WP_20140704_042Ich verreise noch immer gerne mit Freunden. Allerdings werde ich langsam so alt, dass mir die Pärchen-Urlaube mit Sylvie beinahe besser gefallen, da ich mich dann nicht auf die Macken Anderer einstellen oder Kompromisse eingehen muss. Oft sind wir auf diesen Touren „ein Kopf und ein Arsch“, will sagen: wir könnten Reisen auch allein organisieren und wüssten jederzeit, dass die Pläne im Sinne des Partners wären. Mittlerweile schenken wir uns nichts mehr zu Weihnachten, da Konzertkarten, Bücher oder CDs sonst gleich doppelt auf dem Gabentisch lägen.
Die diesjährige Truppe ist halbwegs „mackefrei“ und mit den Südamerika-Neulingen verstehe ich mich blendend. Heute nervt jedoch der lange Entscheidungsfindungs-Prozess, um eine popelige Halbtagestour ins Parnaiba-Delta zu buchen. Sylvie nimmt auf jede noch so kleine Befindlichkeit Rücksicht, während ich sofort feststelle, dass die vier Tour-Operator, welche hier Tür an Tür ihre überambitionierten Event-Büros am Porto das Barcas haben, schlichtweg denselben Trip zum Einheitspreis anbieten. „Ich mach das jetzt mal“, rufe ich und knalle meine Kreditkarte auf den Tresen. „Cinco pessoa por favor.“
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Das kann Danny gar nicht ab und auch Sylvie fühlt sich leicht übergangen. Doch wenigstens sie kann ich überzeugen, dass wir auch in zwei Stunden nichts anderes gebucht hätten – nur um Jahre gealtert wären. Erleichtert flirte ich mit der Dame, bezahle für 5 Personen und pünktlich um 13 Uhr werden wir abgeholt.
Am Minihafen von Porto dos Tatus, der das Einfallstor zum Delta zu sein scheint, schmeißt uns der Fahrer wieder raus. Gerade werden handtellergroße Caranguejos behelfsmäßig in Bündeln zusammengebunden und lebend per Moped in die Stadt zum lustigen „Krebse-Klopf-Klopf“ transportiert.
Schon oft hatte ich erlebt, dass ich sich Guides in Brasilien lustige Namen geben, so auch der heutige. Mit „Sokrates“ sind wir nach fünf Minuten auf einer Wellenlänge, denn seine Tour-Vorbereitung besteht darin, eine Kühlbox mit Eis zu befüllen und uns danach in einen Shop in Richtung der Bierregale zu leiten. Erst als die letzte (von 30) Brahma-Dosen verstaut ist, kann es losgehen.
Die stahlendweiße „Iguana“ ist ein komfortables Boot mit ausfaltbarem Sonnendach und nun auch mit eingebautem Kühlschrank. Schon nach zwei Minuten sehen wir kein Gebäude mehr und befinden uns inmitten des Mangrovenwaldes.
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Hinter mir zischt eine Bierdose. Vögel erheben sich kreischend, während tausende Krebse hektisch schlammige Hügel erklimmen. Unser Tour-Philosoph spricht vorzügliches Portospanenglisch, sodass wir uns alle Informationen zusammenreimen können. Die 85 Inseln des Deltas liegen verstreut über eine Fläche von 2700 Quadratkilometern und der Rio Parnaíba teilt sich zum Schluss in fünf Arme, deren Wasser in den Ozean münden. Es ist eine der vielleicht schönsten Naturstrukturen des Planeten. Wir schippern durch ein furioses Labyrinth von Nebenarmen und Inseln. Auf dem Festland wäre die Vielfalt nur mit Neuseeland zu vergleichen, denn alle fünf Minuten ändert sich die Landschaft dramatisch. Wir passieren große Flüsse, Naturkanäle und breite Lagunen, sehen gigantische Dünen und Strände mit schneeweißem Sand – und das alles eingebettet in den grünen Mangroven-Dschungel.
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Alle fotografieren hektisch träge Kaimane, Leguane, Schlangen, Kapuzineräffchen und schlammige Krebse in einem Wirrwarr von luftigen Stelzwurzel. Etliche Störche, Kormorane und Reiher gleiten vorbei. Nur der immense Frischreichtum bleibt uns verborgen. Sokrates klaut zumindest aus einem Netz ein paar Garnelen und Austern, die er in die entstandenen Löcher der Kühlbox packt. Bei einem kalten „Cerveja Lata“ erzählt er zudem Geschichten von Gespenstern, sprechenden Fischen und alten Fischern, die nie mehr von ihrer Ausfahrt aufs Meer zurückkehrten, bevor er uns an einem matschigen Strand aussteigen lässt. Eine Stunde sollen wir uns dort die Beine vertreten. Eklige Würmer und riesige Schaben krabbeln diese sofort empor und ein Geschwader von Monster-Mücken durchschwirrt die stehende Luft.
