Foto: Sportverlag Berlin
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Rechtzeitig bevor die „Tour de France 2012“ endet noch ein Auszug aus meinem Buch „Alles ganz simpel“:
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Ich weiß nicht mehr genau, wer im Stadion in Warschau am Start der Friedensfahrt 1956 meine geheimsten Wünsche aussprach: „Der Schur, das ist der Mann, der die reellste Chance hat, die Friedensfahrt zweimal hintereinander zu gewinnen.“

Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, war der populärste Radrennfahrer in der Geschichte der DDR. Als erster Deutscher gewann er die Straßenrad-WM der Amateure und die Friedensfahrt. Den Gipfel seiner Beliebtheit erreichte Täve, als er als Titelverteidiger und großer Favorit bei der WM 1960 am Sachsenring antrat. Vor heimischem Publikum verzichtete Schur aus taktischen Gründen auf seine Siegchance, um seinen Teamkollegen Bernhard Eckstein zu schützen, der das Rennen schließlich gewann. Unzählige weitere Erfolge, wie die Medaillen bei Olympischen Spiele ließen sich hier aufzählen. In einer nach dem Ende der DDR durchgeführten Umfrage wurde Täve mit fast der Hälfte der Stimmen zum größten DDR-Sportler aller Zeiten gewählt.

Ich hatte den jungen Mann aus Heyrothsberge bei Magdeburg bereits 1953 bei einem Trainingslager in Kienbaum kennen gelernt. Er wirkte auf mich äußerst zuvorkommend und bescheiden. Wenn Täve den Speiseraum betrat, ging er zu den zwanzig Leuten, die dort saßen und sagte jedem freundlich „Guten Tag“. Das war kein Getue, denn bis heute hat sich daran nichts geändert. Zu seinem 80. Geburtstag war ich eingeladen und konnte das mit eigenen Augen beobachten.

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Natürlich las mittlerweile ein ganzes Land hoffnungsfroh unsere Berichte, lauschte am Radio oder verfolgte in Hunderttausender Scharen das Geschehen live an der Rennstrecke. Dennoch musste man abwarten, denn die sowjetischen Fahrer galten als stark, die junge polnische Garde war zu beachten und die erstmals teilnehmenden Italiener waren für viele ein Geheimtipp.
Auf der ersten Etappe „Rund um Warschau“ würde sich zeigen, wer zum Kreise der Favoriten zu rechnen ist. Bis etwa 30 Kilometer vor dem Ziel fuhr das Hauptfeld zusammen. Doch plötzlich bliesen die Italiener zum Sturm. Während alle Augen auf Dino Bruni gerichtet waren, der immerhin den dritten Platz bei der Straßen-WM belegt hatte, trat stattdessen der schwarzhaarige Aurelio Cestari an und ehe man richtig erkannt hatte, was geschah, heftete sich Bruni an dessen Hinterrad. Schnell vergrößerten die Azzurri ihren Vorsprung. Nur ein Quartett machte sich auf die Verfolgung. Darin fuhr ein weiterer Italiener. Auch das schien Teil eines Plans zu sein. Die Ausreißer vereinigten sich zu einer Sechsergruppe und rasten dem Ziel entgegen.

Da vor allem Cestari auf den letzten Kilometern fast ununterbrochen die Führungsarbeit übernahm, opferte er sich damit für den Tagessieger Bruni. Dass er jedoch noch so viel Kraft besaß, um Zweiter zu werden, hatten wir nicht vorhergesehen. Während die Zuschauer begeistert den Sieger feierten, gab es unter den so genannten Experten die einhellige Meinung: Bruni wird diese Friedensfahrt gewinnen. Die wirklichen Fachleute hatten etwas anderes in ihre Blöcke notiert. Stärkster Mann der Italiener: Aurelio Cestari.

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Lodz war das Ziel der zweiten Etappe. Auf den ersten Kilometern wurde gebummelt bis sich schließlich eine siebenköpfige Spitzengruppe bildete – ohne ein blaues Trikot der Italiener und ohne das gelbe des Führenden Bruni. Täve Schur und fünf Begleiter spurteten hinterher und erst jetzt wachten die Italiener auf. Bruni war zu diesem Zeitpunkt durch einen Reifenschaden bereits zurückgefallen, doch der starke Cestari setzte beherzt den Ausreißern nach. Bis kurz vor dem Ziel im Stadion von Lodz war die Spitzengruppe auf etwa 50 Fahrer angewachsen und Täve Schur gewann die Etappe in großer Manier.

