Opa Portrait
Früh morgens krabbelten Heinz und ich aus dem Stroh. Mein Schädel brummte, was „natürlich nicht“ am billigen Fusel vom Vorabend lag. Wie viele andere hatten wir uns Klamotten von Einheimischen zusammen geschnorrt. Wir verbuddelten unsere Uniform und sahen mit den neuen Sachen endlich wieder wie normale Menschen aus. Als einziges Erinnerungsstück an unsere Soldatenzeit behielten wir ausgerechnet unsere Soldbücher. Vielleicht könnten die uns ja später noch einmal nützlich sein. Die Amis waren durch. Alles, was hinter uns lag, war bereits von ihnen „besetzt“. Wir wollten in Richtung Osten und ließen es, um nicht noch einmal an die Front zu geraten, gemächlich angehen. Als Zivilisten getarnt, gestatteten wir den amerikanischen Truppen immer ein paar Kilometer Vorsprung, bis wir in Seelenruhe hinterher wanderten.
Eile war also nicht geboten und es störte uns auch nicht, dass der Vormarsch nur schleppend vorankam. Wir hatten diesen Krieg nur aus der Perspektive von Infanteristen kennen gelernt und staunten nun über die Vorgehensweise des Gegners. Sie schickten immer erst Panzer vor, zur Not gab es noch einen kurzen Artillerieeinsatz, und erst wenn ganz sicher war, dass in dem zu erobernden Geländestück kein militärischer Widerstand mehr zu erwarten war, kam das US-amerikanische Fußvolk, wobei dieses keineswegs „zu Fuß“ kam. Selbst die Infanteristen liefen hier kaum einen Meter auf eigenen Beinen, sondern saßen Lucky Strike rauchend auf LKWs und vollzogen die Besetzung eines Ortes, indem sie auf dem Marktplatz behäbig vom LKW kletterten.
Natürlich waren wir nicht die Einzigen, die hier herumirrten. Viele fröhlich pfeifende Burschen – meistens zu zweit – bevölkerten die Landstraßen und hilfsbereite Einheimische machten uns rechtzeitig auf Militärkontrollen aufmerksam, die wir dann umgehen konnten. Irgendwann kam uns die Idee, eine Zwischenstation einzulegen.
Bermaringen schien uns dafür besonders geeignet zu sein, da wir dort durch unsere Kompaniefest-Sammlungen eine Menge Leute kannten. Auch die beiden Töchter des Bauern freuten sich sehr, als wir wieder auftauchten.
Nach nur zwei erquicklichen Nächten im Stroh schmissen wir unsere Pläne wieder um, da uns der Bürgermeister ein Angebot machte, dass wir nicht ablehnen konnten. Er schrieb uns eine Bescheinigung in deutscher und englischer Sprache, die uns als ehemalige kriegsdienstverpflichtete Schlosser bei den Magirus-Werken in Ulm auswies. Mit Amtssiegel! Ganz ehrlich: Leckereien, Obstler und Dorfschönheiten hin oder her – es zog uns magisch in die Heimat. Mit diesen Papieren, so glaubten wir, könnten wir nun einen Zahn zulegen.
Klaus Essen

Wir passierten unzählige Sperren mit unseren „Dokumenten“ und niemand hielt uns auf. Schnell erreichten wir den Thüringer Wald, als uns ein älterer Mann auf der Landstraße zwischen Weimar in Richtung Eckartsberga vor einer erneuten Militärkontrolle warnte. Wir grinsten als er mit seinen Pferdchen weiter zog. Mit unseren Papieren würden wir doch keinen Meter Umweg laufen. Doch als wir diesmal vor den sechs bewaffneten Amerikanern standen, verschwand das Lächeln recht schnell aus unseren Gesichtern.
