„Heimat ist für mich kein Ort sondern eher ein Gefühl. Sie ist oftmals dort, wo meine Familie, meine Freunde und die meisten meiner Bekannten leben. Mein Zuhause lässt sich eher mit einer Empfindung umschreiben: Geborgenheit.
Von 1925 bis 1943 gab es dieses Gefühl nur in einer Stadt an der Oder. Immer wenn ich später Formulare ausfüllen sollte, ermahnten mich gestrenge DDR-Beamte, dass mein Geburtsort Wroclaw hieße. Noch heute muss ich darüber schmunzeln, denn es gibt sicherlich Tausende Menschen, die in Karl-Marx-Stadt und eben nicht Chemnitz zur Welt gekommen sind. „Nein meine Herren. Der Ort meiner Geburt, meiner Kindheitstage und Jugend heißt Breslau!“
Ich wurde 1925 in den Zeiten der Weimarer Republik im Stadtteil Gräbschen im Westen der Stadt geboren. Unser Haus in der Hochstraße gehörte Bäckermeister Hartmann, dessen Backstube sich im Hof befand. Sein Sohn Heinz war in meinem Alter und immer wenn wir uns unten keilten, schaute meine Mutter auf der einen und die Mutter von Heinz auf der anderen Seite zum Fenster hinaus, quasselten und tranken dabei Lorke. „Guck mal, die Jungs hauen sich.“ „Ach, die vertragen sich auch wieder“, riefen sie sich lachend zu.
Bald zogen wir in die Rehdiger Straße ins Hinterhaus. Wir nannten es Gartenhaus, da sich das vornehmer anhörte. Die Menschen in unserer Gegend grüßten sich herzlich und freuten sich darüber, dass sie den Schuster, Schneider und Gastwirt persönlich kannten. Hier wohnten all meine Freunde und die Schule war unweit am Sauerbrunnen.
Es ging uns gut, denn meine Eltern hatten immer eine Arbeit. Während meine Mutter Gretel nachmittags die Breslauer Neuesten Nachrichten austrug, arbeitete mein Vater Bruno als Packer bei Stiebler, dem größten Versandhaus für Lebensmittel im Osten Deutschlands, am Zwingerplatz. Wir hatten genug zu Essen – sogar Eisbein mit Sauerkraut gab es ab und an und zu Weihnachten den verzauberten Karpfen polnisch. Die Küche war dann vom Duft seiner markanten Schwarzbiersoße mit Brühe, Gemüse und Fischpfefferkuchen erfüllt. Wir schmissen zusätzlich Knacker und Weißwürste in den großen Topf mit der Tunke und bis zum heutigen Tag wird dieses Gericht an Heilig Abend als „Schubert-Essen“ aufgetafelt.
Die Küche war das Zentrum unserer Wohnung. Hier traf man sich zum Reden, hier wurden die Klöße geformt, die Schulbrote geschmiert, der Streuselkuchen gegessen, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht und Skat gespielt; kurz – hier fand das Leben statt. Dass unsere Toilette eine Treppe tiefer war und Vater das Klopapier fein säuberlich aus Zeitungspapier in Streifen schnitt, störte uns nicht. Auch, dass die Wäsche in derselben Blechwanne gekocht wurde, in der ich am Sonntag badete, war völlig normal. Wir wohnten nun sogar regelrecht nobel, denn in der Hochstraße hatten wir nicht einmal Elektrizität und mussten noch die Gasmarken für 19 Pfennig das Stück kaufen.
Breslau war mit über 600000 Einwohnern eine der größten Städte des Deutschen Reiches und so war es für mich als Kind, gefühlt, fast eine Weltreise bis zum Ring. Unsere Verkehrsmittel waren das Fahrrad und die Straßenbahn und als ich das erste Mal in einem Automobil mitfahren durfte, wurde mir regelrecht schlecht.
Meine kleine Welt bestand bald nur noch aus Schule und Schwimmtraining bei „Borussia Silesia“. Der Verein befand sich im Zentrum und besonders an langen Sommertagen schlenderten wir danach noch durch den gigantischen Bahnhof, von wo aus Züge nach Berlin und sogar nach Paris fuhren. Wir klauten am Naschmarkt ein paar Äpfel, machten aus Jux vor dem steinernen alten Kaiser Wilhelm einen militärischen Gruß, rannten um die Wette den Ring entlang und endeten oft am Rathaus, da dort immer so viel Trubel war. An heißen Tagen sprangen wir abends unter der Kaiserbrücke noch einmal in die Oder und bestaunten vom Ufer aus das Farbenspiel der versinkenden Sonne über meiner wunderschönen Heimatstadt.
