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Die allererste Fußball-WM auf deutschem Boden! Es hätte ein großes Ereignis für mich werden können. Aber nein! Zum einen fand das Turnier auf der falschen Seite der Mauer statt, zum anderen war ich gerade erst drei Jahre alt. Mein Vater und Onkel Wolfgang hatten sich beim Frühschoppen so dermaßen einen eingeholfen, dass sie beim Finale 1974 schnarchend auf unserem Wohnzimmerteppich lagen und ich mit Mutter das Spiel allein anschaute. Die BRD wurde Weltmeister und ich – viele Jahre später – Fan dieser Mannschaft.
Meine zweite Fußball-WM auf deutschem Boden! Es hätte ein großes Ereignis für mich werden können. Aber nein!

„Alles Scheiße“ schreibt Jenna. Er berichtet in einer E-Mail, dass in den Straßen Berlins, tausende Touristen herumlungern und schon Stunden vor Spielbeginn unsere Stammkneipen blockieren. Wie eine Radioübertragung hätte er das Eröffnungsspiel verfolgt, eingekesselt von nervigen „Fans“ hinter einer fetten Säule. Er hätte kein einziges Tor auf der Leinwand live gesehen. Trotzdem, zwischen den Zeilen lese ich, dass in der Hauptstadt – bei Bombenwetter – gehörig die Post abgeht. Ich habe sogar ein Bild vor Augen: Vollbusige schwedische und brasilianische Fans tanzen halbnackt in der Simon-Dach-Straße mit meinen Freunden auf den Tischen. Auch in Argentinien sehen wir doch, dass Deutschland mit der ganzen Welt eine ausgelassene Party feiert. Ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer auf diesen Meilen. Ich muss mir ständig verwundert die Augen reiben und bin erstmals regelrecht stolz, aus einem Land zu kommen, das so sympathisch herüberkommt. „Alles Scheiße“ sieht komplett anders aus!
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Gleich am ersten Tag entdecken wir die Kneipenmeile von Salta. An vielen Pubs hängen große Tafeln: „Fußball mit Livemusik.“ Wie gerne hätte ich das Spiel gegen Costa Rica hier (statt in Bolivien), eingekesselt von hunderten Leuten, hinter einer fetten Säule mit dem, hier angepriesenen, Eimer voller Bier verfolgt. Da wir heute einen alkoholfreien Tag einlegen, macht mich allein der Gedanke daran durstig.