Es werden die vielleicht schönsten (zwei) Stunden meiner bisherigen Brasilienreisen, denn nachdem wir uns durch den knietiefen Modder gekämpft haben, erwartet uns eine Landschaft, die mir den Atem verschlägt. Rechts und links erstreckt sich noch immer der tiefgrüne Dschungel, doch davor ragen gigantische Carnaúba-Palmen vor blassgrüner Buschsteppe in den Himmel. Kurz dahinter liegen bizarre Dünen und Wüstenformationen, welche ultratürkisfarbene Süßwasserlagunen in ihren Tälern beherbergen. Und als wäre das nicht schon Naturspektakel genug, erstrahlt in der Ferne ein violett-blauer Atlantik hinter feinsandigen Traumstränden. Wir sind die einzigen Menschen und fühlen uns wie die Einzigen auf dem Planeten. Es ist hier unfassbar still und zum Weinen schön. Alle laufen weit voneinander entfernt durch das Wunderland. Erni winkt aus der Ferne, doch erst als ich bei ihm bin, sehe ich, dass er eine Meeresschildkröte entdeckt hat, die einmal mehr die Unberührtheit dieses Fleckens Erde repräsentiert.
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Nachdem uns Sokrates am Boot eigenhändig die schlammigen Füße gewaschen hat, serviert er vorzügliche Austern mit Limettensaft zum Sonnenuntergangsbier. Was für ein Ausflug! Ohne Rücksicht auf das Verpassen irgendwelcher Achtelfinals buchen wir einen weiteren Trip bei ihm. Er hatte uns die ganze Zeit von roten, weissagenden Vögeln vorgeschwärmt. Die wollen wir morgen sehen!
Auch der zweite Ausflug startet in der gleichen Konstellation: wir haben Bier, sehen Traum-Urwald-Strände-Dünen im unberührten Mangrovengürtel mit einem Typen, den man unterbrochen dafür herzen könnte. In der Abenddämmerung ankern wir vor einer fast kreisrunden Insel. Hier sollen Guarás (rote Ibisse), die nur im nördlichen Südamerika und in Trinidad vorkommen, ihr Nachtquartier aufschlagen. Ich weiß, dass Guarra (mit einem „r“ mehr“) auf Spanisch „Schlampe“ heißt, doch weder Vögel noch die Damen tauchen auf. An Bord gibt es jedoch Getränke, gute Laune und einen Geschichtenerzähler. Sokrates erklärt, dass wir uns die Anzahl, der im Formationsflug ankommenden Sichler genau merken sollen, da diese Kinder- und Enkelzahlen, Lotto- und Fußballergebnisse, oder zu verbleibende Lebensjahre vorhersagen könnten. Wir einigen uns auf das Ballspiel und fast auf ein 0:0, da sehr lange rein gar nichts geschieht. Eine einsame Möwe segelt über uns hinweg. „Okay, wenn wir in weiß spielen, gewinnen wir 1:0“, nörgelt Jenna.
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„Guckt mal da rüber, wie krass ist das denn?“, ruft Danny plötzlich. Aus der Ferne segelt uns ein Gruppe leuchtendroter Vögeln entgegen. Im Licht der untergehenden Sonne wirken sie fast neonpink. Als sie an uns vorbeigleiten, krakelt Jenna: „Und in Rot spielen also 7:0, Scheppert?“ Es sind sieben knallrote Ibisse. „Nee, Meiner, 7:1, da kommt noch ein einsamer Genosse“, nuschelt Erni, wobei ich weder das eine noch das andere Ergebnis mit den ausstehenden Spielen in Verbindung bringen kann. „Richtig, 7:1. Völlig realistisch“, antworte ich. Sokrates nickt, nachdem ich es ihm erklärt habe, denn er glaubt fest an den Quatsch. Okay, Costa Rica ist auch noch in der WM-Verlosung.
Kurz danach gibt es nur noch Handball-Ergebnisse. Der verschwenderische Himmel verfärbt sich rot und alsbald auch die ehemals grüne Insel. Dieses Wunder der Natur sprengt jegliche Vorstellungskraft. Brasilien kann einen immer wieder umhauen. „Kleine Bierkrise, würde ich meinen“, murmelt Sylvie mit leuchtenden Augen und krallt sich die letzte Dose. Leider müssen wir nun zum Hafen zurückkehren.
