Foto: Sportverlag
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Im Jahr 1953 hatte ich zum ersten Mal das Glück, die Internationale Friedensfahrt als Berichterstatter des Sportechos vom Start bis ins Ziel mitzuverfolgen. Erst zum zweiten Mal war die DDR in das größte Etappenrennen der Welt für Radamateure mit einbezogen worden und diesmal hieß der Streckenverlauf: Prag – Berlin – Warschau. Vom ersten Tag an war es ein einzigartiges Erlebnis gewesen, diesen Tross zu begleiten, doch mit besonderer Spannung sah ich jenem Tag entgegen, an dem wir die Grenze zu Polen überschreiten sollten. Nach nunmehr acht Jahren konnte ich mir endlich ein eigenes Bild von den Verhältnissen in unserem Nachbarland machen und die Stadt besuchen, in der ich einstmals groß geworden war. Natürlich lasen auch wir in den westlichen Gazetten von den schrecklichen Zuständen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und ehrlich gesagt, einigen „Originalberichten“ schenkte sogar ich Glauben.

Sportverlag Berlin
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Am Morgen des 11. Mai überschritt ich also die Neißebrücke, die Görlitz mit dem polnischen Zgorzelec verbindet, und begleitete den Tross in Richtung Wroclaw – meiner ehemaligen Heimatstadt Breslau. Natürlich sah ich einige Ruinen am Straßenrand, beobachtete Menschen, die noch immer damit beschäftigt waren, ihre zerstörten Dörfer und Städte wiederaufzubauen, doch von „Verwahrlosung und unbestellten Äckern in Westpolen“ konnte nun wirklich keine Rede sein. Der erste Eindruck war eher der, dass die polnischen Menschen mit der gleichen Beharrlichkeit wie wir und oftmals in Eigeninitiative versuchten, ein neues Land zu errichten. Bis zum Horizont erstreckten sich goldgelbe Felder und plötzlich tauchte sie auf: die schönste Stadt der Welt.

Privatsammlung Höcker
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Ich habe damals alle Berichte über meine Heimatstadt gelesen. Noch im April 1945 – der Krieg war fast überall schon vorbei – wurde hier geschossen. In der „Festung Breslau“ wurde um jedes Haus und jede Straße ein aussichtsloser Kampf geführt – so hatte es die Partei und SS beschlossen. Gauleiter Hanke ließ hunderte Menschen an die Wand stellen und erschießen, nur weil sie sich gegen die sinnlose Zerstörung wandten und womöglich das Wort „Kapitulation“ in den Mund genommen hatten. General Niehoff, der sein Hauptquartier auf der Sandinsel der Unibibliothek aufgeschlagen hatte, ließ all die wertvollen alten Handschriften, Bücher, Stiche und Landkarten in die unweit gelegene Annenkirche verbringen. Wenige Tage später brannte das von einer Granate getroffene Gebäude lichterloh und über 400000 Bücher und Schriften gingen in Flammen auf. Der vor den Toren der Stadt gelegene Flughafen war da schon von den Sowjets eingenommen worden und Gauleiter Hanke ließ das Gebiet zwischen Kaiserbrücke, dem Scheitnitzer Stern und der Passbrücke in die Luft sprengen und platt walzen, um dort eine neue Landebahn zu errichten. Unzählige historische Gebäude wurden in diesem Wahn vernichtet und von diesem Flugplatz startete eine einzige Maschine: die des braunen „Festungskommandanten“ Hanke, der so aus Breslau floh.

Privatsammlung Tix
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Fast alle Fabriken waren durch die Durchhaltetaktik bis auf die Grundmauern zerstört worden und der Teil der Südstadt, in der sich die Belagerungsfront befand, wurde während der Kämpfe in eine Wüste verwandelt. Die Stadt stand noch immer in Flammen, als die Sowjets die Verwaltung an polnische Behörden übertrugen. Die Zerstörung der Stadt, in der vor dem Krieg noch 630000 Menschen wohnten, betrug 68 Prozent.