Jetzt geschah das Kuriose. Cestari war von den Zielrichtern in der ersten Gruppe der 50 Fahrer glatt übersehen worden. Damals war es noch sehr schwierig mit bloßem Auge und ohne Zeitlupen der Kameras, die Startnummern der Fahrer zu erkennen.
So ging die Meldung über Rundfunk und Telefon in die verschiedenen Länder Europas, dass Täve Schur nicht nur souverän die Etappe gewonnen hatte, sondern nun auch Träger des gelben Trikots wäre. Diese Nachricht wurde von allen Zeitungen, die vor 20 Uhr Redaktionsschluss hatten, auch genauso veröffentlicht. Zwar hatten viele unserem Täve das „Gelbe“ vorausgesagt, doch auf den offiziellen Ergebnislisten erschien am Abend ein anderer Name: Aurelio Cestari!

Cestari verlor auf dem dritten Tagesabschnitt das Trikot, holte es sich aber postwendend auf dem 4. Teilstück zurück. Vor dem Ruhetag auf dem Weg in die DDR hatte er 1:30 Minuten Vorsprung auf Täve, der hinter zwei Sowjets und Dino Bruni den fünften Platz der Gesamtwertung einnahm.

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Am 7. Mai brach die Karawane in Polen zur 5. Etappe auf. 190 Kilometer standen auf der Tagesordnung, die Ausläufer des Riesengebirges wurden passiert, bevor die Fahrer die DDR erreichten. Keine leichte Etappe also, doch besonders Täve Schur schien beflügelt zu sein, da es ja nun in die von Menschenmassen gesäumten Straßen der Heimat ging. Dass er sich etwas Besonderes vorgenommen hatte, lag förmlich in der Luft.
Schon nach 10 Kilometern Fahrt bildete sich eine Fluchtgruppe. 26 Fahrer machten sich auf und davon und als sie merkten, dass sich im Hauptfeld nichts rührte, legten sie noch einen Zacken zu. Nach 80 km betrug ihr Vorsprung schon über 5 Minuten und nach 120 km fast 9 Minuten. Plötzlich ging ein Ruck durch das Feld und vor allem die Azzurri um Cestari traten jetzt an. Es gelang ihnen eine 15-köpfige Verfolgergruppe auf die Beine zu stellen, doch Aurelio Cestari hatte an diesem Tag das Rennfahrerglück verlassen. Durch einen Reifenschaden fiel er weit zurück und erreichte abgeschlagen das Etappenziel im Görlitzer Stadion der Freundschaft.
Lange vor dem schwarzlockigen Italiener hatte ein blonder Bursche aus der Magdeburger Börde in einem einmaligen Endspurt sein Rad über die Ziellinie geworfen: unser Täve Schur. Wie er in der Zielkurve plötzlich angetreten war und den starken polnischen Sprinter Wiesniewski im Finish niederrang, hatte man lange nicht gesehen.

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Der Lohn für sein Können war das Trikot des Spitzenreiters. In „Gelb“ ging es also nach Berlin. „Täve soll sich lieber noch ein bisschen zurückhalten“, rief uns einer der Trainer zu, als wir nach 20 Kilometern eine 30-köpfige Spitzengruppe an uns vorbei rollen sahen. Auch wir Journalisten hielten das für eine gute Taktik, doch nach 50 Kilometern dachten wir anders, als wir sahen, wie Täve – zerschunden und zerschrammt – aus einem Haufen verbeulter Rennmaschinen hervor kroch. Das Resultat eines bösen Massensturzes. Da drei andere DDR-Fahrer ganz vorne mitfuhren, begleitete sie der Materialwagen an der Spitze und erst als die Westdeutschen Täve eine neue Maschine reichten, konnte dieser weiterfahren. Doch bis dahin war viel wertvolle Zeit vergangen. Am Tag zuvor hatte solches Pech den Italiener Cestari zurückgeworfen – nun war es umgekehrt. Cestari kam als fünfter ins Walter-Ulbricht-Stadion und schob sich damit gerade einmal auf den 20. Platz der Gesamtwertung vor. Täve lag nach der Beendigung der Etappe mit knapp 15 Minuten Rückstand auf dem 22. Platz. Was für eine Tragödie in Berlin.

