Otto swDie Meerschweinchen tragen in Peru lustige Hüte! Vor zwanzig Minuten hatte es in der Küche fürchterlich gequiekt und gerade beschwert sich mein Freund Göte beim Kellner, dass bei seinem Cuy, wie die gegrillten Kuscheltiere in Südamerika genannt werden, die Karotten-Krone fehlt. Noch immer denke ich ein wenig pikiert an unseren wuscheligen Otto, mit dem Benny und ich in unserer Kindheit so gerne gespielt hatten. Jenna verlangt nach der scharfen Soße. „Schmeckt ein bisschen wie Ratte“, ruft er mit vollem Mund und nickt mir aufmunternd zu. „Mann, seid ihr ein paar Fleischnazis. Das arme Ding!“, antworte ich und steche zögerlich die Gabel in einen der Schenkel. Das niedliche Tier scheint mich mit traurigen Augen zu fragen: „Warum?“

Wir befinden uns in einem Restaurant in Cusco, einer Stadt in Peru, welche für die Inkas noch der „Nabel der Welt“ gewesen war. Doch spanische Eroberer hatten sie vor knapp 500 Jahren erobert, überrannt, niedergebrannt und jedes einzelne Gebäude überbaut. Lediglich die gewaltigen Steine der „Mauer“ des ehemaligen Inka-Palastes, waren als Mahnmal einer besiegten Kultur übrig geblieben. Welch Parallele zu einem anderen Land. Wie hatte es hier wohl früher einmal ausgesehen? Ich versuche es mir vorzustellen:

Der kleine Roca sitzt neben seinem Vater auf dem belebten Marktplatz, ganz in der Nähe des großen Sonnentempels. Es war ein guter Tag gewesen. Sie hatten acht der weißen, langhaarigen Quwis (Meerschweinchen in der Sprache der Inkas) und sechs der gescheckten, glatten verkauft. Mutter wird sich freuen, wenn sie sieht, wie viel Maismehl, Bohnen und Kartoffeln sie dafür bekommen hatten. Später waren sogar noch zwei hungrige Priester gekommen und so hatten sie zwei der Tiere vor Ort schlachten, häuten und ausnehmen müssen. Im Feuer der ofenartigen Manuyila waren sie langsam gar geworden.
Cusco Markt
In der Mittagshitze leert sich der staubige Platz allmählich. Nebenan werden Kokablätter in große geflochtene Körbe gepackt, die Alpaka-Wollhändler räumen langsam zusammen und die Flötenspieler haben sich im Schatten des großen Palastes von Coricancha niedergelassen. Über ihnen funkeln die goldenen Platten des Hauptportals im Lichte der hoch stehenden Sonne.
‚Wie gern würde ich dort einmal hineingehen’, denkt Roca traurig. Niemand, den er kannte, nicht einmal sein Vater, war jemals im Inneren des heiligen Tempels gewesen. Doch jeder wusste, dass in einem, ganz und gar aus Gold bestehenden Raum die heilige Sonnenscheibe der Götter aufbewahrt wird und im silbernen Nachbarraum, die Scheibe des Mondes. Vater hatte ihm erklärt, dass jenes Gold die „Schweißperlen der Sonne“ und das Silber „die Tränen des Mondes“ darstellen.
Sein Vater war so klug! Als sie nach dem letzten Opferfest durch die Säulengasse gelaufen waren, konnte er zu all den steinernen Tierfiguren etwas sagen. Der Puma bedeutet Krieg, der Jaguar Macht, die gefiederte Schlange steht für Weisheit, im Gegensatz zur großen grauen Schlange, die den Geiz verkörpert. Das Alpaka bedeutet Wärme und der Kondor steht für eine Botschaft. Der kleine Roca hatte sich das alles gemerkt.
In diesem Moment fällt ihm auf, dass es dort gar kein Quwi (Meerschwein) gegeben und er seinen Vater deshalb auch nicht gefragt hatte, welche Eigenschaft es symbolisiert. Vorsichtig tippt er ihn an die Schulter: „Du Papa, welche Bedeutung haben eigentlich die netten, leckeren Quwis in unserer Göttersprache?“

Moment mal. Stopp!