Einen ganzen Nachmittag und Abend lief ich wie parallelisiert durch die Straßen und war kaum ansprechbar. Oftmals standen mir Tränen in den Augen, wenn ich nach Gebäuden oder Straßen suchte, die nun einfach nicht mehr existierten.

Doch überall waren auch deutliche Zeichen des Wiederaufbaus zu sehen. Die PAFAWAG-Werke interessierten mich, die ich noch aus der Zeit vor dem Krieg als „Linke & Hoffmann“ kannte. Das Werk für Güterwagons stand mehrere Wochen unter starkem Beschuss und man konnte 1945 sicherlich nicht mehr von einer Fabrik sprechen. Die erste Belegschaft bestand im Juli 1945 aus den historischen „Sieben von der PAFAWAG“. Bei meiner Besichtigung arbeiteten hier schon wieder über Tausend Menschen. Das fast neu errichtete Werk galt als eines der modernsten in Polen, gehörte zu den größten Waggonfabriken Europas und exportierte seine Produkte in die ganze Welt.

Auch für eine Stippvisite meiner alten Wohngegend und der ehemaligen Hydrometer AG, in der ich meine ersten Schritte ins Berufsleben machte, reichte die Zeit.

Privatsammlung Tix
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Auch dieses Werk war bei den Kriegskämpfen fast völlig zerstört worden und die Nazis hatten den Wasserturm, das Kesselhaus und das Gerätewerk gesprengt. Inzwischen war hier eine Wassermesserfabrik praktisch neu entstanden, die wesentlich moderner und zweckmäßiger anmutete. Auch sie war mit ihrem Produktionsvolumen die größte ihrer Art in Europa. Der Aufbau war in Wroclaw im vollen Gange, denn überall gab es neu errichtete Wohnviertel mit Kinos, Kulturstätten und Krankenhäusern. Mit eigenen Augen konnte ich sehen, wie an der Wiederherstellung der alten Kulturdenkmäler, wie dem weltbekannten Rathaus und dem Dom gearbeitet wurde und dass in der Universität des Landes wieder viel Leben herrschte.

Privatsammlung Tix
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Natürlich würde die Stadt nicht wie Phönix aus der Asche steigen, doch die Zahl von 400000 Einwohnern, die hier mittlerweile wieder lebten, bewies nachdrücklich, dass es keine „tote Stadt Breslau“ gab. Reinste Propaganda.
Und da waren ja auch noch die Menschen. Das Kriegsende lag gerade einmal acht Jahre zurück, jeder kannte nun die schrecklichen Geschichten über das Warschauer Ghetto oder Auschwitz, doch mit welcher Herzlichkeit wir hier empfangen wurden, haute mich schlichtweg um. Überall wimmelte es von begeisterten Jungs und Mädchen, die uns umringten und sogar mich – den Journalistenneuling – nach Autogrammen fragten. Ältere ehrwürdige Herren nahmen uns freundschaftlich in die Arme, sprachen immer wieder von den „guten Nachbarn“ und bildschöne Frauen in schicken Kleidern blinzelten uns zu. Das hatte ich nicht erwartet!
Erstmals begriff ich, dass diese Friedensfahrt nicht nur ein überragendes sportliches Ereignis war, sondern dass sie auch zur Verständigung zwischen den beiden Ländern diente und den Blick für das Neue öffnete.

Sportverlag Berlin
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Heute – in einem geeinten Europa – ist es für mich als „Breslauer Lerge“ nur noch ein Katzensprung in die Stadt an der Oder und wenn ich den Ring entlanglaufe, bin ich kein Heimwehtourist. Ich bin sogar regelrecht Stolz, dass dieses wunderschöne Wroclaw mit seinen zahlreichen Brücken nun Venedig Polens genannt wird. Die dortigen Bewohner kann man nur beglückwünschen, denn sie haben eine richtig gute Entscheidung bei der Wahl ihrer Heimat getroffen.

Hier gehts zum zweiten Teil von Breslauer Lerge und hier kann man den ersten Teil lesen.

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