Danny und Jenna gehen nach dem Konzert ins Hotel, doch ich habe mein Zeitgefühl längst verloren und streune mit Erni in eine vermeintlich gefährliche Ecke der Stadt. Gerade als wir einsichtig umkehren wollen, hören wir verlockende Musik auf der anderen Straßenseite. Etliche Einheimische aber auch Deutsche in Nationaltrikots stehen dort vor einer Art Disco und plaudern. Ein kahl-rasierter Typ brüllt genau in diesem Moment: „Zieh dein Scheiß-Ölaugen-Trikot aus, du Fotze“. Der Drecks-Nazi und seine Jungs, deren Herkunft ich nicht verraten will, um diesen Verein nicht in Misskredit zu bringen, beschimpfen einen Kerl, weil er ein Özil-Trikot trägt. „Verbisst euch ihr Benner“, ruft Erni unfassbar mutig. Ich zupfe ihm am Ärmel, doch seine Nase bleibt heil, da die Deutschen mit Hirn deutlich in der Überzahl sind. Die vier Spasten hauen Richtung Puff (O-Ton) ab. Solche Typen werden für immer Feinde bleiben – bis wir sterben. Wir hingegen taumeln Seit an Seit mit unseren Freunden „Özil“, „Boateng“ und „Podolski“ ins Verderben.
Unter gewissen Umständen, wie übermäßigem Alkoholgenuss oder fiesen Adrenalin-Ausschüttungen, verliere ich im Leben noch immer die Kontrolle über den Verstand, denn in der Bar gibt es Frauen, die nicht von dieser Welt sind. Nur zögerlich kann ich den Blick von all den erotisch glänzenden Schenkeln und Brüsten dunkelhäutiger Schönheiten abwenden, die hier ekstatisch und mit Hüftschwung Lambada und Samba zelebrieren. Manchmal will ich noch immer begehrenswert sein – möchte mir nicht eingestehen, dass die besten Jahre längst vorbei sind. Auf Fotos des heutigen Tages sehe ich zehn Jahre jünger aus und habe ein lässiges Leuchten in den Augen.
Auf dem Parkett schwebt ein Paar so unfassbar sexy durch den Laden, dass es mich nach einer Caipi packt und ich eine schönbusige Frau zum Tanz auffordere. Die Anmutige nickt und greift mir sofort an die Hüften. Doch der Schwof dauert genau eine Minute, da ich nicht in der Lage bin, ihren Rhythmus auch nur ansatzweise mitzugehen. Ich torkele und stolpere eher neben ihr her. ‚Scheiße, ein Brasilien-Gen besitze ich wahrlich nicht‘, denke ich, als sie mich sanft von sich schiebt, einen zärtlichen Kuss auf die Wange drückt und „não“ flüstert.
Plötzlich spielen sie „Nossa, Nossa“ – das bisher erste bekannte Lied in meinen Ohren. Wenig später schlängelt sich eine 200köpfige „Polonaise“ durch die Disco – angeführt von Erni. Alle haben sich angeschlossen und steigen nun kreischend über Tische und Stühle bevor sie mein Freund unter den klaren Sternenhimmel führt. Das Verhältnis von Deutschen und Brasilianern liegt bei 1:7, doch in gemeinsamer Leidenschaft bricht der Laden fast zusammen.
Die kaffeebraune Schönheit hinter mir versucht die Köpfe meiner Hose zu öffnen, um an meine Genitalien zu gelangen und Erni brüllt von vorn: „Das iss ma ‘ne rischdsche Bolonäse.“ Plötzlich ist da ist so ein krasses Gefühl von früher und gleichzeitig eines der unbändigen Augenblicks-Freude. Nur für diesen Moment hat sich diese Reise schon gelohnt. Behutsam führe ich die Hand zurück auf meine Schulter während eine feuchte Zunge an meinem Hals herumschleckt. Ich drehe mich um und rufe: „Não!“, da die begehrenswerteste Frau der Welt genau 2.014 Schritte entfernt schläft. Außerdem weiß ich, dass ich beim brasilianischen Sexrhythmus genauso grandios versagen würde.
Erni kommt freudestrahlend mit einer Chica im Schlepptau an – ein Traumpaar. Er fragt: „Kannste mir mal nen Hunderter borgen?“ Auch mein Freund hat sicher keine Ambitionen fremd zu vögeln und will der Zauberfee nur noch einen Drink spendieren. Zumindest realisiere ich, dass er schon wieder pleite ist – Zeit zu gehen. Arm in Arm wanken wir aus dem Laden und singen „Nossa, nossa. Assim você me mata. Ai se eu te pego, ai se eu te pego“. Etliche Frauen, die wir in den letzten vier Stunden gesehen und berührt hatten, haben uns fast um den Verstand gebracht. Es ist 5 Uhr.
