Brasilien-Kolumbien 241
Ein Nachtbus bringt uns nach Ciudad Bolivar. Bei der Ankunft werden wir vom Busbegleiter unsanft geweckt, nachdem ihn sein Kollege angewiesen hatte: „Die Gringos mal aus dem Bus zu schmeißen“, was sich wohl auf Sylvie, mich und zwei Engländer bezieht. Leicht geschockt vom Zustand des Busbahnhofes und den Menschen, die dort herumlungern, überzeugen wir die Briten sich mit uns ein „Por Puesto“ – eine Art Sammeltaxi – zu teilen, um an die Küste zu gelangen.
Sie wollen direkt weiter nach Kolumbien „because, Venezuela is too dangerous.“ Die Karre ist ein uralter Ami-Schlitten mit riesigem Kofferraum und einer Sitzbank für drei Leute vorn. Sie wird nur noch von Rost zusammen gehalten und von einem Möchtegern-Schumi in halsbrecherischer Art über die Straßen gejagt. Bei unserer Nobelkarosse ist die Kilometeranzeige bei 630000 Meilen stehen geblieben! Dank der Fahrweise brauchen wir für die Strecke, für die der Bus sechs Stunden benötigt hätte, nur vier, inklusive einer Kaffeepause. Der ist mit zwei Dollar genauso teuer, wie eine komplette Tankfüllung. Willkommen im sozialistischen Erdölland!

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Die Jungs von der Insel hatten in der Zwischenzeit beschlossen, sich uns anzuschließen, da sie ganz gerne den karibischen Traumstrand sehen wollten, von dem ich ihnen vorgeschwärmt hatte. Doch in Santa Fe muss sich in den letzten Jahren Schreckliches ereignet haben. Der Ort hat sich in ein Drecksloch verwandelt, mit hässlichen Betonbauten und Posadas, die durchweg schäbig wirken. Der Strand ist voll gepackt mit fetten Venezolanern, die den ganzen Tag Bier und Rum in sich hineinlaufen lassen, ständig am Fressen sind und das Meer mit Plastiktüten zumüllen. Das Schlimmste: alle Häuser sind komplett vergittert und umzäunt. Es wird empfohlen, nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr nach draußen zu gehen.
In einem Land, das als viertgrößter Rohöl-Lieferant der Welt gilt, erwartet man einfach nicht, dass ein Großteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und die Hauptstadt Caracas als zweitgefährlichste Stadt der Welt – nach Bagdad – gilt. Wir bekommen die letzten zwei Zimmer in einer Posada, in der es weder Strom noch Wasser gibt. Dafür rennen unzählige Kakerlaken in den gefängnisartigen Räumen umher. Was machen vor allem Engländer in so einer beschissenen Situation, um nicht völlig zu verzweifeln? Genau. Und wir trinken mit!
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Am nächsten Morgen geht es zum Flughafen, um unsere Freunde abzuholen. Für heute haben wir extra zwei Zimmer woanders vorreserviert. Die sollen dort Elektrizität und eine funktionierende Dusche haben. Endlich angekommen, kaufen wir Inlandtickets für den Tag unserer Abreise. Nach drei Versuchen haben sie meinen Namen mir „Schrllt“ fast richtig geschrieben. Um 12.30 Uhr begrüßen wir unsere Freunde mit einem Schild auf dem „Major, Leutnant y Meisner“ steht. Per Taxi geht es in „unser“ Santa Fe. Nach der Venezuela-Reise vor zehn Jahren hatten wir uns feierlich geschworen, dass wir das unberührte Fischerdorf mit dem Strand unter Palmen unbedingt noch einmal im Leben sehen müssten.

Als wir am schmuddeligen Marktplatz an der ehemaligen Eisfabrik vorbeilaufen, kommen sie mir mit ihren Rollkoffern ein bisschen vor, wie Schweine im Weltall. Matze stellt sich zudem beim Ziehen des Gepäcks durch Schlamm und Dreck ziemlich dämlich an. „Bist du bescheuert oder was?“, frage ich ihn grinsend. Er schubst mich genervt zur Seite, sodass ich fast in den knietiefen Fluss aus Abwasser und Fäkalien falle. Der Bach ist die Trennlinie zwischen Dorf und Touristenbereich.
