1976 Turnen

Pünktlich zu den Olympischen Spielen 2012 in London gibt es mal wieder einen Auszug aus meinem Buch „Alles ganz simpel“. Im ersten Teil berichtet mein Opa vor allem, wie er Olympia 1976 in Montreal erlebt hat.
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Meine persönlich erste Olympiade im Sportverlag erlebte ich am Radiogerät und gewissermaßen auf den Straßen von Berlin. Der Boxer Wolfgang Behrendt hatte 1956 in Melbourne die erste Goldmedaille für die DDR im Bantamgewicht errungen. Als der Volksheld in einer gigantischen Parade auf der Karl-Marx-Allee in Berlin empfangen wurde, winkte ich ihm begeistert zu und hoffte einmal im Leben beim größten Sportereignis der Welt, selbst mit dabei zu sein.
Schon 1960 gingen meine Träume in Erfüllung. In einem großen Tross von DDR-Sportjournalisten, Funktionären (und Aufpassern) fuhren wir mit dem Zug nach Rom und wohnten dort in einem Kloster. Zu elft in einem Raum war das weder luxuriös noch ruhig, da mindestens ein Kollege immer Dienst hatte und wir uns fast 24 Stunden die Klinke in die Hand gaben. Doch das fantastische Rom mit seiner einmaligen Architektur und die Atmosphäre, die herrschte, wenn so viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern aufeinander trafen, entschädigten für den unruhigen Schlaf.
1960 Vierermannschaft mit Schur-Bild

Die Segelwettkämpfe fanden in der Bucht von Neapel statt. Im olympischen Dorf traf ich einen westdeutschen Kollegen, der in Südamerika lebte und von dort aus auch für das Sportecho Artikel schrieb. Da er für einige Verlage im Westen zudem Fahr- und Testberichte über die neusten Automodelle verfasste, hatte er in Rom wieder einen schicken Wagen zur Verfügung gestellt bekommen. Er sprach mich an: „Ich fahre heute runter nach Neapel zum Segeln und will mir dann mal die Stadt anschauen.“ „Können wir mitfahren?“, rief ich sofort. „Na klar. Ich habe genug Platz im Auto!“ Und schon bestieg ich mit unserem Fotografen Herbert Kronfeld die Luxuskarosse.
1960 Fahnenträger-Bild

Dort angekommen, parkten wir etwas oberhalb des Yachthafens. Ich schaute hinab und erkannte sofort jemanden. „Herbert, komm mal schnell her. Dort unten stehen gerade die Olympiasieger in der Drachen-Klasse. Mach doch mal ein paar Fotos!“ Der ließ sich nicht lange bitten, rannte hinunter und sprach die drei Männer an. Ganz professionell ließ er sie auf- und abmarschieren und gab Befehle, in welchem Winkel sie sich vor ihrem Boot „Nirefs“ aufzustellen hatten. Zufrieden kehrte er zurück, zückte sein Notizbuch und sagte: „Horst, sag mir mal schnell noch die Namen.“ Ich antwortete: „Zaimis, Eskidioglou und Kronprinz Konstantin von Griechenland.“ Herbert sah mich geschockt an: „Das ist jetzt nicht dein Ernst? Das hättest du mir doch mal vorher sagen können. Weißt du eigentlich wie ich den angefahren habe, als er sich nicht in die richtige Position stellen wollte.“ Ich musste grinsen. Er hatte soeben den späteren König von Griechenland herumkommandiert.
1960 Golf von Neapel
Es waren genau diese kleinen Begebenheiten am Rande, die für mich die große Faszination Olympia ausmachten. Geschichten, die man nur dann erzählen konnte, wenn man sie selbst erlebt hatte.