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„Wenn es am schönsten ist, sollte man gehen.“ Ich mag diese Redewendung nicht und hielt mich im Leben meistens auch selten daran. Die englische Entsprechung: „One should leave off with an appetite“ ist ebenso Quark, denn was soll denn jetzt fußballtechnisch noch besseres kommen, als eine WM in Brasilien? Genau. Nichts! Dummerweise ist unsere Reise im Vorfeld so geplant gewesen, dass wir nach dem Viertelfinale die Heimreise antreten müssen. Während mein Freund Trueman gerade auf dem Weg nach Rio ist, um das Spiel gegen die Franzosen vor Ort zu zelebrieren, werden wir nicht einmal im Stadion, sondern wieder nur auf dem Fanfest in Recife sein – wenn überhaupt …
Der Flieger, der uns aus Parnaiba heraushauen soll, kommt nämlich nicht. Nach drei Stunden heißt es, dass wir per Bus ins 400 Kilometer entfernte Fortaleza gekarrt werden sollen, wo es Anschlussflüge gäbe. Wir sitzen schon in der Klapperkiste, die an einem schäbigen Restaurant plötzlich stoppt, da neue Gerüchte laut werden: das Flugzeug sei doch im Anflug. Also Kommando zurück und nochmals vier Stunden an Gate A warten (es gibt nur A), um gegen Mitternacht endlich in Fortaleza – natürlich ohne Anschluss – zu landen. Brasilien spielt in 17 Stunden sein Viertelfinale gegen Kolumbien genau in dieser Stadt. Wir bekommen nicht einmal Entschädigungshotel-Betten. Da es auch keine freien Sitzmöglichkeiten am chaotisch überfüllten Terminal gibt, lungern wir bis früh um 7 Uhr auf arschkalten Fliesen herum, bevor es endlich weitergeht und wir gegen 11 Uhr – nach lediglich 23 Stunden Anreise – in Recife landen. Dort können wir nun auch auf ein Hotel verzichten, da „unser“ Anstoß bereits um 13 Uhr erfolgt. Jetzt heißt es: kurz die dicken Waden im haiverseuchten Meer sowie die Gemüter mittels Brahma abkühlen und diverse Kopfbatterien nach diesen dornenreichen Stunden wieder aufladen.
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Wenngleich zwei meiner Mitstreiter während der gesamten Tortur in Panik gerieten, dass wir den Heimflug nicht pünktlich erreichen, sehe ich am Strand von Boa Viagem einige Dinge plötzlich glassklar. Was würde eigentlich geschehen, wenn wir diesen wirklich verpassen würden? Ich müsste mich bei meinem, sich zur WM zumindest minimal für Fußball interessierenden, Chef melden und ein paar Zusatz-Urlaubstage (im Sommerloch) beantragen. Ein paar hundert Euro mehr würde der Trip kosten. Mein Arsenal an Ausreden bröckelt. ‚Na und? Wenn es am schönsten ist, sollte man bleiben‘, rede ich mir ein, ohne es laut auszusprechen. Mein eingenicktes Mädchen schreckt hoch und ruft: „Wir müssen los, oder?“
Fußball ist für mich insofern faszinierend, da er eine Euphorie auslösen kann, für die man sonst harte Drogen bräuchte. Da kommt plötzlich immer dieses Sausen im Kopf, dieses krasse Gefühl, lebendig zu sein. Als wir Recife Antigo nach zwei Tagen ohne Schlaf erreichen, spüre- in meinen Adern drei Linien Kokain pulsieren, obwohl dort nur ein zwei Bier wabern. Okay, wir reden hier nicht von einem ätzend langweiligen Freundschaftsspiel oder einer 13.30 Uhr-Zweitliga-Partie, sondern vom Viertelfinale der WM mit deutscher Beteiligung.
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Auf dem Fanfest ist um einiges mehr los als bei der Partie gegen Portugal. Etwa 400 Deutsche und 200 blaue Frösche in eng anliegenden Trikots trinken sich Mut an, aber auch viele Einheimische sind bei 32 Grad, im nicht vorhandenen Schatten, vor Ort; wahrscheinlich weil ihr Team direkt im Anschluss spielt. Einige brasilienbraune Schönheiten haben sich sogar schwarz-rot-goldene Fahnen auf die Wangen gemalt. Später erfahre ich, dass sie lediglich Deutsch an der Uni lernen und deshalb unser Team unterstützen. ‚Ist eigentlich unser Land oder das Team angesagt?‘, frage ich mich während Erni beinahe das angeschleppte Bier verschüttet beim Betrachten der lächelnden Schönheitsköniginnen im Minirock. Trueman schreibt mir eine SMS aus dem Maracana in Rio – auch nicht schlecht. Neid!