An der Strandpromenade ist noch immer etwas los. Zwei Teams spielen auf dem warmen Pflaster Fußball und etliche Zuschauerinnen und Jungs diverser Nationen schauen dabei zu. Erni legt seine Deutschlandfahne hinter eines, der aus zwei Pullen bestehenden Tore und brüllt: „Wir fordern!“ Ein lustiger Braunschweiger namens Tommy, den wir im Club kennengelernt hatten, sieht das und ruft: „Ey, mit euch sind wir endlich sieben!“ Um eine steinerne Bank machen sich sogleich vier weitere Jungs startklar. Ich kann nicht fassen, was nun geschieht, aber Mateo und Jesus aus Kolumbien, der Chilene Amaro und David aus der Schweiz meinen es todesernst. Tommy sowieso.
Derweil verlieren „brave Brasilianer“ gegen oberkörperfreie „Favela-Boys“ deutlich. Überheblich lächelnd winken sie uns heran. In 2 x 10 Minuten wollen sie uns, den „Bunten“ – wir tragen alle ein Trikot unseres Heimatlandes – zeigen, wer die ultimativen Herren des Strandes von Fortaleza sind.
Erni geht ins Tor. Ich bilde mit David die Abwehrkette, die Kolumbianer spielen im Mittelfeld und Tommy orientiert sich zusammen mit Amaro in die Spitze. Direkt nach dem Anstoß sprintet der Chilene nach vorn. Jesus spielt einen nahezu perfekten Pass ins Abwehrzentrum des Gegners, doch Amaro schiebt den Ball knapp an der linken Bierdose vorbei. Sofort antworten die Brasilianer mit einen langen Ball hinter unsere zu weit aufgerückten Kolumbianer. Ich döse ein wenig und mit einer leichten Körpertäuschung ist mein Gegner an mir vorbei. Der hat nun freie Bahn und schießt platziert ins linke Eck. 1:0 für Brasilien. Auf den Zuschauertribünen wird gejubelt. ‚Na das geht ja gut los‘, denke ich während Jesus und Mateo toben und Erni den Ball holt. Ich wechsele in den Kasten. Meinem knapp acht Jahre jüngeren Freund, der bis zur A-Jugend fast auf Drittliga-Niveau in der Abwehr gespielt hat, wäre dieser Fehler sicher nicht unterlaufen. Zudem bin ich schon nach drei Sprints außer Atem, triefe nach Schweiß und spüre den immensen Alkohol in meinen Adern pulsieren.
Nach dem Anstoß sehe ich wie genial Jesus und Mateo miteinander harmonieren. Gekonnt passen sie knapp zehnmal hin- und her ohne das die verblüfften Brasilianer an den Ball gelangen. Erst jetzt grätscht einer dazwischen. Ecke. Jesus schaut kurz auf und flankt dann präzise in die Mitte. Kein einziger Gegner springt hoch und so fliegt der Ball zu Tommy, der ihn kurz fixiert und dann – etwas unbeholfen – in Richtung Tor köpft. Doch unerreichbar segelt dieser ins gegnerische Tor. „Viel zu hoch“, deutet der Torwart an, aber der bullige Chef unseres Gegners schüttelt den Kopf und schleppt den Ball zum Mittelkreis. 1:1.
Wütend rennen sie nun an, doch Erni bekommt den Ball schnell unter Kontrolle und passt hinüber zu David, der diesen augenblicklich zu Jesus hinüberschiebt. Blind spielt dieser weiter zu Amado. Drei Brasilianer schauen apathisch hinterher. Unser Chile schießt den Torwart an, aber der Abpraller kommt genau zu ihm zurück und im Nachschuss versenkt er ihn eiskalt. Wie krass – wir führen! Das ist ja so, als wenn ich mit Jenna zwei überlegene türkische Jungs in Kreuzberg zum Tischfußball bitte und wir nur durch unkonventionelle Spielweise eine Chance haben. Doch unsere Südamerikaner im Team spielen nicht unkonventionell – sondern granatenstark. Mit „Chi, Chi, Chi, le, le, le!“, feiert sich Amado selbst.
Fast schon panisch rennen sie nun gegen uns an. Ich kann einen Ball lässig vor deren Stürmer aufnehmen und werfe weit ab hinüber zu Mateo. Der passt halbhoch zu Jesus, welcher das Ding per Direktabnahme aus gut 10 Metern knallhart ins rechte Eck hineinzimmert. 1:3 – ich fasse es nicht.
Um uns herum ist es mittlerweile still geworden. Die Zuschauerinnen – vermutlich sind auch Freundinnen der Spieler anwesend – verharren in ungläubigem Staunen. Sie fragen sich wahrscheinlich gerade auch, ob das wirklich wahr ist. Erni kommt angerannt und singt mir ins Ohr: „Oh wie ist das schön…“
Nach dem Anstoß will keiner von denen den Ball so richtig haben. Aus frech-lachenden, barfüßigen Straßenkickern sind Feiglinge geworden. Der arrogante Glaube, die Allergrößten zu sein, ist allmählich verflogen. Ihr Boss staucht sie immer wieder – wild gestikulierend – zusammen.