Es gibt zwei Wörter, die ich in meinen Texten nie verwenden wollte: nett und lecker! „Nett“ ist die kleine Schwester von Scheiße und „lecker“ steht für das Unvermögen der Deutschen, sich vernünftig auszudrücken. Ich kenne niemanden, der „nett“ ist und bei keiner Speise, oder einem Getränk würde es mir jemals in den Sinn kommen, sie als „lecker“ zu bezeichnen. Niemals!
Nicht einmal in Dialoge würde ich diese Adjektive einbauen. So redet einfach keiner, oder habt ihr schon mal jemanden sagen hören: „Das war ja mal ein netter Berliner Busfahrer. Der hat uns sogar Leckerbissen angeboten.“ Merkt ihr was? Kein Berliner Busfahrer ist „nett“ und er bietet natürlich auch kein Essen an.
Oder einer meiner Freunde würde in einer Story zu mir sagen: „Das war aber echt nett von dir, ich lade dich im Rockz noch auf ein lecker Bier ein“. Hey! Ich bin verdammt noch mal nicht „nett“ und wir tauschen in meiner Stammkneipe auch keine „Nettigkeiten“ aus. Süffiges, gezapftes Becks kann man dort bestellen, aber kein „leckeres“. Nein, ich habe keine „netten“ Mitvorleserinnen bei unserer Lesebühne mit „leckeren“ Hintern. Sie sind witzig, sympathisch oder geheimnisvoll und von hinten betrachtet, sehen sie knackig aus – oder eben nicht.
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Und selbst Sie, die Leserinnen und Leser dieser Zeilen, würde ich wahrlich nie als „nette“ Bücherwürmer bezeichnen, die sich vielleicht gerade fragen, welche „unleckeren“ Details im Verlaufe der Geschichte noch folgen werden.

Vielleicht ist es wieder einmal eine Frage der Herkunft. Im Osten gab es die Begriffe „nett“ und „lecker“ einfach nicht. Da war jemand „duffte“, „knorke“ oder „fetzte urst ein“ und auch ein Essen konnte „duffte“ und „knorke“ schmecken, oder urst „einfetzen“. „Astrein“ und „genial“ kamen später noch hinzu.
Und im Westen? Ich konnte ARD und ZDF in Ostberlin immer empfangen und weiß daher, dass die Jogurts in der Werbung früher lediglich „cremig“ oder „fruchtig“ waren. Doch genau hier habe ich die Wörter irgendwann zum ersten Mal gehört.
Zwei braungebrannte 25-jährige Joggerinnen mit Bikinititten, die in einer mondänen 45 Quadratmeter-Küche deutsche Durchschnitts-Hausfrauen mimen, löffeln an einer quarkartigen Speise. Die eine: „Voll nett eure neue Küche.“ Die andere: „Und der Jogurt?“ „Voll lecker!“

Sorry, mir wird schon übel wenn ich das niederschreibe.

Kann denn diese Nobelküche nicht hinreißend, bezaubernd, stilvoll, heimelig, imposant, gemütlich, hübsch oder meinetwegen sogar fesch aussehen? Warum sagt die alte Ziege „voll nett“? – Was meint sie damit? Richtig schlecht? Und warum in Gottes Namen darf dieser bescheuerte Jogurt denn nicht munden? Warum kann er nicht köstlich, delikat, wunderbar, appetitlich oder einfach nur gut schmecken? „Voll lecker!“ So eine gekünstelte Sprache. Wir verblöden immer mehr! Ich schmeiß meine Glotze irgendwann hochkant aus dem Fenster. Volle Kanne!

Ich habe dennoch mal recherchiert. „Nett“ wurde aus dem französischen „net“, für makellos und rein im Mittelalter ins Deutsche übernommen. Dass mittlerweile die Redewendungen „ziemlich nett“, „recht nett“ und „ganz nett“ oftmals genau das Gegenteil bedeuten und somit „völlig reizlos“, „extrem langweilig“ und „kleine Schwester von Scheiße“ ausdrücken sollen, macht dieses Adjektiv ja fast schon wieder sympathisch. Man kann damit sprachlich experimentieren.
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Bei „lecker“ dachte ich allerdings sofort, dass es tatsächlich ein neulich erfundenes deutsches Wort ist, da ich weder im Englischen, Spanischen oder Lateinischen eine Herleitung finden konnte. Stimmt aber nicht! „Lecker“ kommt ursprünglich aus dem Afrikaans und wurde letztendlich auch ins Niederländische übernommen. Für mich als Fußballfan wäre es die Höchststrafe, wenn mir beim Spiel Niederlande gegen Deutschland mein Sitznachbar ins Ohr flüstern würde: „Ons het lekker gespeel“ (Unsere haben großartig gespielt). Der Superlativ ist noch viel schlimmer: Lekkerst!

