IMG_3895
Seine Sicht:
Ruhig können wir es nicht angehen lassen, denn wir befinden uns noch immer rund 800 Kilometer von Sydney entfernt. Ich muss durchgehend fahren, da Nina gestern zu tief in die Weinpappe geschaut hat. Inzwischen bin ich ein brillanter Linksfahrer und kratze mit den Vorderreifen nur noch selten am Mittelstreifen. Das lange Fahren macht mir heute auch nichts aus. Dennoch biege ich an einigen Ecken auf gut Glück von der Hauptstraße ab, um Verschnaufpausen einzulegen. Überall entdecken wir einsame, zauberhafte Strände, aber wir müssen ja weiter – immer weiter.
In Crescent Head haben wir das Tagesziel erreicht. Angeblich soll es die Longboarder-Hochburg Australiens sein, doch ich sehe eher junge Typen mit kurzen Brettern. Sie sind auf Ehrfurcht gebietenden Wellen, die so hoch sind, dass sie dahinter regelrecht verschwinden, unfassbar elegant unterwegs. Meine Euphorie wurde gestern ein wenig gedämpft, sodass ich keine Lust verspüre, hinauszupaddeln, zumal sie am Kiosk keine Anfängerpappen verleihen. Eingehakt wie ein altes Ehepaar, gehen wir am zerklüfteten Strand spazieren. Nina erklärt mir, dass sie in drei Tagen nicht mit zurückkommen wird, doch ich nehme das Gerede mittlerweile nicht mehr ernst. Okay, auch ich würde gerne mehr Zeit an Australiens Küsten verbringen, aber unser Rückflugtermin steht ja fest. Sie sollte langsam mal aufhören, immer so herumzuspinnen.
Auf Ninas Wunsch gehen wir fein essen. Sie lädt mich sogar ein. Allerdings werden die Pizzas im Restaurant auf Papptellern serviert. Wir müssen sie sogar abholen und an den grünen Plastiktisch tragen. Zumindest scheint es meiner Freundin danach besser zu gehen, denn sie grinst endlich mal wieder und sagt mit vollem Mund: „Ich meine es ernst, dass ich noch bleiben werde!“ Ich nicke wissend und denke: ‚Blödsinn, wir fliegen gemeinsam zurück, ziehen in der Heimat zusammen und heiraten irgendwann.’ Bei unseren Nachbarn erklingt in der Nacht lauschige Gitarrenmusik. Jemand singt mit schmachtender Stimme „My girl“ von Nirvana. Neben mir liegt eine leicht röchelnde Nina. Ich spüre sehr intensiv, was ich an ihr habe, und mag ihre unrhythmischen Schlafgeräusche mittlerweile sehr. Vorsichtig decke ich sie zu, da sie sich mal wieder freigestrampelt hat, und kuschele mich an „mein Mädchen“.
IMG_3808
Nina hält mich zwar für bescheuert, aber letztendlich hat sie nichts dagegen, dass ich den „Billabong Koala and Wildlife Park“ in der Nähe von Port Macquarie ansteuere. Ich möchte überprüfen, ob wir alle bedeutenden Viecher Australiens auch wirklich in natura gesehen haben. Haben wir! Doch die Emus, Kängurus und Koalas können wir dort auch anfassen, streicheln und knuddeln. Die Anlage gefällt sogar Nina. Im Terrarienhaus steht sie allerdings kurz vor einem Herzinfarkt, als eine riesige Würgeschlange vor ihren Augen zu Boden kracht. Die dicken Scheiben sind so gründlich geputzt, dass sie denkt, das längliche Monster sei direkt vor ihre kleinen Füße geplumpst. Ich lache, bis mir Tränen über die Wangen laufen.