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Ich war mit Täve Schur zu diesem Zeitpunkt schon befreundet. Bei einer anderen Friedensfahrt hatte ich ihn nach einem ähnlich schweren Sturz am Abend in seinem Hotelzimmer besucht. Natürlich wollte ich ihn zu seinem Pech befragen und ihm gleichzeitig von der großen Anteilnahme der Zuschauer berichten. Ich klopfte an seine Tür und er rief: „Komm rein Horst.“ Ich entdeckte ihn in dem kleinen Raum nebenan. Täve stand in der Badewanne und schrubbte mit einer harten Wurzelbürste über seinen von Schürfwunden und Hautfetzen bedeckten Körper um ihn zu reinigen. Mich schmerzte es allein schon vom Zusehen. ‚Wenn das keine Härte ist!’, dachte ich damals.

Bezüglich der Renntragik spielte die 7. Etappe von Berlin nach Leipzig keine Rolle, denn erst am darauf folgenden Tag ging die Pechsträhne einer der beiden Protagonisten weiter. Elf Fahrer hatten sich gleich zu Beginn formiert und schon nach 28 Kilometern 2 Minuten Vorsprung herausgefahren. In Halle bildeten sich erste Grüppchen, die sich auf die Verfolgung der Spitzenreiter machten. Unter ihnen wieder einmal Aurelio Cestari. Nur ihm und unserem Lothar Meister gelang es, in die Führungsgruppe aufzuschließen. Dann kam der erste „große Klassiker“ der diesjährigen Friedensfahrt: die steile Wand von Meerane. Dieser 340 Meter lange „Pickel“ inmitten der Textilstadt mit einer durchschnittlichen Steigung von über 12 % ist bei Radsportlern gefürchtet. Nun würde sich also zeigen, was die Bergspezialisten so draufhaben. Ich hatte schon einige Male oben an der „Wand“ gestanden, doch niemals zuvor sah ich eines der Asse derart mühelos diesen Berg nehmen, wie den Italiener Cestari.

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Mit der Kilometerzahl 131 war die „steile Wand“ auf unserem Etappenplan gekennzeichnet und auch Cestari musste wissen, dass es nun noch 59 Kilometer bis nach Karl-Marx-Stadt waren. Mit dem Mut der Verzweiflung trat er in die Pedalen und kurbelte ganz allein dem Ziel entgegen. Schnell gelang es ihm zwei Minuten Vorsprung herauszufahren und kurz vor dem Ziel jubelten ihm die Menschen zu, sodass er sicher schon glaubte, seinen ersten Etappensieg in der Tasche zu haben. Knapp 100 Meter vor der Einfahrt ins Ernst-Thälmann-Stadion preschten die Verfolger heran: der Pole Krolak und der Schwede Amell. Vollkommen entnervt musste der tragische Held die beiden an sich vorbeiziehen lassen.
Ruhetag! Doch schon ging es weiter mit dem Spektakel. 141 Kilometer galt es bis nach Karlovy Vary zu bewältigen und wieder einmal sorgte der Italiener für Wirbel. Die Etappe schien ihm auf den Leib geschnitten zu sein, denn in Schneeberg erspurtete er die Bergwertung vor Dumitrescu und unserem Täve, bei dem es auch wieder besser zu rollen schien. Knapp 35 km vor dem Ziel trauten wir unseren Augen nicht. Cestari hatte sich aus der 11köpfigen Spitzengruppe gelöst und strebte wieder in einer Alleinfahrt dem Ziel entgegen…

…Lesen Sie im zweiten Teil wie die Friedensfahrt 1956 ausging und über das tragische Ende einen großen Radsportlers.

Cover Alles ganz Simpel-klein

Zum Weiterlesen: „Alles ganz simpel“
Mark Scheppert & Horst Schubert
ISBN-13: 978-3842380462