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Bei der letzten Geschichte, die gestern – am Donnerstag den 22.07.2010- bei „Spiegel Online“ veröffentlicht wurde, hatte ich ein bißchen das Gefühl, dass sie ein wenig so gekürzt wurde, dass nicht ganz klar wird, was ich eigentlich ausdrücken möchte. Deshalb hier nochmals die vollständige Story aus meinem DDR-Buch „Mauergewinner oder ein Wessi des Osten“:

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Anfang August 1971 standen eine hübsche Frau aus Sachsen und ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt glücklich vor der Notversorgungsanlage im Volkspolizei-Krankenhaus in Berlin-Mitte und schauten auf ein komisch gefärbtes Kind. Eine Woche musste ich dort als das „blaue Baby“ im Sauerstoffzelt liegen, weil ich mir die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte. In meinem Ausweis steht als Geburtsort Berlin, trotzdem bin ich ein sächsisch-anhaltinischer Berlin-Mischling. Pfui!

Im Kindergarten, spätestens jedoch in den ersten Jahren der Schulzeit lernten wir Kinder Eines: Berliner sind die Allergrößten und besonders Sachsen sind das genaue Gegenteil. Bereits mit sieben Jahren lagen wir vor Lachen im Dreck, als wir erfuhren, dass „Nuklear“ auf Sächsisch „Na klar“ heißt. Die durfte man einfach nicht ernst nehmen. Komisch sprechende Menschen aus Bayern und Schwaben waren durch den Mauerbau in Vergessenheit geraten. In der DDR war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Sachsen in Berlin nicht besonders willkommen waren – und umgekehrt. Punkt.
Das Hauptziel des Hasses war Dresden. Ein Berliner Spruch zeugt von der besonderen Wertschätzung der Stadt an der Elbe: „Wie kommt man am schnellsten von Berlin nach Dresden? Da steckst du einfach den Finger in den Arsch und dresden (drehst ihn).“
Über diverse Informanten und Kanäle hatte mein Vater erfahren, dass Dresden der einzige Ort zwischen Rügen und Fichtelgebirge war, wo es noch den neuen RFT-Farbfernseher gab und selbst dort nur nach vorheriger telefonischer Anmeldung. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, einen Tag frei zu bekommen. Unsere Mutter wusste jedenfalls nichts von seiner geplanten Fahrt. Eine Überraschung bahnte sich an.
Begriffe wie „Vitamin B“ für gute Beziehungen oder „Bückware“ für Dinge, die es nur unter dem Ladentisch gab, gingen in den offiziellen Sprachgebrauch unseres Landes ein. Die Freundschaften zu Automechanikern, Fliesenlegern oder Fleischwaren-Fachverkäufern waren wichtiger als die zu gut bezahlten Staatsdienern, Polizisten oder NVA-Offizieren. Ohne Verbindungen konnte man sich von seinem Geld wenig Vernünftiges kaufen oder besorgen lassen.
Trabi

Ich hatte natürlich gesagt, dass ich mitkomme. Mit 13 lernte ich endlich die schlechteste Autobahn der DDR kennen. Die holprige Fahrt nach Dresden war kein Zuckerschlecken. 100 Km/h waren bei dem Zustand der Straße eigentlich kaum möglich und kurz hinter Berlin versuchte ich verzweifelt, einen Westsender im kleinen Radio des Trabis herein zu bekommen. Ich drehte und drehte an dem kleinen Knopf, es gelang mir nicht.
So redeten Vater und ich den Rest der Fahrt ohne Musik über die völlig neuen Möglichkeiten, die sich uns erschließen würden, wenn wir erst mal das Farbfernsehgerät im Wohnzimmer aufgebaut hätten.
Es gäbe die Sportschau mit grünem Rasen und wir könnten endlich die Mannschaften richtig unterscheiden. Blaues Wasser bei der Schwimm-WM mit Kristin Otto, kein grauer Schnee bei der Vierschanzentournee mit Weißflog, Nykänen, Züchner und Co., bunte Westprodukte in den Werbepausen und wir würden endlich die Farbe von Colt Sievers’ Auto erfahren. Bei alten Schwarz-Weiß-Filmen würden wir wegschalten. Als wir nach Dresden hinein fuhren, wunderte ich mich, wie grau und farblos die Stadt wirkte. Fast könnte man sagen: schwarz-weiß. Wir kurvten kreuz und quer durch die Straßen. Natürlich hatten wir keinen Stadtplan und so hielt Vater an jeder zweiten Kreuzung, wo ich die Einheimischen nach dem Weg fragen sollte. Leider verstand ich kein Wort in dieser komischen Sprache und wir folgten einfach den Armbewegungen.