Da uns die Sonne ins Gesicht scheint, fahren wir nochmals von der Hauptroute ab. Diamond Head wird somit das dritte „Head“ in Folge. Es liegt inmitten eines dichten Waldes in der Nähe eines felsigen Strandes. Das Besondere: Der Stellplatz befindet sich auf einer Lichtung und wird von Känguruherden regelrecht belagert. Aber im Gegensatz zu den vorherigen Begegnungen mit dieser Art hüpfen sie nicht ängstlich davon, wenn man sich nähert. Sie grasen in aller Seelenruhe vor den Zelten, neben den Autos oder im Wald. Eine fürsorgliche Mutter, bei der das Kleine mit schief gelegtem Kopf und vier Pfoten aus dem Beutel lugt, steht am Strand und schaut andächtig in die Ferne. Ein Anblick, den man mit Worten kaum beschreiben kann.
In der Abenddämmerung wandern wir an der Küste entlang und sammeln Holz. Das Lagerfeuer zündelt direkt neben dem Einweggrill – beobachtet von drei neugierigen Hoppelviechern. Ein unvergessliches „Abendbrot mit Kängurus“ und ein magischer Augenblick unserer Beziehung! Unter einem Abschieds-Sternschnuppen-Himmel entkorken wir eine teure Flasche Rotwein und lassen die abenteuerliche, intensive Tour noch einmal Revue passieren. Fast gleichzeitig stellen wir fest, dass wir als Freunde gestartet sind und als Liebespaar zurückkehren werden.

In der Nacht „vögeln wir uns“ – um mit ihren Worten zu sprechen – „die Seele aus dem Leib“. Auch das Eukalyptuskondom kommt dabei zum Einsatz. Wahrscheinlich stehen deshalb am Morgen noch mehr Kängurus vor unserem Camper. Sie wollen wissen, wer in der Nacht diese tierischen Geräusche von sich gegeben hat und wer so penetrant nach Koala müffelt. Wir lachen, wie in guten alten Zeiten.
.
.
.
Ihre Sicht:

Die heutige Fahrt ist insofern entspannter, als ich mit meinem Schädel nicht fahren muss. Auf Straßen, die – wie auf dem Reißbrett entworfen – immer stur geradeaus führen, bringt uns Micha näher an Sydney heran. Wir tuckern durch einsame Wälder, gemütliche Orte und halten an verlassenen Strandabschnitten. Crescent Head hat er zum Übernachten auserkoren. Im Reiseführer steht, dass dies der perfekte Ort sei, um ein Buch zu schreiben. Vielleicht komme ich eines Tages zurück und verarbeite meine Eindrücke dieser Reise. Allerdings würde ich als Schriftstellerin nicht unbedingt diesen Zeltplatz wählen, denn ich fühle mich dort eher eingeengt. Der von Felsen umgebene Strand ist jedoch sehr schön. Wir laufen ein paar hundert Meter am Ufer entlang und ich hake mich bei ihm ein, da mir noch immer etwas schummrig ist. Meine Bemerkungen, dass ich noch länger in Australien bleiben werde, tut er als „Quatsch mit Soße“ ab und versucht mir stattdessen seine Zwei-Zimmer-Bude in Deutschland schmackhaft zu machen. ‚Dort wohne ich deutlich luxuriöser und mehr Platz hätte ich auch’, denke ich, aber das Beziehungsthema ist bei mir eh längst durch.
Da es wahrscheinlich unsere letzten gemeinsamen Tage sind, lade ich ihn ins örtliche Lokal ein. Nicht ganz uneigennützig, denn so bekomme ich endlich mal wieder eine Salami-Pizza. Und sie schmeckt vorzüglich. Zurück am Camper, habe ich keinerlei Drang, mir die Reste des Rotweins hereinzuquälen, sondern verabschiede mich frühzeitig. Als ich ihn umarme, spüre ich, dass sich das nicht mehr nach Liebe anfühlt. Er bleibt noch wach und lauscht der sanft dahinperlenden Gitarrenmusik von nebenan. Was für eine romantische Stimmung – schade eigentlich!
