betrunkenen Zustand leider vergessen, die wichtige Unterlegscheibe auf die Arbeitsfläche der Werkbank zu legen. Ich stanzte also grinsend im Akkord und lauschte der Musik aus dem Kofferradio. Doch plötzlich gab es einen gewaltigen, funkenden Knall, und direkt vor meinen Augen flog irgendetwas durch die Montagehalle. Ich duckte mich und wenig später kam die große Maschine mit der stolzen Aufschrift „Made in GDR“ zum Stillstand.
In meiner Abteilung hatte ich für diesen Nachmittag die komplette Produktion lahm gelegt. Ein Teil des herumfliegenden Bohrkopfes hatte sich in den jetzt stark blutenden Oberarm eines fluchenden VEB-Mitarbeiters gebohrt und das gesamte Kollektiv stand besorgt um ihn herum und starrte mich grimmig an. Ich entschuldigte mich kleinlaut. Auch beim Vorgesetzten Herrn Meier, der mich minutenlang anschrie, ob ich eine Ahnung davon hätte, wie viel diese Maschine gekostet hätte und ob mutwillige Zerstörung von Volkseigentum heutzutage an unseren Schulen gelehrt würde. Zu allem Überfluss hatte die dicke Kollegin in der blauen Schürze, die mich eingearbeitet hatte, gepetzt, dass ich irgendwie nach Alkohol roch.
Mir wurde schwindelig: „Unter alkoholischem Einfluss eine 30.000 Mark teure volkseigene Maschine mutwillig zerstört und dabei Mitarbeiter Hufschmidt lebensgefährlich verletzt“, las ich bereits in Gedanken in Meiers Bericht. Meine mir bereits zugesicherte Abiturzulassung könnte ich mir bei so einer Geschichte komplett abschminken. Als Herr Meier mich nach meinem Namen fragte, stellte ich mir bereits ein Leben als Werkzeugmacher, Dreher oder Melker vor. „Ihren Namen möchte ich wissen!“, schrie er ein zweites Mal. „Uwe Bommler“, antwortete ich vollkommen spontan. Meier war an diesem Tag zum allerersten Mal Oberaufseher, er kannte meinen Namen nicht und schrieb den von mir genannten in seinen Bericht an meine Schule.
Ich wurde rausgeschmissen und wartete über zwei Stunden vor dem Werkstor auf meine Freunde Tessi, Torte und Bommel. Mit zittriger Stimme erzählte ich ihnen, was geschehen war, und schaute vor allem ängstlich ins Gesicht des kleinen Bommel – des wahren Uwe Bommler, dessen Namen ich mir kurzerhand ausgeliehen hatte. Schon auf dem Nachhauswege klopfte er mir ermunternd auf die Schulter: „Mensch, mach dir mal keene Sorgen Scheppi, ick hab meine Stelle bei NARVA doch sicher. Dort will ja eh keener hin.“

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Eine halbe Stunde später saßen wir im Alfclub. Bommel prostete mir mit einem Bier zu. Ich lehnte mich zurück und dachte, was für fantastische Freunde ich doch im Leben gefunden hatte.
Uwe Bommler alias Bommel wurde am nächsten Tag zur Direktorin gerufen. Ohne groß zu diskutieren, verurteilte Frau Seifert seine Tat und gab ihm den ihm zustehenden Tadel. Was er sich denn dabei gedacht hätte, wo er doch Werkzeugmacher werden wollte? Er entschuldigte sich brav und erwähnte mich mit keinem Wort. Er wusste, dass er mir damit den Abiturplatz gerettet hatte und ich ahnte zum ersten Mal, dass wir ein Land mit Menschen voller Edelmut waren. Es gab scheinbar mehr Leute, die sich schützend vor einen stellten als jene, die einen verpfiffen. Und das, obwohl alle nur dieses eine Leben hatten.

Für mich begann nun also ein privilegierter Zeitabschnitt: meine Zeit in der Erweiterten Oberschule bis zur 12. Klasse. Am 4. September 1988 stand ich vor meiner allerersten Unterrichtsstunde in der Friedrich-Engels-EOS beim Fahnenappell. Ich schaute mich um und studierte die vielen neuen Gesichter. Ich musste an Pinkas Schwitzkasten und Frau Seiferts Drohungen denken und hätte ihnen gerne zugerufen: „Hey, ich habe es doch geschafft!“ Der Direktor rief zu einer Schweigeminute für einen in den Ferien verstorbenen Mathelehrer auf und den älteren Jungs aus der 12. ging das komischerweise sehr nahe. In meiner alten Schule hatte ich bis auf die junge Frau Wagenbach überhaupt keinen Lehrer gemocht – und hier liebten sie ausgerechnet den für Mathe. War ich wirklich in einer anderen Welt gelandet? Ich war gespannt, was hier noch alles auf mich zukommen würde, und nahm mir vor, Bommel noch mal einen auszugeben. Uwe Bommler, der vor einer Woche im Berliner Glühlampenwerk, VEB NARVA „Rosa Luxemburg“, als Werkzeugmacher angefangen hatte.

Zum Weiterlesen: Mauergewinner oder ein Wessi des Ostens