1980 Wessig
Pünktlich zu den Olympischen Spielen 2012 in London gibt es mal wieder einen Auszug aus meinem Buch „Alles ganz simpel“. Im letzten Teil berichtet mein Opa, wie er die Olympiade 1980 in Moskau erlebt hat.
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Dass die Olympischen Sommerspiele von Moskau die erfolgreichsten in der Geschichte der DDR werden würden, stand im Prinzip schon vor den Wettkämpfen fest, da die USA, die Bundesrepublik und viele andere Länder der westlichen Welt, aufgrund des Einmarsches der Sowjets in Afghanistan, tatsächlich nicht an der Olympiade teilnahmen. Die 47 Goldenen und 126 Medaillen insgesamt drückten dennoch aus, dass unser Land endgültig zur zweitgrößten Sportnation der Erde aufgestiegen war.
Wie immer war ich viel beim Schwimmen und Radsport unterwegs, da dies nach wie vor „meine“ Sportarten waren. Auf der Radrennbahn mit ihrem sibirischen Lärchenholz-Belag sah ich so den grandiosen Sieg von Lothar Thoms im 1000 Meter Zeitfahren. Der war als Erster gestartet, fuhr Weltrekord und bei immer schlechter werdenden Bedingungen, da es kälter wurde, kam niemand mehr an seine Fabelzeit heran. Wäre er als Letzter gefahren, hätte er womöglich nur den achten Platz belegt. So nah waren oftmals Sieg und Niederlage beieinander.
1980 Lothar Thoms

Auch unserem Sprinter Lutz Heßlich gelang ein Husarenstück. Im Finale startete er gegen den ausgewiesenen 1000 Meter Zeitfahrspezialisten Yave Carhard. Im Sprint ist es ja oft so, dass sich die Fahrer in den ersten beiden Runden belauern und erst kurz vor Schluss Vollgas geben. Nicht so Heßlich im entscheidenden dritten Lauf. Ausgerechnet gegen den ausdauernden Franzosen zog er den Sprint bereits 600 Meter vor dem Ziel an. Die umliegenden Leute mussten mich festhalten, so aufbrausend war ich, ob seiner Dummheit. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Doch wer wagt gewinnt. Lutz Heßlich schlug Carhard mit seinen eigenen Waffen und wurde Olympiasieger.

Am 1. August saß ich im Moskauer Leninstadion bei den Leichtathletik-Wettbewerben. Allerdings hatten wir in der Innenstadt ein DDR-Pressezentrum eingerichtet, welches immer mit zwei Leuten besetzt sein sollte und ab 17 Uhr hatte ich dort Dienst. Obwohl viele wichtige Entscheidungen anstanden, konnte ich nicht bis zum Schluss bleiben. Auch der Hochsprung-Wettkampf war gerade in die Endphase gegangen und mit Gerd Wessig und Jörg Freimuth aus der DDR und dem Polen Jacek Wszola waren nur noch drei Leute übrig, die alle Höhen gemeistert hatten. Ein Kollege stieß mich an und rief: „Horst, du musst los!“
1980 Moskau

Zeitgleich lief der Marathonlauf in den Straßen von Moskau, doch über den Stadionsprecher hatten wir bisher nur erfahren, dass eine Gruppe in Front läge und dann lange nichts mehr gehört. Ich machte mich also auf den Weg in Richtung Omnibushaltestelle. Gerade als ich am großen Stadiontor war, kam mir der so genannte Führungswagen des Marathonlaufes entgegen und dahinter rannte ein einzelner Läufer. Es war unser Waldemar Cierpinski! Der Mann, der schon den Olympia-Lauf von Montreal gewonnen hatte. Was für eine grandiose Leistung!

Mein Kollege Heinz-Florian Oertel sprach eine Minute später, als Cierpinski über die Ziellinie lief, die berühmten Sätze: „Liebe jungen Väter oder angehende, haben Sie Mut! Nennen Sie die Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar! Waldemar ist da!“
1980 Waldemar
Es war ein magischer Augenblick des DDR-Sports, doch ich stand leicht betröpfelt vor den Toren des riesigen Stadions. Wie üblich gratulierten mir die Journalisten aus den anderen Ländern als ich im Pressezentrum erschien. Zu meinem Kollegen sagte ich euphorisch: „Mensch, das ist ja Wahnsinn mit dem Waldemar!“ Der schaute mich an und rief: „Was heißt hier Waldemar. Der Wessig ist gerade Weltrekord gesprungen!“ Auch die sensationellen 2,36 Meter unseres Hochspringers hatte ich also verpasst, stellte ich ernüchtert fest. Dennoch denke ich gerne an diesen Tag zurück, denn ich war ja irgendwie mit dabei gewesen!

Hier geht’s zum Ersten Teil (Olympia 1960 in Rom und 1976 in Montreal)

Im dritten und letzten Teil berichtet mein Opa über seine Erlebnisse bei der Olympiade 1980 in Moskau.

Zum Weiterlesen: Alles ganz simpel