IMG_3897
Der Kerl ist irgendwie süß. Wir sind tausende Kilometer durch atemberaubende Landschaften gefahren, haben fast alle bekannten Spezies des Landes live bewundern können und wohin schleppt er mich? Richtig, in einen Zoo! Im „Billabong-Center“ kann ich somit Fotos von Tieren machen, auf denen es so aussieht, als ob wir sie im Busch getroffen und gefüttert hätten.
Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass mich eine klitzekleine Spinnenphobie plagt? Auch diese Fieslinge kann man dort betrachten, innerlich erschaudern und darüber nachdenken, ob ein Rückflug in sichere Gefilde nicht doch vernünftiger wäre. Plötzlich fällt neben mir etwas Großes zu Boden. Da ich mich fürchterlich erschrecke, kapiere ich zunächst nicht, dass die schuppige Schlange, welche nun direkt vor mir liegt, sich noch immer hinter einer Scheibe befindet. Panisch schreie ich los. Micha kommt sofort angehetzt und amüsiert sich köstlich.
Wesentlich sympathischer sind mir demnach all die Viecher, welche im Streichelzoo gehalten werden. Dort habe ich dann auch noch Grund zur Schadenfreude, da ein nervtötendes Kind vom platzierten Schlag eines Kängurus fast k. o. geboxt wird. Zum Glück hat es nicht den scharfkantig behelmten Kasuar geärgert, welchen wir – wie die friedlich brummenden Koalas – nochmals ablichten können.
Micha möchte die Australienreise in Diamond Head ausklingen lassen. Keine schlechte Idee, denn als ich auf den Wiesenparkplatz rolle, raste ich vor ekstatischer Freude fast aus. Überall grasen rotbraune Kängurus, als wären es träge Kühe in Mecklenburg. Sie scheinen sich so an Fahrzeuge gewöhnt zu haben, dass ich aufpassen muss, keines unabsichtlich zu überfahren. Sofort zücke ich die Kamera und halte das ungewöhnlich harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier in Bildern fest. Am Strand guckt mich sogar ein „Joey Kangaroo“, wie der Nachwuchs in Australien genannt wird, aus dem Beutel seiner Mutter blinzelnd an. Zuckersüß!
IMG_3872
Beim Essen am Lagerfeuer bin ich dann doch ein wenig traurig, dass wir hier wohl zum letzten Mal ein gemeinsames – von ihm so genanntes – „Abendbrot mit Kängurus“ erleben werden. Als Micha mit leuchtenden Kinderaugen dann auch noch davon anfängt, wie verrückt unsere Reise gewesen ist und die einzelnen Orte und Begebenheiten herunterrasselt, kullert mir sogar ein Tränchen übers Gesicht, das ich mir unauffällig mit dem Ärmel wegwische. Er hat ja Recht: Wir sind als Freunde gestartet und sind zwischendrin ein Liebespaar geworden. Doch wir werden uns wieder freundschaftlich voneinander verabschieden müssen. Nein, ich traue mich nicht, ihm die bittere Wahrheit ins Gesicht zu sagen, denn der heutige Abend ist ein fantastischer Abschluss unserer wilden Zeit in Australien. Er küsst mich mit spröden – nach Rotwein schmeckenden – Lippen. Sachte kraule ich in seinem struppigen Haar und schaue ihn wie einen Geliebten an, den man bald zum allerletzten Mal sieht.

Was für eine Nacht! Er braucht aber nicht zu glauben, dass uns hemmungsloser Sex zusammenhält und ich Geilheit mit Liebe verwechsele. Ich habe ein sauschlechtes Gewissen, als er mich am Morgen treudoof anlächelt. Dennoch muss ich grinsen, da der wilde Hengst noch immer nach angelutschtem Eukalyptusbonbon riecht und sich beim Vögeln einen Nerv eingeklemmt hat. Er humpelt wie ein lahmer Gaul, während die müde Stute auf wackeligen Beinen neben ihm steht. Scheiße, wenn er mich jetzt festhalten und nie wieder loslassen würde, könnte ich für nichts garantieren.
.
Zum Weiterlesen: Koalaland – Roman
.
.