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Das Spiel: Mats Hummels köpft nach einer Flanke von Toni Kroos in der 12. Minute das 1:0 unter die Latte und lässt und zu hüpfenden Rumpelstilzchen mutieren. Danach heißt es 80 Minuten lang zittern, obwohl wir heute nicht die Eisbahn in der Mall nebenan betreten. Okay, das Team spielt nicht schön aber sicherer als gegen Algerien, doch Frankreich gelingt es oft, den Ball zielstrebig in unsere Gefahrenzone zu bringen und Benzema treibt uns, aber auch die hiesigen Franzosen, fast in den Wahnsinn. Kaum zu glauben, dass Neuer in der Nachspielzeit nach seinem Dynamitschuss den rechten Arm so schnell nach oben reißen kann und uns den Einzug ins Halbfinale rettet. „La Boum 2. Die Party geht weiter!“, ruft Jenna saulässig und Erni startet seine berühmt-berüchtigte Polonaise. Die Deutschland Gewogenen schließen sich ihm an und rocken die Altstadt von Recife. Bis zu dem Moment als alle in ungläubigem Staunen verharren. Mit lautstarker Fanfarenmusik marschieren zehn brasilianische Riesen ein, gefolgt von tausenden Menschen in Nationaltrikots.
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Die fünf Meter großen Figuren, geschultert von normalen Menschen, bilden die Vorhut zum anstehenden Viertelfinale. Eine Volksfest-Tradition aus Olinda hat somit auch Recife erreicht, denn die Riesenfiguren aus Holz, Pappmaché und Ton prägen den dortigen Karneval seit hundert Jahren. Wo sonst Politiker und Stars verspottet oder gehuldigt werden, sind es diesmal die WM-Stars. Fantastisch, wie realistisch und lebensnah die Gesichter aussehen, wobei ich von den zehn Giganten nur Pelé, Neymar, Scolari, Fred und David Luiz erkenne. Und natürlich den „Beißer“ Suarez, den sie als Vampir dargestellt haben. Die Stimmung inmitten der tanzenden Meute ist grandios. Deutsche und Franzosen waren ja regelrecht introvertiert, im Vergleich zu dem, was jetzt abgeht. Aber nach fünf Bieren in der prallen Sonne feiern besonders Erni und ich gehörig mit und drücken Pelé und Neymar die Deutschlandfahne in die schlaffe Hand. Da die Typen unter den Figuren nichts sehen können, entstehen Fotos für unsere Ewigkeit. Brasilianische Chicas wollen sich zudem mit uns, Neymar und Flagge ablichten lassen, als Beweis für die WM ihres Lebens – für ihre Ewigkeit. Wir trinken Brahma aus Riesendosen gefüllt mit Adrenalin.
Leider wollen meine Freunde das Spiel nicht hier verfolgen, sondern dem Tollhaus mit einem eleganten Abgang entweichen, nur, um etwas zu essen, was aus meiner Sicht völlig überbewertet ist. Einige Ecken weiter kehre ich in eine Open-Air-Kneipe ein, setze mich vor die Leinwand und rufe: „Ihr wisst, wo ihr mich findet!“ Nach Rückkehr der Hungrigen – das rasante Spiel hat längst begonnen – macht Sylvie Fotos. Mittlerweile sitze ich im rot-schwarzen „Rugbytrikot“ ganz allein inmitten von gelb-grün-blau bekleideten Heißblütern und habe eine „GOAL-Brille“ dabei, die mir jemand geschenkt hatte. WM-Fieber!
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Brasilien gewinnt 2:1 und ist demnach unser Halbfinalgegner. Neymar wurde böse gefault und rausgetragen, was mir – da in meinem Leben schon öfter prophezeit wurde: Deutschland wird Weltmeister – ein bisschen Mut gibt. Der Typ ist deren einziger Weltklassespieler. Ohne den Volksheld und den gesperrten Thiago Silva wird das Halbfinale immer noch hart, aber durchaus machbar sein. Nach der Partie umarmen mich etliche Menschen herzlich, in der Gewissheit, dass ich (!) nun der nächste Gegner bin. Mir kommen fast die Tränen.
Verdammt, ich habe doch nur eine Schatztruhe namens Leben und manchmal gehe ich damit um, als hätte ich tausende. Gehen oder bleiben?

Zum Weiterlesen: 90 Minuten Update
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Und noch ein paar Videos:

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