Verwundert schütteln sie den Kopf, als sie die, von uns gewählte, Posada sehen. Die zweitbeste Unterkunft im Ort ist durch eine hohe Mauer, Stromzaun und Gittern vor den Fenstern gesichert. Der Opa hat unsere Reservierung natürlich vergessen, findet dann aber doch noch zwei Zimmer im Keller seines Ferienparadieses.
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Sofort beginnt die Jammerei, dass das Klo stinken würde, die Dusche (doch) nicht funktioniert und der Ventilator zu laut sei. Einige Geckos kleben an den Wänden, was entweder ein gutes Zeichen ist, da sie die Mücken fressen, oder ein schlechtes, dass es hier viele Stechviecher gibt. Wir müssen sie besänftigen und gehen in die ehemals schönste Bar der Welt. Die steht zumindest immer noch direkt auf dem Strand und hält Mixgetränke und Bier bereit. Leider schwimmen davor auch heute etliche besoffene Einheimische, zusammen mit dem von ihnen verursachten Müll.
Nach ein paar eisgekühlten Polar-Bieren haben sich die Gemüter ein wenig beruhigt. „18“, „20“, „Zwo“, „23“, „24““, rufen wir nacheinander und gehen lachend gemeinsam pinkeln. Dort lernen wir zwei lustige Gesellen aus Chemnitz kennen, die ihre Lebensweisheiten in tiefstem Sächsisch kundtun. Der eine: „Arbeiten ist doch echt Scheiße, das sollen lieber andere für mich machen.“ Der zweite: „Also ehrlich, die Nutten sind in Brasilien viel besser.“ „Echt?“, fragt Göte und die beiden antworten im Chor: „Nuklear!“ (Na klar!). Sie tragen noch immer DDR-Frisuren und Sylvie flüstert mir nicht ganz zu Unrecht ins Ohr: „Mann sind die hässlich.“ Matze murmelt: „Solln se’ mal alle machen.“

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Den Sachsen macht es sichtlich Freude, riesige Taschenkrebse, die in der Dämmerung über den Strand marschieren, mit bloßen Händen zu fangen und auf unseren Tisch zu werfen. Ich schaue mir die grauen Scherentiere mit den schwarzen Kulleraugen eine Weile an und habe eine Idee. Wir könnten ein Wettrennen veranstalten. Jeder von uns wählt ein Tier und darf ein Land benennen, für das es an den Start geht. Sylvie beginnt und nimmt den allerkleinsten Krebs. Er läuft für Brasilien. Udo und Rico wollen unbedingt den Deutschland-Gliederfüßer haben und einigen sich gemeinsam auf ein 15 cm großes Ungeheuer. Da unser Team nun schon weg ist, nehme ich Spanien und die Viecher von Jenna, Matze und Göte starten für Mexiko, die USA und England. Wahrscheinlich versteht meine gepanzerte Riesenkrabbe als einzige den Sinn unseres Spieles und läuft auf der Tischplatte allen davon. Im Finale schlägt sie das „deutsche Monster“ deutlich. „Zählt nicht! Das war ja das letzte EM-Finale“, meckert Göte. Doch auch im WM-Lauf für 2010 und im 2012er EM-Rennen ist der „Spanien-Krebs“ unschlagbar. „Okay, dann also 2014“, brüllt Udo und tunkt seinen Starter ins Cuba Libre Glas. Von Rico euphorisch angefeuert, schlägt ihr Biest Spanien diesmal schon im Halbfinale. Zur Überraschung aller, folgt ihm die brasilianische Minikrabbe in den Endlauf. Mittlerweile stehen auch ein paar Einheimische um unseren Tisch herum und verfolgen das Spektakel amüsiert. Erst im entscheidenden dritten Lauf, gewinnt Deutschland den Titel gegen Brasilien. Auch wenn Sylvie protestiert und eine „Dopingkontrolle“ verlangt, sehe ich nur in glückliche Gesichter, denn niemand hat etwas dagegen, dass unser Land 2014 Fußball-Weltmeister wird.
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Noch am Abend hatten wir Alvaro kennen gelernt. Der freundliche Typ versprach in gutem Englisch: „Everything is possible“, was mich beruhigte, da er sicher etwas für meine anspruchsvollen Kumpels organisieren könnte. Göte hatte per Handschlag auch sofort eine Bootstour für 25 Dollar pro Person in den Nationalpark besiegelt. Der ortsübliche Preis liegt bei 5,- $ pro Nase.