„Bürgermeister guter Deutscher!“, brummte deren Kommandant, als wir unsere beglaubigten Dokumente vorzeigten. „Aber auch guter Nazi!“ In diesem Moment waren wir Kriegsgefangene der US-Army. Ganz undramatisch. Ohne durchgeladene MP oder Hände-Hoch-Gebrülle. Im Verlauf der nächsten Stunden sammelten sie weitere Leute von der Straße ein und verfrachteten sie auf den LKW. Die Fahrt dauerte nicht lange. Unser Gefährt hielt in Kölleda vor der Sparkasse, die augenscheinlich die einzige Behausung im Städtchen war, welche Gitter vor den Fenstern hatte. Man erklärte uns, dass hier bis zum kommenden Tag Station gemacht werde. Viele Einwohner hatten den Rummel mitbekommen und versammelten sich vor unserem ebenerdigen Kerker. Es waren vor allem junge Mädchen, die uns mit allerlei Leckereien durch die Stäbe versorgten. Verhungern würden wir in dieser Nacht definitiv nicht.
Es wurde streng reguliert, wer wie lange am Gitterfenster stehen durfte und als ich mal wieder an der Reihe war, traf mich fast der Schlag. „Mensch Horst, bist du das wirklich?“, kreischte jemand. Ich war’s, und die es rief, war ein wunderschönes dunkelhaariges Mädchen. Mein euphorisch gebrülltes: „Regina“, erschreckte den vor dem Eingang postierten Ami so sehr, dass er mit seinem an die Häuserwand angekippten Stuhl, nach vorne auf vier Beine fiel. Mit Regina hatte ich in Breslau meine Lehre absolviert. Wir hatten uns seit ich eingezogen wurde, nicht mehr gesehen. Obwohl die Wiedersehensfreude durch die uns trennenden Gitterstäbe getrübt wurde, verspürten wir ohne viele Worte ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Wir hatten beide die mörderischen Kriegsjahre überlebt!

Das Hauptthema war die Frage, in welches Gefangenenlager sie uns wohl am nächsten Tag bringen würden. Ein Mitgefangener erzählte von Gerüchten, dass in einigen Lagern die Haare geschoren werden, in Naumburg dagegen – dem angeblich besten Lager – nicht. Schon komisch, dass dies unsere größte Sorge war. Wie eitel und ahnungslos wir nur waren.
Am nächsten Tag gab es das große Aufatmen, als wir am Ortseingangsschild von Naumburg vorbei fuhren. Es war ein riesiges eingezäuntes Gelände in dem zigtausende Menschen apathisch auf ebener Erde oder in flachen Gruben hockten. Keine Zelte, keine Baracken, wie man das heute in Filmen immer darstellt.
Wir fuhren durch eine Öffnung im Zaun und mussten absteigen. Nun waren wir also Insassen eines US-amerikanischen Kriegsgefangenenlagers. „Wo muss man sich hier denn registrieren?“, fragte ich einen Herumliegenden. Erstmals erlebte ich, was mit dem Ausdruck „müdes Lächeln“ gemeint ist. Es gäbe keine Registrierung, erklärte er und es interessiere die Amis auch gar nicht, wer und wie viele Menschen in ihrem Camp hausten. Frustriert suchten Heinz und ich ein freies Plätzchen, was gar nicht so einfach war. Fast jeder Insasse hatte nur knapp zwei Quadratmeter zur Verfügung und wer Pech hatte musste direkt neben dem Latrinengraben liegen. Auch der verbale Kontakt mit den Alteingesessenen erwies sich als schwierig, da die in der Regel recht maulfaul waren. Selbst auf die simple Frage nach der Verpflegung gab es wieder nur dieses „müde Lächeln“ und hinsichtlich unseres Durstes eine „lahme Handbewegung“. Irgendwo solle es einen intakten Wasserhahn geben.