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Als wir dann endlich den Laden in einem schäbigen Hinterhof gefunden hatten, sollte ich im Auto warten, denn Vater wollte die Verhandlungen alleine führen. Ich malte mir aus, wie er unsere Datsche, den Trabi oder sonst was verpfändete, um diesen wertvollen Farbfernseh-Apparat zu bekommen. Sicher war zumindest, dass er eine hohe Summe schwarz zahlen würde, da ich sonst ja hätte mitkommen dürfen. Keine Zeugen!
Nach einer halben Stunde winkte er mich aufgeregt hinein. Eine riesige Kiste stand auf dem Verkaufstresen – und mein Vater lächelte mich an. Dass ich mir keinen Leistenbruch zuzog, ist ein Wunder, denn das Ding wog ungefähr eine Tonne. In der DDR war es oft so: Was viel wog, war sehr teuer, stand aber auch für Qualität. Insgeheim hoffte ich für den Familienfrieden, dass Vater wirklich nur die 4.500 Mark geblecht hatte, die er nannte. Die Verpackung mussten wir wegwerfen, da das Monster sonst nicht auf die Rückbank gepasst hätte. Wir klatschten uns ab und fuhren los. Keine Zeit für eine Stadtbesichtigung oder sonstigen Quatsch. Ab nach Hause ins farbenfrohe Berlin!
Auf der Rückfahrt waren wir beide sehr glücklich. Vater in der Vorfreude des ersten Bieres vor der luxuriösen Röhre und ich bei der Vorstellung, welche Augen Mutter und Benny machen würden. Ich ahnte bereits, dass Mutter über die große Geldausgabe alles andere als erfreut sein würde und mein Bruderherz ganz nervös und vor Glück aufgeregt grinsend um die neue bunte Flimmerkiste herumschleichen würde.

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Mein zweiter Ausflug in die Stadt des berühmten Weihnachtsstollens verlief anfangs ganz ähnlich. Mein Vater rief von Arbeit zu Hause an: „Mark, hast Du heute Lust, mit nach Dresden zu kommen? Ich hab noch eine Karte für das Spiel.“ – „Nuklear!“, brüllte ich in den Hörer. Ja, hatte ich! Am Nachmittag saß ich mit Vater und drei seiner Kollegen in einem Wartburg; die Straßen waren unverändert schlecht und das Radio spielte keine Westhits. Ich saß hinten in der Mitte und der Typ neben mir stank widerlich aus dem Mund. Der andere trank ein Bier nach dem anderen und wir mussten seinetwegen drei Mal zum Pinkeln halten.
Aber immerhin ging es zum Halbfinale des UEFA-Cups zwischen Dynamo Dresden und dem VFB Stuttgart – das war es allemal wert! Ich war jetzt 17 und auf der Karte stand: Stehplatz Erwachsene 15,10 M.
Natürlich hatte Vater die Karten über „Vitamin B“ bekommen und die echten Dresdner Fans, für die keine mehr im Vorverkauf übrig waren, hassten uns. Bereits 50 Kilometer vor der Stadt leuchteten die ersten schwarz-gelben Farben. Viele Leute ließen ihre Schals aus dem Auto flattern und fieberten wie ich dem Spiel gegen Jürgen Klinsmann und Co. entgegen.
Für die Dresdner ging es dabei um viel. Sie vertraten den Osten gegen den Westen, DDR gegen BRD und gleichzeitig inoffiziell die immerwährende Schlacht der Sachsen gegen den Stasiverein aus der Hauptstadt. Hier wurde vor aller Augen und den ARD-Kameras ein Exempel statuiert, das zeigen sollte, dass Dynamo Dresden nicht nur die beste Mannschaft der DDR war, sondern auch das Team mit den fanatischsten Fans der ganzen Republik.

