OLYMPUS DIGITAL CAMERAWir sind die einzig wahren Kinder aus Zone Ost. Die Generation unserer Eltern kannte noch den Ku’damm, wohin sie heimlich mit der U-Bahn ins Kino gefahren waren. Sie hatten einen kurzen Blick in den Westen erhaschen können, einen kleinen Vergleich gehabt. Wir nicht. Sie haben uns in eine von ihnen erschaffene DDR hineingeboren, und wir mussten nun staunend zuhören, wenn sie aufgeregt ihre abenteuerlichen Geschichten vom Bahnhof Zoo zum Besten gaben. Wir marschierten an einer von ihnen erbauten Mauer vorbei und drückten uns nicht an riesigen Schaufensterscheiben die Nase platt.

Im Alter von sieben Jahren malte ich Bilder, welche die Überschriften „Waffenbrüderschaft“ und „Ich will Kosmonaut werden“ und nicht „Urlaub in Spanien“ oder „Meine Katze Ricky“ trugen. Vom ersten Schultag an wurden wir bombardiert mit Phrasen zur Überlegenheit des Kommunismus, mit Parolen, wie lieb wir unseren großen Bruder und Befreier haben müssten und wie glücklich wir uns schätzen konnten, in der sowjetisch besetzten Zone geboren worden zu sein.

Ständig wollte man uns auch weismachen, dass wir Weltmarktführer sind. In vielen industriellen Bereichen lagen wir angeblich sogar unter den ersten sieben Nationen der Erde. Bei uns war alles viel besser als im Westen. Unsere Eltern und Lehrer logen uns buchstäblich das Blaue vom eigentlich friedlichen Himmel herunter. Oder glaubten sie gar an diesen Mist?

Die Ablösung des Rechenschiebers

Ein besonderes Kennzeichen der DDR war ihre Fortschrittlichkeit auf wissenschaftlich-technischem Gebiet. Schon ab 1986 durften wir den Rechenschieber gegen einen hochmodernen Taschenrechner eintauschen. Wer keine Westverwandtschaft hatte, die einen West-Rechner schickte, musste sich einen SR1 der Firma Robotron aus Sömmerda zulegen. Schlappe 123 Mark kostete der, immerhin ein Achtel des monatlichen Durchschnittseinkommens in der DDR (und das war der subventionierte Preis mit Bezugschein!).

Die einzelnen Ziffernfelder waren fast so groß wie die Tasten einer Schreibmaschine, wodurch der Rechner eine stattliche Länge, Breite und Dicke bekam. Man konnte ihn als Lineal benutzen oder damit jemanden totschlagen. Bei vielen Mitschülern, solchen mit Kontakten nach Drüben, passte der ultraleichte, streichholzschachtelgroße Taschenrechner von Casio in die Federtasche.
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Ähnlich war es mit Uhren. Die brauchten wir zwar nicht zwingend im Unterricht, aber so eine schicke Quarzuhr machte schon was her. Wieder hatten wir im Land der Erneuerer und Meister von morgen ein Spitzenprodukt. Eine klobige Quarzuhr von Ruhla gab es für rund 185 Mark. Die aber sah aus, als wäre sie aus einem Stück gefräst worden. Made in GDR. Wahrscheinlich lagen solche Dinger bereits damals im Technikmuseum von West-Berlin. Denn im Westen trug man ganz kleine, leichte Quarzuhren aus schwarzem Kunststoff mit Stoppuhr, Licht und weiteren sechs Zusatzfunktionen – munkelte man.

Aus dem sozialistischen Arbeitsalltag

Mit 13 kamen mein Kumpel Stefan und ich auf die Idee, zum Spaß Leute zu interviewen. Der schwarze Anett-Recorder und das Mikrofon machten erstaunlich gute Aufnahmen, auch wenn wir unzählige dicke Batterien brauchten und dann nur zwei Stunden Aufnahmezeit hatten. Nach der Schule zogen wir los und befragten wildfremde Menschen auf der Straße. Wir logen ihnen natürlich vor, dass dies im Auftrag der Schule geschehe. Leider konnten wir uns das Lachen oft nicht verkneifen, sodass die Geschichte meist aufflog. Aber niemand nahm uns das wirklich krumm. Die fertigen Interviews spielten wir unseren Freunden vor.