Wie ein Schwein ins Uhrwerk schaut vor allem Matze als er beim Frühstück von einem Sechsjährigen bedient wird. Aber es kommt fast alles, was bestellt wurde. Pünktlich um 10 Uhr legen wir ab. Wir haben den Führer Toni an Bord, etliche eisgekühlte Biere, Fisch zum Grillen und einen zweiten Bootsmann – den niedlichen kleinen Kellner. Da er uns seinen Namen nicht verrät, taufen wir ihn Horst 6. Um Schnorchelzeug zu leihen, müssen wir an einem anderen Ort anlegen. Dort liegt eine Knarre im glasklaren Wasser auf dem Grund. Es ist keine Wasserpistole.
Doch gleich nach den ersten zwei Bieren stoßen wir auf eine Gruppe Delfine, die direkt neben unserem Kutter zu springen beginnt. Besonders Sylvie brüllt unentwegt: „Da!“, „Da!“, „Da!“, wie in einem Trio-Song. Zum ersten Mal, seit sie hier sind, sehe ich auch in den Augen meiner Jungs dieses ganz spezielle Funkeln. Wenngleich wir uns über die Jahre ein wenig voneinander entfernt haben, weiß ich, dass auch sie bis ans Lebensende das Jetzt und Hier genießen können, dass die Neugier niemals sterben wird. Wir sind wieder gemeinsam unterwegs. Für einen Moment gibt es nur uns und die Delfine im glitzernden Meer. Und kein Morgen.
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Wir ankern an der vermeintlich schönsten Schnorchelstelle unseres Trips. Es gibt hier abgebrochene und tote Korallenbänke, einige bunte Fische, die umgeben von Ölkanistern und Plastiktüten, nach Luft schnappen und unsere weißen Bäuche umkreisen. Vor zehn Jahren war das hier das Schönste, was ich jemals unter Wasser gesehen hatte. „Aua, ich bin von einer Qualle gepiekst worden“, ruft Jenna und gibt damit seinen ersten vollständigen Satz des Tages von sich.
Die kleine Insel, auf der wir landen, erinnert nur noch entfernt an einen Karibiktraum, da sie durch gigantische Müllberge entstellt wird. Wie ist bloß dieser ganze Dreck hergekommen? Toni und Horst 6 ignorieren unsere entsetzten Blicke und entzünden den Grill mit Benzin aus einem Kanister. Der Red Snapper schmeckt gut, auch wenn uns hunderte Sandfliegen die Beine zerstechen. Um 13.00 Uhr fragt Matze, ob wir nicht langsam nach Hause fahren können, da er Angst hat, dass das Bier knapp wird. Doch Jenna und Sylvie setzen sich durch und gehen nochmals mit klein Horsti schnorcheln. Das Bier wird knapp! Auf dem Rückweg fahren wir durch extrem Delfin-verseuchtes Wasser und entspannen uns wieder.
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Gegen 22 Uhr sind wir völlig abgefüllt. Matze krakeelt: „Jetzt trinken wir aber mal richtig einen“ und fragt Alf (Alvaro), wo die örtliche Disko ist. Der antwortet emotionslos, dass wir dort, fünf Strassen vom Strand entfernt, wahrscheinlich totgeschlagen werden. Schon ab 20 Uhr hätte man da nichts mehr zu suchen. Wir gehen geplättet in unseren Hochsicherheitstrakt. Endgültig schwöre ich mir, nie wieder an einen Ort zu fahren, mit dem so schöne Erinnerungen verbunden sind.
Vor Götes und Matzes Zimmer laufen der Mexiko- und der Spanienkrebs auf und ab. Wir erkennen sie gut, da das „M“ und „S“, was Udo mit Edding auf ihre Panzer gemalt hatte, noch immer sichtbar ist. Wahrscheinlich suchen sie besorgt ihr Kind, den kleinen Brasilien-Flitzer. Doch sie werden es nicht finden. Die Chemnitzer hatten die Babykrabbe, zusammen mit dem „D“-Krebs, als Erinnerung mitgenommen.
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