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Als wir um 17.30 Uhr vor dem Stadion ankamen, wunderten wir uns noch, weshalb hier so wenig los war, doch als wir die Gänge ins Innere betraten, sahen wir, dass die Ränge bereits randvoll gefüllt waren. Wie in fast allen Meisterschaftsspielen auch, waren die Dynamos bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das heutige Spiel sollte um 20 Uhr beginnen und schon jetzt, zweieinhalb Stunden vorher, waren 36.000 heißblütige Sachsen im Stadion! Ohne meinen starken Vater und seine Kollegen hätte ich hier im Dresdner Fanblock wirklich Angst gehabt, dass sie mich als Berliner enttarnten, das gäbe richtig Ärger! Natürlich behielten wir unsere Tarnung und kamen sogar mit einigen der äußerst freundlichen Jungs ins Gespräch.
Um 19 Uhr begann ein Vorprogramm, wie ich es noch nie im DDR-Fußball erlebt hatte. Die Leute erhoben sich, als der Stadionsprecher mit dem Glücksschwein „Eschi“ ins Stadion einfuhr. Unter Jubel wurde ein Tandemrennen ehemaliger DDR-Sportler angekündigt. Plötzlich fuhren Jens Weisflog, Olaf Ludwig und Kristin Otto an uns vorbei – natürlich in Begleitung zweier lauter Dixielandgruppen mit schrillen gelben Hemden unter schwarzen Anzügen. Altbekannte Größen des DDR-Fußballs brachten große Blumensträuße für die möglichen Dresdner Torschützen und spielten danach Fußball-Tennis hinter den Toren. Ich konnte gar nicht glauben, was hier abging, und als der Stadionsprecher das Sachsenlied ankündigte, verstanden wir unser eigenes Wort nicht mehr. Aus fast 36.000 jetzt schon heiseren Kehlen erklang das berühmte: „Sing, mein Sachse, sing“. Die beiden Mannschaften versanken beim Einlaufen im schwarz-gelben Fahnenmeer. Ich erkannte Jürgen Klinsmann, der gerade in diesem Moment in unseren Block schaute und genau mich anlächelte. Im April 1989 jubelte ihm in Dresden noch niemand zu.

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Neben mir brüllten die Fans aufgeregt unverständliches sächsisches Zeug. Zum ersten Mal verstand ich, was mit einem „Hexenkessel“ gemeint war. Ich stand in unserem Block D mittendrin. „Obseids!“ (Abseits) verstand ich, als Guido Buchwald den Ball ins Aus schlug. Der Schiri schüttelte den Kopf und ich brüllte zusammen mit Tausenden Anderen „Nuklear, Obseids!“ ins Stadionrund. Das Spiel war aufregend, es ging hin und her. Am Ende bedeutete das 1-1 jedoch, dass Dynamo Dresden ausgeschieden war und der VfB Stuttgart im Finale gegen Diego Maradonas SSC Neapel antreten durfte.
An den Ausgängen zwängten sich die enttäuschten Massen durch ein viel zu schmales, rostiges Eisentor. Vater schob mich vor sich her, doch ich bekam immer weniger Luft. Zu groß war der Druck der Menschenmenge, so groß, dass ich immer mehr zusammengequetscht wurde. Ich dachte plötzlich an die vielen vor kurzem zu Tode gedrückten Menschen beim Fußballspiel in Sheffield. Ich hatte jetzt keine Kontrolle mehr, wohin ich trieb, die Menge schob mich hierhin und dorthin. Jeder versuchte jetzt nur noch, auf den Beinen zu bleiben, wer hier stürzte, war sicher tot. Ich wurde irgendwann an eine hohe Mauer gedrückt und konnte mich keinen Millimeter mehr bewegen. Mit weit aufgerissenen Augen schaute ich zu meinen Vater. Später erzählte er mir, dass mein Gesicht schon blau angelaufen war. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, doch auf einmal brüllte er etwas nach oben, über mich hinweg. Ich konnte den Kopf nicht drehen und wusste nicht, was dort los war. Plötzlich packte eine Hand von oberhalb der Mauer meinen Arm und zog mich aus den immer stärker nachdrückenden Massen hinauf.
Erst vor dem Stadiontor traf ich, geschockt und noch immer schwer atmend, meinen besorgten Vater wieder. Glücklich nahmen wir uns zum erstem Mal in unserem Leben in die Arme und fuhren schweigend auf der holprigen Autobahn durch die Nacht. Das Halbfinale des UEFA-Cups war mein bisher bestes Fußball-Erlebnis in der DDR gewesen und am Ende hatte sogar noch ein Dresdner dem ehemals blauen Berliner Baby das Leben gerettet!