Im deutschsprachigen „Wiktionary“ könnte ich übrigens einen Eintrag für die Herkunft des Wortes „Leckerbissen“ einstellen. Es gibt nämlich noch keinen. Dort ist bisher nur „lecker“ erläutert. Es bedeutete ursprünglich: „Was gut zu lecken ist!“ Ganz kurz hatte ich eine Vorstellung davon, was es sein könnte…

„Nu haste mir aber janz lecker jemacht“, denkt der Leser bestimmt gerade. Diesen Satz schreibt Alfred Döblin in seinem Buch „Berlin Alexanderplatz“. Das lass ich gerade noch so gelten. Und auch „ne kölsche Jung un e lecker Mädche“ können gerne „e lecker Kölsch drinke“. Okay, ich merke, das führt langsam zu weit.

Es gibt nämlich noch einen anderen Ansatz. Vor kurzem besuchte mich eine Freundin aus der Schweiz. Sie hatte mir ein paar „Leckerlis“ mitgebracht. Auch dieser Fährte bin ich nachgegangen und so erfuhr ich, dass der Begriff „Basler Läckerli“ erstmals 1720 amtlich erwähnt wurde.
Das lebkuchenartige Gebäck, hergestellt aus Weizenmehl, Honig, kandierten Früchten und Nüssen kann man noch heute fast überall kaufen. Alles wäre so schön, wenn ich meinen Gästen zur Weihnachtszeit, die kleinen rechteckigen Stücke mit der Zuckerglasur anbieten könnte und wüsste, dass einzig und allein diese Gaumenfreude als „lecker“ bezeichnet werden dürfte (und vielleicht noch der Milchquark namens „Leckermäulchen“ aus der ehemaligen DDR, den ich bisher wohlweislich verschwiegen habe).
Aber nein, es gibt eine Band namens „Lecker Nudelsalat“, Kochrezepte unter „lecker.de“, „Lecker – das Kochmagazin“, Die WDR-Reihe „Von-und-zu-lecker“, „Die geilen Leckschwestern“ in einem Videofilm, „Lecker – die CD von Atze Schröder“, die Bücher: „Lafer, Lichter, Lecker“ und „Hundekekse frisch und lecker“.
Sorry, aber ich möchte dieses Wort jetzt wirklich nicht mehr niederschreiben müssen. Ich hätte eben viel lieber die Märchen-Geschichte aus Südamerika zu Ende erzählt…
Machu Picchu oben

Der kleine Roca tippt seinen Vater vorsichtig an die Schulter: „Du Papa, welche Bedeutung haben eigentlich die netten, leckeren Quwis in unserer Göttersprache?“
Der Alte schaut seinen Sohn fragend an: „Weißt du denn nicht mehr, wie wir mit einem ‚Glatthaar’ über Onkel Xocils Körper gerieben haben, um die kranke Stelle zu finden?“ Roca schüttelt den Kopf. „Es hatte auf seinem Herzen gequiekt und als wir es töteten und aufschnitten, bestätigte sich die Vermutung. Auch das Quwi hatte ein krankes Herz. Es steht also für Heilung.“
Roca ist mit der Antwort nicht zufrieden, denn Onkel Xocil wurde ja längst von den Göttern heimgeholt. „Papa, warum essen wir es dann eigentlich so oft?“ Mit stolzem Blick betrachtet er seinen Sohn. Wie klug er nur ist!
„Mein Junge, du hast dir die Frage doch schon selbst beantwortet. Die Menschen unseres Volkes verspeisen es so gern, weil es ein wahrlich netter Leckerbissen ist!“
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