Jesus nutzt die Unentschlossenheit und spielt links hinüber auf Tommy, der ihn sofort auf den nach vorne gesprinteten Kolumbianer zurückkickt. Kinderleicht schiebt er den Ball zwischen die Pfosten. Jetzt sprinten wir alle nach vorn und umarmen den Doppeltorschützen. Das Spiel ist nach 8 Minuten eigentlich entschieden. Doch noch ist nicht Halbzeit. Ich mache es mir im Tor gemütlich, denn die Brasilianer schaffen es nicht, an David und Erni vorbeizukommen. Mittlerweile brüllen Leute von draußen „Olé“ nach jedem unserer Pässe zum Mitspieler. Und das ist oft, da die planlos agierenden Gegner fast gar nicht mehr an den Ball kommen. Matteo schiebt den Ball rechts auf Jesus, der sofort durchstartet, jedoch nicht abschließt, sondern zurück in die Mitte spielt. Dort wartet bereits sein Kumpel, der ihn übermütig mit der Hacke ins Tor kickt. Ich träume nicht. Es steht 5:1 für uns Ausländer. Was für eine Tracht Prügel – was für eine Demütigung!
Während der kurzen Pause spendiert uns ein brasilianischer Familienvater eine Runde Bier. Keine Ahnung, ob er jemals auf dem Pflaster von Fortaleza eine solch peinliche Vorführung der heimischen Jungs gesehen hat. Andererseits vermute ich allmählich, dass auch Jesus, Mateo und Amado in ihrer Heimat durchaus für gute Kicks am Strand oder im Verein bekannt sind.
Nach dem Seitenwechsel können wir es uns leisten, mich aus dem Tor zu nehmen. Ich tausche mit Tommy, der etwas außer Puste ist. Ein Gegner ist nun nicht mehr vorhanden, sodass auch ich mit dem Ball am – mittlerweile blutverklebten – Fuß ungestört auf dem Spielfeld entlang spazieren kann. Als ich quer nach innen flanke, sehe ich gar nicht, dass sich auch Erni nach vorn orientiert hat. Zum Glück verpasst Jesus, denn so gelangt mein Freund an den Ball und knallt ihn per Vollspann dem Torwart zwischen die Beine. Getunnelt – Höchststrafe – 1:6. Der Kerl sackt zwischen den Pfosten in sich zusammen, während ich Erni auf den Rücken springe und wir gemeinsam zu Boden stürzen. Tommy kommt aus dem Tor gerannt und auch der Schweizer David schließt sich uns an. Gemeinsam krauchen wir auf Knien als „Raupe“ über den Platz. Unsere Südamerikaner staunen über so viel Ekstase und in den Gesichtern des Gegners ist eine Mischung aus Schock und Scham zu sehen.
Kurz darauf geschieht das Ungeheuerliche. Nein, wie bekommen keine aufs Maul und werden auch nicht mit vorgehaltenem Haifischmesser dazu gezwungen noch sechs Stück reinzulassen. Der Chef der Brasilianer schnappt sich mit einer Fresse, die aussieht als ob er Zahnschmerzen hätte, den Ball, ruft seinen Jungs etwas zu und verschwindet dann mit ihnen in Richtung der Häuserschluchten.
Der Torwart dreht sich noch einmal um und zeigt ein Fuck-Off, doch nach dreißig Sekunden sind die entzauberten Herren des Strandes verschwunden. Kampflos haben sie sich ihrem Schicksal ergeben. Deutschland-Kolumbien-Schweiz-Chile hat Brasilien auf eigenem Boden während der WM 2014 mit 6:1 bezwungen. Wir liegen uns in den Armen und brüllen kollektiv den Klassiker: „We are the champions.“
Jeder von uns weiß nun, dass die Heimmannschaft auch in der Heimat zu schlagen ist. „Vielleicht gewinnen unser Jungs ja noch höher gegen die“, brülle ich Erni in einem Anfall von Größenwahn zu und meine damit unsere Nationalmannschaft. Frühestens im Halbfinale kann es zur Partie gegen Brasilien kommen.
Und noch etwas anders töne ich: „Ich fahre übrigens zurück nach Recife zum Spiel gegen die Amis. Wir sind ja nur einmal bei einer Fußball-WM. Sylvie wird das ganz sicher verstehen. Bist du dabei?“ „Nuklear“ (na klar) schallt es zurück. Auch er will eine Fortsetzung des Gesamtkunstwerkes aus Spiel, Spaß und Emotionen!
Noch lange sitzen wir mit Menschen aus aller Welt zusammen und erleben während des Sonnenaufgangs über Fortalezas Honiglippenbucht einen weiteren Augenblick für die Ewigkeit. Ein sehr junges Mädchen, die mit ihrer Familie noch immer hier und wach ist, entdeckt meine DDR-Fahne und klettert mit dieser auf einen Betonsockel. Dort breitet sie sie vor dem Körper aus und beginnt mit liebreizender Stimme zu singen: „Eu sou alemão, com muito orgulho, com muito amor.“ Tommy und Erni stimmen sofort ein. Ich jedoch bestaune mit offenem Mund das Schauspiel und suche in meinem Hirn nach einem Wort, welches auch nur ansatzweise meine Gefühle beschreiben kann.
Dieses Wort gibt es nicht. Also stimme ich mit Inbrunst ein und schmettere es in Richtung Pazifik: „Ja, ich bin Deutscher, mit Stolz und mit viel Liebe!“
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