Vater Mutte ich

Zeitgleich mit dem Fall der Mauer haben sich all diese Dinge komplett verändert. Von einem Tag auf den anderen gab es keine „Bückware“ mehr. Was das gesamtdeutsche Herz begehrte, stand plötzlich in den Warenhäusern und Supermärkten und später auch günstig und gebraucht im Internet. Auch riesengroße, preiswerte Farbfernseher.
Dynamo Dresden hat zwar nach wie vor sehr treue Anhänger, ist aber nie zu einer Fußballmacht aufgestiegen, die die Bundesliga regiert. Heute dümpeln sie in der 3. Liga herum und stehen wegen finanzieller Probleme des Öfteren vor dem Kollaps. Doch beide Dinge bewegen mich nicht sonderlich, da ich immer eine gut funktionierende Flimmerkiste besaß und nur noch selten, an die Schwarz-Gelb gekleideten Fans erinnert werde.
Eine Sache finde ich außerdem bemerkenswert. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung haben sich ein paar Dinge im Kopf der Menschen verschoben und teilweise sogar grundlegend geändert. Für den gemeinen Ostberliner, aber auch für den Ursprungs-Sachsen, gebürtigen Erfurter oder Schweriner gibt es einen völlig neuen Gegner: den Wessi. Kein Unterschied, ob Kölner, Bayer oder Schwabe – der Westdeutsche ist der große Feind. Punkt.
Plötzlich halten sie zusammen, die Schachtscheißer aus Zwickau und Fischköppe aus Rostock, die Thüringer und Brandenburger. Die Marzahner und Friedrichshainer. Ganz Ostdeutschland ist eine einzige solidarische Region; ein Land, in dem die Menschen zusammenrücken, ihre Ängste teilen, sich gegen die Übermacht von Drüben wehren und in ihrer gemeinsamen Vergangenheit schwelgen. Es ist vor allem die Generation meiner Eltern, die in ihrer „Superillu“ oder im MDR-Fernsehen über das Leben der ehemaligen Oststars informiert werden will. Bei allen Leuten aus Politik, Funk und Fernsehen mit entsprechendem Hintergrund vermelden sie eilig und stolz: „Der ist aber aus dem Osten.“

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Ich kann da verständlicherweise nicht mitmachen. Ich habe seit vielen Jahren eine Freundin aus Westdeutschland und lese nicht gerne Berichte über die Pudhys, Herbert Köfer, Axel Schulz oder Ulf Kirsten. Für mich gibt es eigentlich kein Ost und West und mit Erstaunen habe ich einmal festgestellt, dass ich in allen 17 Bundesländern Freunde oder Bekannte habe. Auch habe ich heute überhaupt kein Problem mehr mit Leuten aus Sachsen und deren Sprache. Mittlerweile mag ich die Menschen aus Dresden, Leipzig, Aue und Zwickau sogar sehr und falls mich mal jemand von denen fragt, ob ich auch schon mal in Karl-Marx-Stadt, als Chemnitz noch so hieß, war, kann ich stolz und wahrheitsgemäß antworten: „Nuklear!“

Hier gehts zur gekürzten Spiegel-Online-Version

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