Opa erzählt
Unser Gemütszustand sank auf den Nullpunkt, denn auf unseren Wanderungen durch halb Deutschland waren wir zuvor von den jeweiligen Gastgebern geradezu verwöhnt worden. Die meisten hatten ihre Söhne oder Männer noch immer im Krieg und hofften, dass diese in der Fremde genauso gut behandelt würden. Außerdem hatten wir uns fast immer Familien mit Töchtern in unserem Alter gesucht. Es sollte ja nicht langweilig werden. Wenn ich daran denke, dass wir wie Huckleberry Finn und Tom Sawyer mit einem Floß laut lachend auf dem Main in Richtung Würzburg geschippert sind, kommt es mir manchmal sogar so vor, als wäre dies die unbeschwerteste Zeit meines Lebens gewesen.

In Naumburg gab es nur einmal pro Tag Verpflegung. Einen Tag eine Dose Schmalzfleisch, am nächsten eine mit Schmelzkäse, die man mit acht Gefangenen millimetergenau stückeln musste. Auch das Brot gab es aus der Konserve und musste mit Vieren geteilt werden. Die leeren Dosen musste man übrigens aufbewahren, da dort die unfassbar dünne Suppe hinein gegossen wurde, die wir manchmal als Tagesration bekamen. Wer dann kein Gefäß besaß, musste hungern.
Es passierte, dass man an einem Tag, nachts um 1.30 Uhr diese Ration bekam und die nächste erst am darauf folgenden um kurz vor Mitternacht. Das hieß, dass wir manchmal fast zwei Tage gar nichts zu Essen hatten. So geschah es, dass täglich, mitten im besetzten Deutschland, zig Männer verhungerten. Andere starben direkt neben uns an Krankheiten und Erschöpfung. In der Nacht war es nämlich empfindlich kühl und starke Regengüsse prasselten auf uns herab. Lediglich Gefangene, welche sich mit Glück, Geschick und vor allem Brutalität einen Pappkarton besorgt hatten, mit dem sie sich behelfsmäßig bedecken konnten, blieben ein wenig trockener.
Was wurde nicht alles über die Kameradschaft der deutschen Soldaten in guten wie in schlechten Zeiten geschrieben. Hier in Naumburg war davon nichts zu spüren. Jeder war sich selbst der nächste – wichtig war nur das nackte Überleben.
Opa und icke
Tatsächlich hatten auch Heinz und ich nicht vor zu verrecken. Auf dem Gelände entdeckten wir irgendwann die ehemaligen Getreidesilos. Sie waren mit kranken und verletzten Gefangenen belegt und wurden von den Amis mit einem Posten bewacht. Die „Silobewohner“ hatten primitive Zettelchen, die ihnen das Betreten der Anlage gestattete. Nachdem Heinz zwei ähnlich aussehende Papierfetzen besorgt hatte, sprachen wir einen Kriegsverwundeten an. Ich prägte mir das auf dem Zettel Geschriebene ein und fälschte uns zwei solcher „Eintrittskarten“. Als Technischer Zeichner war das ein Leichtes. Endlich hatten wir also ein Dach über dem Kopf, was schon die halbe Miete für ein längeres Überleben bedeutete. Außerdem lagen auf den kahlen Böden überall noch Getreidekörner. Wir sammelten sie eifrig ein, pusteten den Staub heraus und klopften mit einem Stein wichtige Zusatznahrung aus den Hafer-Rispen. Vielleicht rührt daher meine spätere Abneigung gegen Haferflocken, die ich heute nur noch beim Angeln zum Anfüttern benutze.
Eines Tages verbreitete sich das Gerücht, dass die Amis die ersten Leute entlassen würden – zunächst allerdings nur einfache Soldaten. Ich muss mich noch heute wundern, wie viele Soldbücher plötzlich wieder auftauchten. Auch wir hatten unser Beweismittel – den „Pass in die Freiheit“ – ja glücklicherweise aufgehoben. Schon am Folgetag ging es los und man begann sogar mit dem Silo. Wir mussten in Viererreihen antreten, die Amis zählten 25 Leute ab und dann trottete ein so gebildeter Hunderterblock mit unbekanntem Ziel durchs Lager. Ich hatte mit Heinz ausgemacht, dass wir uns – falls wir uns verlieren würden – in Kölleda bei Regina treffen würden, um von dort aus nach Berlin bzw. Breslau weiterzugehen. Und tatsächlich verlor ich meinen Freund bei der Drängelei zum Antreten aus den Augen. Kurz darauf erfuhr ich, dass es drei verschiedene Gruppen Gefangener geben würde, die über Ent- oder Nichtentlassung entscheiden würden.