Das erste Spiel der Argentinier hatten wir in San Salvador de Jujuy gesehen. Die Stadt hielt den Atem an und es herrschte eine gespenstische Stille. Nur wir rannten kurz vor 15 Uhr wie die Bekloppten durch die Innenstadt, um in die empfohlene Kneipe zu gelangen. Es gab dort zwar eine Leinwand, aber wir waren umgeben von circa zwanzig Familien, die das Spiel trocken analysierten. Zur richtigen Zeit am falschen Ort. Schon zum zweiten Mal brüllten Sylvie und ich am lautesten herum – vom Reporter im Fernsehen einmal abgesehen. Sein „Gooool de Argentina!“ dehnte er auf gefühlte fünf Minuten. Wahnsinn!
Die Einheimischen schüttelten über das irre deutsche Pärchen nur die Köpfe und nach dem knappen 2:1 gegen die Elfenbeinküste gingen alle brav nach Hause. Keine Straßenparty, kein Autokorso, gar nichts in Downtown. Nur zwei angeheiterte Deutsche, die durch die Straßen taumelten und „Olé, olé“ brüllten.
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Auf dem Weg ins Hostal kommen wir an einem Schuppen vorbei, aus dem krachige Livemusik schallt. Obwohl wir einen ruhigen Abend geplant hatten, müssen wir dort hinein. Punkrock ist unsere gemeinsame Musik. Nach einem „Lag Wagon“ Konzert in Mannheim hatte ich „my brown eyed girl“ das erste Mal hemmungslos geküsst.
Die hiesige Band kann geradeso drei Akkorde spielen, der Sound ist räudig, die Texte kaum zu verstehen und außer uns hängen hier nur 16-jährige herum. Wir stellen uns vor die Bühne und wackeln mit dem Hintern. Der Sänger und einige Zuschauer tragen Tote Hosen T-Shirts und plötzlich verstehen wir auch warum. Sie beginnen, Songs der Düsseldorfer zu covern. „Los Pantalones Muertes“ (Die Toten Hosen), brüllt der Frontmann ins Mikro und gibt plötzlich richtig Gas. Das scheint das Codewort gewesen zu sein, denn auf der Tanzfläche gibt es nun kein Halten mehr. Wir wissen natürlich längst, dass Punk in Argentinien schwer angesagt ist, aber, dass die Leute hier derart krass ausflippen, ist uns neu. Sie brüllen und pogen, wie ich es selten erlebt habe und wir stehen mittendrin. Die Refrains ertönen aus heiseren Kehlen und klingen in dem kleinen Saal, wie ein wütender Schrei.
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Nach drei Liedern spüre ich, dass ich langsam zu alt für so einen Scheiß werde. Mein T-Shirt ist klitschnass und an den Schienenbeinen spüre ich schon jetzt die blauen Flecken von morgen. Keuchend laufe ich zur Bar, um uns dann doch mal ein Bier zu besorgen. Der Tresentyp schaut mich an, als ob ich ihn verarschen will und zeigt auf Cola, 7up und Wasser. Kurz überlege ich, was ich falsch gemacht habe, oder ob ich gar „zu jung“ aussehe. Gleichzeitig schaue ich mich im Raum etwas genauer um. Das Ambiente entspricht eigentlich eher dem einer Schuldisko. Junge Mädchen und die Streber sitzen eingeschüchtert in der Ecke auf Holzstühlen. Nur die ultracoolen Jungs mit Irokesen-Schnitten und zerrissenen Jeans duellieren sich vor der Bühne, strecken die Fäuste in die Luft und brüllen die Texte mit. Im Klo werden mir endgültig die Augen geöffnet. Fünf Kids stehen am Waschbecken und lassen lachend eine Flasche Hochprozentigen kreisen. Das ist eine Schuldisko! Dankend lehne ich die mir gereichte Pulle ab und bringe Sylvie eine Cola. „Bist du bescheuert oder was? War doch nur ein Scherz mit dem alkfreien Tag!“ Ich lächele sie an und weiß wieder einmal, dass sie genau die Richtige ist.
Die letzte Zugabe. Ich kann eigentlich nicht mehr, doch Sylvie stürmt bereits nach vorn. Sie spielen das Lied der Lieder. Wir hatten es in den letzten Wochen hunderte Male gehört. Es hatte uns regelrecht verfolgt und dennoch konnten wir nicht genug davon bekommen. Quilmes, Argentiniens bekannteste Biermarke, hatte als Sponsor der „Selección“ einen außergewöhnlichen WM-Werbespot gedreht. Das Video zeigt mit welcher Hingabe und Leidenschaft die Argies den Fußball zelebrieren, wie sehr sie an große Erfolge anknüpfen wollen und den Titel herbeisehnen.
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Das Besondere: die Bilder von jubelnden Fans und Ausschnitten wichtiger Spiele sind mit einem Punksong von „Attaque 77“ unterlegt. Ein ganzes Land berauscht sich seit Tagen an „No me arrepiento de este amor“. Was für ein geiler Werbespot für ein Bier. Durst! Laut schreiend springe ich in den Pulk der tobenden Massen. Links neben mir, versucht sich Sylvie auf den Beinen zu halten. Ich höre es nur Krachen und sehe, wie ein Ellenbogen von meiner Nase zurückfedert. Voll gepumpt mit Adrenalin verspüre ich keinerlei Schmerz. Doch ein Typ zieht mich von der Tanzfläche und deutet mit sorgenvoller Miene auf mein Gesicht. Nun sehe ich es auch. In weinroten Fontänen kommt mir das Blut aus der Nase geschossen. Mein Shirt, die Hose und sogar meine Schuhe sind schon eingesaut. Vor dem Spiegel im Klo kann ich nicht erkennen, ob etwas gebrochen ist, denn mein Zinken ist bereits auf Kartoffelgröße angeschwollen. Ich reinige mein verschmiertes Gesicht und stopfe mir Papierfetzen in die Löcher. Draußen wartet die besorgte Sylvie. Erst auf dem Heimweg erfahre ich, dass auch sie sich den Knöchel verstaucht hatte. Wie ein gerade überfallenes Rentnerehepaar stolpern wir durch die einsamen Straßen. Es gibt jetzt keine geöffneten Tank- und Spätverkaufstellen mehr. Kein kühlendes Quilmes-Bier. Ich lege ihren Arm auf meine Schulter, um sie ein wenig zu stützen. Sie lächelt mich dankbar an und tupft meine Nase sauber. ‚No me arrepiento de este amor’, denke ich gerührt und flüstere ihr die Übersetzung ins Ohr: „Ich bereue diese Liebe nicht!“
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„Alles Scheiße“, brülle ich am nächsten Nachmittag. Nein, meine Nase scheint nicht gebrochen zu sein. Wir sitzen am hektischen Busbahnhof und starren auf einen verrauschten Bildschirm mit schlechten Farben. Es läuft das Spiel Brasilien gegen Kroatien. Es ist kein schönes Spiel und der amtierende Weltmeister zeigt nicht gerade Samba-Fußball. Doch das Match findet in Berlin statt. Es wäre mir egal, ob tausende Menschen vor mir stehen oder fette Säulen mir die Sicht versperren würden. Zum allerersten Mal auf dieser Reise wäre ich jetzt gerne zusammen mit Freunden in den Straßen meiner feiernden Heimatstadt. Scheiß Auswärtsspiel! Betröpfelt gehe ich zu einem schäbigen Kiosk und kaufe Fahrtbiere. Viele!

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Zum Weiterlesen: 90 Minuten Südamerika
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