Ich war stets ein braver Junge, der in den Kopfnoten – sogar in Betragen – immer eine Eins mit nach Hause brachte. Nur einmal bekam ich richtig Ärger. Ich saß in der Klasse an einer Doppelbank auf der linken Seite und in den Pausen trafen wir uns oft bei mir und setzten uns auf die Fensterbänke. Eines Tages lehnte ich mich dort mit dem Rücken gegen die Scheibe. Von mir unbemerkt löste sie sich aus dem Rahmen, flog auf die Straße und zerschepperte.
Es gab großes Theater, wer den Schaden übernehmen sollte. Zwei Tage später wollte ich Heinz zeigen, wie das geschehen konnte, denn er hatte meine Panne wegen Krankheit versäumt. Ich setzte mich also ans Fenster, drückte meinen Rücken ganz sachte gegen die Scheibe und sie flog tatsächlich ein zweites Mal in die Tiefe. Ich bekam von Lehrer Sanke ein paar Hiebe mit dem Rohrstock und von meiner Mutter gab es zu Hause eine schallende Backpfeife. Sie ließ mich zwei Wochen nicht ins Freibad fahren. Das war die eigentliche Höchststrafe, nicht nur weil man dort die neuesten Bademoden der Mädels bewundern konnte. Vater sagte lediglich: „Na du bist mir vielleicht ’ne Lerge (Type).“
Pfingsten ’37 fertigte die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft Dänemark in unserem Olympiastadion mit 8:0 ab und begründete damit ihren Ruf als „Breslau-Elf“. Noch Tage später sprachen wir über nichts anderes – auch mit Herrn Sanke. Unser Lehrer war nämlich ansonsten ein feiner Kerl.
Wir waren nicht nur Fußball-, sondern auch große Karl-May-Fans und gaben uns untereinander Indianer- und Cowboynamen. Bruno Sanke schien das so gut zu gefallen, dass auch er uns bald nur noch mit unseren Fantasienamen anredete: „Old Shatterhand nach vorn an die Tafel.“, oder „Winnetou trägt nun als nächster das Gedicht vor.“ Die Schulzeit verging wie im Fluge. Abitur wollte ich gar nicht machen und meine Eltern hätten sich das auch nicht leisten können. Wenngleich meine Mutter allen erzählte, dass „ihr Schubsele“ (Kleiner) früher immer „Arbeitsloser“ als Berufswunsch angegeben hatte, begann ich eine Ausbildung bei der Hydrometer AG als Technischer Zeichner.
Wir stellten dort Wassermesser in allen Größen und Formen her und in den drei Jahren lernte ich den ganzen Betrieb kennen: die Lehrwerkstatt, die Gießerei, die Automatenwerkstatt und schließlich das Konstruktionsbüro. In der Uhrmacherwerkstatt nebenan ließ ich die Uhren unserer kompletten Familie reparieren. Der Meister, ein großer Kerl mit riesigen Pranken, behob den Fehler meist in Windeseile und packte die Uhr dann in eine Schublade. Er erklärte mir, dass ich sie erst morgen abholen könne, da es ja komisch aussehen würde, wenn sie bereits am selben Tag fertig wäre. Er fragte mich immer lächelnd nach meinen Fortschritten in der Ausbildung und ich erklärte ihm jedes Mal voller Stolz, dass es mir vor allem Spaß mache, Entwurfs- und Montagezeichnungen zu fertigen und diese dann wie ein Gemälde mit „Schb“ – für Schubert – abzuzeichnen. Noch heute ist dies mein Kurzzeichen, nur weil bei der Hydrometer AG das Kürzel „Schu“ schon vergeben war.
Im Schwimmbad bandelte ich nun mit den ersten Mädels an und in die „Lichtburg“ ging ich provokativ mit kurzer Hose, um meinen Freunden zu zeigen, dass ich auch in diesem Aufzug in die Filme ab 18 hinein käme. Ich hätte mir keinen schöneren Beruf vorstellen können und mein Leben schien, wie auf dem Reißbrett vorgezeichnet zu sein. Eigentlich war alles ganz simpel.“
…lest hier im zweiten Teil wie mein Opa die Nazizeit und den Einzug zur Wehrmacht erlebte.
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Zum Weiterlesen: Alles ganz simpel
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