1. Angehörige der Waffen-SS und aktive Mitglieder der NSDAP
2. Soldaten, deren Heimatorte in russisch besetzten Gebieten lägen
3. Soldaten, die im besetzten Teil der westlichen Alliierten zu Hause wären
Was mit den drei Gruppen geschehen würde, konnte keiner sagen. Da ich keine Tätowierung der Blutgruppe unter der Achselhöhle hatte, war klar, dass ich nicht bei der Waffen-SS gewesen sein konnte und auch in die NSDAP war ich nie eingetreten. Ich, die Breslauer Lerge, schrieb deshalb in den Fragebogen: „Wohnort: Kölleda, Hauptstraße 17.“ Eine Hauptstraße, vermutete ich, würde es in jedem größeren Ort Deutschlands geben. Und siehe da: ich wurde Gruppe 3 zugeordnet. Am nächsten Tag drückte man mir den offiziellen Entlassungsschein aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft in die Hand. Ein LKW brachte die Leute aus der näheren Umgebung sogar in ihre Heimatorte. Als ich in Kölleda vor der Sparkasse von der Ladefläche stieg, war ich ein freier Mann. So simpel war das wieder einmal für mich.
Lesen
Ich kann bis heute kein gutes Wort über diese Wochen verlieren. Mein späterer Kollege Willy Conrad erzählte mir einmal, wie es ihm bei den Russen ergangen war. Dort hatten sie nach knüppelharter Arbeit einmal pro Tag eine heiße Suppe bekommen und 400 Gramm klitschiges Brot. Laut Willy war das jedoch noch mehr als das, was die russische Bevölkerung zu jener Zeit bekam. Und eben mehr, als wir bei den Amis. Doch die Zeit machte den Unterschied. In Russland saßen die deutschen Soldaten oftmals schier endlos erscheinende Jahre fest und viele kamen nie wieder. Als einer von Wenigen überlebte Willy dort und spielte später sogar noch jahrelang bei Chemie Leipzig Fußball.

Mein bester Freund Heinz hatte immer voller Optimismus gesagt: „Sie werden in Berlin alles zerbomben – außer die Prinzenstraße 13.“ Er hatte Recht behalten. Als ich Ende 1945 nach ihm suchte, stand das Haus noch und eine Frau öffnete mir sogar die Tür. Sofort begann die ältere Dame zu jammern, dass sie noch immer nichts von ihrem Sohn gehört habe. Ich beruhigte sie, da ja zumindest klar war, dass er den Krieg überstanden hatte. Nur in Kölleda war er leider nie aufgetaucht.
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Vor ca. acht Jahren blätterte ich aus purer Langeweile im Berliner Telefonbuch. Ich entdeckte einen Heinz Böder im Westteil Berlins und rief einfach mal an. Eine Frau meldete sich und nachdem ich ihr erklärt hatte, wer ich bin, begann sie sofort zu weinen. Ihr Mann Heinz war gerade vor vier Wochen verstorben. Er hatte oft von mir und unseren abenteuerlichen Erlebnissen vor und während der Zeit im „besten Lager“ berichtet. Als sie das sagte, heulte auch ich schon längst Rotz und Wasser. Wir hatten ein halbes Leben lang in ein und derselben Stadt gewohnt und uns trotzdem nie wieder gesehen. Ich hätte ihn sogar zu DDR-Zeiten anrufen können – ja müssen!
Deshalb eine Mahnung an nachfolgende Generationen und dies ist wahrlich kein Gerücht: Ein Krieg lässt einen bis ans Lebensende nicht mehr los.
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