Doch bald stellten wir fest, dass uns keine richtigen Fragen einfielen. „Wo haben Sie das Wochenende verbracht?“, „Wie war ihr letzter Urlaub?“ und „Welche Musik hören Sie gern?“ Das interessierte uns eigentlich nicht wirklich. Stefan hatte deshalb die Idee, in Betriebe und Läden zu gehen, mit der Bitte, dass uns die Menschen von ihrem sozialistischen Arbeitsalltag berichteten. Dies führte uns bald in diverse Kaufhallen, Geschäfte, ins Sportforum, ins Sport- und Erholungszentrum (SEZ) und ins Hotel Berolina. Wir waren die rasenden Reporter von Friedrichshain, die bald merkten, dass sie in bestimmten Geschäften auch etwas abgreifen konnten. Beim Fleischer eine Knacker oder eine warme Bulette, im SEZ eine kostenlose Stunde auf der Eisbahn oder im Wellenbad, und beim Bäcker gab’s eine belegte Schrippe mit Hackepeter oder Tatar.
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Der Bäckermeister an der Leninallee führte uns in seinem Laden herum, zeigte uns die Öfen und erzählte einiges aus seinem trüben und vor allem sehr früh beginnenden Arbeitsleben. Als er: „Jungs, jetzt muss ick aber mal nach die Schrippen kieken“, sagte und im Nebenraum verschwand, waren wir plötzlich allein in der Backstube und sahen diese wunderschöne Quarzuhr auf dem Regal liegen. Ich nickte und schon schnappte Stefan das Ding und wir rannten gemeinsam aus der Tür, die Straße hinunter, bis wir in den Volkspark Friedrichshain eintauchen konnten.

So etwas hatten wir noch nie gesehen

In Stefans Wohnung am Leninplatz schauten wir uns die schwarze Uhr, die aus hartem Gummi zu bestehen schien, mindestens eine Stunde lang ganz genau an und probierten alle Funktionen mehrere Male aus. Es musste ein wahnsinnig wertvolles westdeutsches Stück sein, denn sie hatte nicht nur Licht, Stoppuhr, Datum und Wecker, sondern auch einen kleinen Taschenrechner mit Miniaturtasten auf dem Gehäuse. So etwas hatten wir noch nie gesehen.

Bald kam die Frage auf, wer von uns beiden die Uhr behalten dürfte. Doch es entstand komischerweise kein Streit. Beide wussten wir, dass wir dieses auffällige Teil niemals tragen konnten, nicht in der Schule, nicht vor den Kumpels und nicht mal zu Hause heimlich auf dem Klo. Wenn dieser dreiste Diebstahl herauskäme, könnten wir uns eine richtige „Pfeife anzünden“, das gäbe ein Jahr Stubenarrest – Minimum.

Wir hatten also drei Möglichkeiten. Wir konnten die Uhr verkaufen, sie wieder zurückbringen oder sie einfach wegschmeißen. Wir waren junge, neugierige 13-jährige Jungs – stolze und vorbildliche Thälmannpioniere – da war es doch völlig klar, was wir machten. Diese Uhr hatte 1984 vielleicht einen Wert von umgerechnet 700 DDR-Mark!

Technischer Informationsvorsprung

Stefan holte zwei Hämmer aus dem Werkzeugkasten seines Vaters, und wir droschen so lange auf die Uhr ein, bis sie in kleinen Einzelteilen vor uns lag. Mit Streichhölzern kokelten wir das Gummi ab. Als wir den Trümmerhaufen zusammenkehrten und in den Müllschlucker warfen, mussten wir lachen. Wir hatten jetzt wieder einmal einen technischen Informationsvorsprung gegenüber unseren Mitschülern, doch sie würden von uns nie erfahren, wie eine westdeutsche Quarzuhr von innen aussah!

Im Jahre 2009 konnte ich Stefan schon über das Internet ausfindig machen – trotzdem habe ich ihn – wie viele andere wichtige Protagonisten meines früheren Lebens – seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen. Wenn ich sie träfe, würden wir sicherlich recht schnell gemeinsam überlegen, ob es heute noch viele Plätze, Straßen und Dinge gibt, die uns augenblicklich in unsere ostdeutsche Vergangenheit beamen. Orte, an denen wir kurz stehen bleiben und denken würden: „Mensch, das sieht ja noch aus wie früher!“ oder „Was, das gibt es immer noch?“, „Ist ja wie im Osten!“
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Wahrscheinlich werden es immer wenigere Flecken in Berlin und der ehemaligen Republik, die uns in Gedanken unvermittelt 20 Jahre zurückreisen lassen. Liegen denn noch Taschenrechner, Uhren oder Küchengeräte aus der DDR in unseren Wohnungen?

Wie es wirklich war

Bei mir ist das nicht der Fall. Ich habe diese Dinge innerhalb weniger Jahre – ohne dass es mir bewusst war – vollständig entsorgt. Nur noch im Museum kann ich komische Gegenstände aus unserem vormaligen Alltagsleben mit einem ungläubigen Schmunzeln betrachten.

Es war eine große Geschichte, als ein Architekt im November 2008 eine seit 1988 unberührte Wohnung in Leipzig entdeckte. Komplett eingerichtet – ohne ein einziges Westprodukt. Da war es dann plötzlich wieder spannend, wie diese Ostdeutschen gehaust hatten.

Aber solche Stellen meine ich nicht. Und eigentlich müssen wir uns auch gar keine Mühe mehr geben beim Aufspüren von bestimmten Orten, Produkten, Gerüche, ungewöhnlichen Stoffen, Redensarten oder Ereignisse, die uns an den Arbeiter- und Bauernstaat erinnern: Denn wir haben einen Informationsvorsprung gegenüber unseren Mitmenschen aus dem Westen. Die werden doch nie erfahren, wie das Leben in der DDR wirklich war!
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