Die Kirche hatte im Vorfeld der Spiele übrigens überall Grundstücke und Immobilien in der Innenstadt gekauft, die sie danach gewinnbringend verkaufen konnte. Überall klebten Plakate: „An Gott kommt niemand vorbei.“ Auf vielen stand schon bald darunter: „Doch! Sante Gaiardoni!“ Als Radsportexperte hatte ich seine beiden Olympiasiege im Sprint und 1000 Meter Zeitfahren im Stadion erlebt und begeisterte mich nun für den Humor der Italiener und die Euphorie um ihren Champion. Gegen Ende der Wettkämpfe war an einigen Transparenten sogar das Wort „Gott“ durchgestrichen und durch „Franco“ ersetzt worden. Auch den italienischen Box-Olympiasieger im Schwergewicht Francesco de Piccoli hatte ich bei einem Kampf live bewundern können. Ich ahnte damals nicht, dass Piccoli wieder in der Versenkung verschwinden und der Junge, der im Halbschwergewicht gewonnen hatte, eine ganz große Nummer werden würde. Sein Name: Cassius Clay.

1960 Segeln-Bild

Auch in Montreal 1976 erinnere ich mich komischerweise zuerst an die Segelwettbewerbe, obwohl ich beileibe kein ausgewiesener Experte für diese Sportart war. Die Regatten fanden auf dem Ontariosee, knapp 280 Kilometer vom eigentlichen Austragungsort entfernt statt und da an einem Tag nicht sonderlich viel los war, fuhr ich mit einem Pressebus hinaus. Dort angekommen organisierte eine befreundete Presse-Verantwortliche, dass ich auf einer Yacht eines einheimischen Motorbootbesitzers mitfahren konnte. Zusammen mit einem schwedischen Kollegen schipperten wir also auf den ozeangroßen See. Sofort bot uns der Kapitän ein Bier an, was wir natürlich nicht ablehnen konnten. Als ich meine 6×6 Praktika herausholte, beugte sich der Schwede interessiert zu mir herüber. Wir brauchten diese Kamera, da unsere Druckerei für ganzseitige Farbaufnahmen nur diese Bilder verwenden konnte. Der Journalist aus dem Norden konnte ganz gut Deutsch. „Ist das noch eine von vor dem Krieg?“, fragte er mich plötzlich. Ich sah ihn erstaunt an und reichte ihm das gute DDR-Fabrikat. „Oh, entschuldigen sie bitte“, rief er, nachdem er sie etwas genauer begutachtet hatte. Das Ding sah tatsächlich antiquiert aus und war zudem riesengroß, doch die Qualität schien auch ihn zu überzeugen. Wir prosteten uns zu und genossen den herrlichen Sommertag. Segeln ist ja relativ langweilig, aber auf unserem Boot war es nach etlichen Bieren sehr lustig. Zufällig wurde unser Jochen Schümann an diesem Tag auch noch Olympiasieger in der Finn-Dinghy-Klasse.
1976 Segeln Schümann

Doch das war ja schon fast keine Sondermeldung mehr. 40 Goldmedaillen sollten am Ende für unser kleines Land zu Buche stehen. Journalisten aus anderen Ländern lästerten schon: „Immer wenn ihr euch trefft, freut ihr euch über die vielen Olympiasieger, dabei wisst ihr ja teilweise die Namen am nächsten Tag schon nicht mehr.“ Ehrlicherweise musste ich das sogar zugeben. Wir hatten in Kanada am Ende tatsächlich die USA (34 x Gold) in der Länderwertung hinter uns gelassen. Das schmerzte die stolze Großmacht, die gerade ihren 200. Jahrestag der Unabhängigkeit feierte, sehr. Auch die Sowjetunion (49 x Gold) vermieste ihnen die Feierlichkeiten.
1976 Rudern 1
Nach den vielen Erfolgen, war ich bei den Ruderwettbewerben so heiser, dass ich kaum noch sprechen konnte und eigentlich wollte ich es nur leise zu unserem Fotografen herüberflüstern. Doch plötzlich war die Stimme wieder da und die gesamte Tribüne hörte meinen Schrei: „Schon wieder ’ne Goldene!“ Alle schauten mich an – man, war das peinlich. Daran erinnere ich mich noch. Wer allerdings die Medaille für unsere großartige Sportnation gewonnen hatte, habe ich längst vergessen.

DTSB-Präsident Manfred Ewald erzählte mir später einmal, dass der Schweizer Präsident der Internationalen Ruderförderation zu ihm gesagt habe: „Manfred, so geht das aber nicht. Ihr macht das Rudern kaputt, wenn ihr so viel gewinnt.“ In anderen Ländern würden die Fördermittel gestrichen, wenn sie der DDR immer mit fünf Bootslängen hinterher fahren.
Und ein westdeutscher Kollege erzählte mir folgendes: Als er im Taxi in Montreal gefragt wurde, aus welchem der beiden Deutschlands er eigentlich käme und er etwas genervt mit „Bundesrepublik“ geantwortet hatte, drehte sich der Fahrer um und sagte: „Na, da müssen sie sich aber nicht gleich ärgern!“
„Der wusste wenigstens, dass es zwei deutsche Staaten gibt!“, rief mir der Kollege empört zu, denn in den Stadien dieser Spiele war die DDR-Hymne mittlerweile als die deutsche bekannt. Dennoch musste er schmunzeln und klopfte mir auf die Schultern. Bei Olympiaden war es nämlich so, dass wir Journalisten uns untereinander oft sehr gut verstanden. Da gab es kein Ost oder West, sondern nur Sympathie oder Antipathie – wie im normalen Leben.
1976 Schwimmen 4
Neben unserem sensationellen Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski war die Schwimmerin Kornelia Ender 1976 der große Star im DDR-Team. Sie allein holte vier Goldmedaillen und gewann zwei Finalläufe innerhalb von nur 25 Minuten. Bei den 100 Metern Schmetterling egalisierte sie ihren eigenen Weltrekord und bei den 200 Metern Freistil verbesserte sie ihn sogar. Die weltweite Presse war hinter ihr her, als sich eines Tages eine ältere Dame aus den USA im Pressezentrum meldete. „Wen wollen Sie denn sprechen?“ „Kornelia Ender. Das ist meine Enkelin!“ Kein Mensch, so erfuhr ich später, nicht einmal die „Journalisten aus der Normannenstraße“ (MfS) hatte gewusst, dass Frau Ender Verwandtschaft in Amerika hatte. Und das, wo doch jeder und alles hundertfach vorher überprüft worden war. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde das Treffen dann organisiert – so simpel hätte das alles sein können.
1976 Waldemar
Bei meiner Rückkehr von Olympia erzählte mir mein Sohn Klaus immer, dass er ganz gebannt vor dem Fernseher gesessen und geschaut hatte, ob er mich irgendwo entdeckte. Über Montreal berichtete er zum Beispiel folgendes:
Als die kleine Marija Filatowa gerade ihre Bodenkür vollführte, hatte er anerkennend genickt und einen kräftigen Schluck aus der vorsorglich in Reichweite deponierten Bierflasche genommen. Dann starrte er ungläubig auf seine beiden Kinder – meine Enkel. Der zweijähriger Benny und sein vierjähriger Bruder Marko wirbelten, tanzten und sprangen wie wild auf dem Wohnzimmerteppich herum. Sie haben Purzelbäume geschlagen und versucht an den Wänden einen Kopfstand zu machen. Ausgelöst hatte diese außerplanmäßige „Sportstunde“ eine kleine sowjetische Turnerin und beendet wurde sie von der Mutter, die berechtigte Angst um die große Bodenvase hatte.
1976 Turnen 2

Im zweiten Teil berichtet mein Opa, wie er die Olympischen Spiele 1980 in Lake Placid erlebte.

Im dritten und letzten Teil berichtet mein Opa über seine Erlebnisse bei der Olympiade 1980 in Moskau.

Zum Weiterlesen: Alles ganz simpel