„…in Hagen gibt es eine Direktverbindung zum Stadion in Dortmund. Wir sind an den Gleisen farbentechnisch in der Unterzahl – in der Lautstärke nicht. Stoni fotografiert ein gelb-rotes Warnschild, auf dem ein Mensch rittlings von der Bahnsteinkante fällt, und stellt es in die WhatsApp-Gruppe, was ich nicht ganz kapiere.

Als der Zug einfährt, stehe ich mit Zille direkt vor einer Tür und entere das Abteil, um für die anderen Plätze zu sichern. Am benachbarten Eingang, wo die anderen standen, geschieht lange nichts. Bis zwei BVB-Typen zu uns kommen und sagen: „Da ist gerade einer von euch ins Gleisbett gefallen.“

Wenig später tragen Stoni und Marx den Rührer mit schmerzverzerrtem Gesicht zu uns rüber. „Der hat auf dem Bahnsteig die Lücke zwischen Gleis und Zug nicht gesehen und blub, weg war er. Klassische Katschow-Grätsche“, sagt Stoni. „Aber das Sixpack hat er hochgehalten und gerettet“, ergänzt Marx.

Der Rührer Billy, ist kreidebleich und murmelt: „Scheiße, jetzt wird es wohl doch noch ein Nussknacker-Knie.“ Ich verstehe nun zwar, was das Schild: „Vorsicht an der Bahnsteinkante“ bedeuten sollte, aber sonst nur Bahnhof.

Zille klärt mich auf: „Nach seinem doppelten Looping vor ein paar Jahren, am Zaun beim Spiel auf St. Pauli, hat ihm der Arzt nach dem CT gesagt: In ihrem Knie sieht’s aus wie rund um das World Trade Center am 12. September 2001. Kreuzbandplastik nicht mehr nachweisbar, Meniskus beschädigt und schwere Außenbanddehnung. Aber ich kenne da einen Facharzt, der ihnen mit allen Mitteln der modernen Chirurgie ein so genanntes Nussknacker-Knie bauen kann.“

Billy brüllt: „Schnauze, gib mir mal ‘ne Flasche Bier. Ich habe mich ja damals dagegen entschieden.“ Ein Verletzter noch weit vor Spielbeginn.

Als der Zug anrollt, singt unsere Meute euphorisch: „Wir sind Unioner, wir sind die Kranken, wir durchbrechen alle Schranken“, und alle Schwarz-Gelben im Wagon glauben das sicherlich auch.

Der Halt ist natürlich nicht direkt vor dem Stadion. Zunächst müssen wir Billy eine Brücke hinaufwuchten, auf der anderen Seite wieder hinunter und dann haken ihn zwei Jungs unter, um den letzten Kilometer in Angriff zu nehmen.

Ab und zu wird gehalten, damit der Patient mit Bier versorgt werden kann. Mittlerweile ist es dunkel und von weitem leuchtet Deutschlands größter Fußballtempel in einem grandiosen Licht.

„Was macht ihr denn da mit dem Krüppel?“, brüllt plötzlich jemand von der Seite. Haue und Andi erheben sich hinter einer Ansammlung Maurerpatronen (Bierdosen) und kommen freudestrahlend herüber. Andi sagt: „Dass sich mein Bruder bei solchen Fahrten verletzt, kennst du doch noch von früher, oder?“ Wir umarmen einander.

Die Stimmung ist gut und es wäre noch Zeit, an einer der Bierbuden zu verweilen, doch wir einigen uns darauf, Billy auf seinen Sitzplatz ins Stadion zu verschiffen.

Vor den Eingangstoren der Gästefans staut es sich, und recht bald merken wir, dass die wenigen geöffneten Tore für solch einen Andrang niemals reichen werden. Dabei hätten die doch längst wissen müssen, dass sich Union mit 12.000 Leuten auf den Weg nach Dortmund gemacht hat. Von hinten wird weiter nachgeschoben. Die ersten werden an die Barrieren rechts und links neben den Drehschleusen gedrückt. „Kann der Rührer wenigstens nicht umfallen“, nuschelt Rambo seinen ersten vollständigen Satz am heutigen Tag.

Kleine Tumulte entstehen, als eine Gruppe andeutet, einen Bauzaun überwinden zu wollen. Polizisten kommen angestürmt. Ein Hauch von Pfefferspray wabert durch die Luft. Das Tempo an den Einlasskontrollen ist nach wie vor ein Witz, aber irgendwann werden auch wir hineingedrückt. Es ist nun schon 20:15 Uhr und wir sind froh, bereits um 19 Uhr am Einlass gewesen zu sein.

Durch unzählige Katakomben irrend, erreichen wir unseren Block 58. Wir stehen zusammen in den Reihen 36 und 37 hintereinander. Billy sitzt und raucht. „Endlich bin ich mal im Westfalen-Stadion“, ruft er und strahlt über das ganze, blasse Gesicht. Schon jetzt sind unsere Kurve und die benachbarte eine dichte rote Wand und von der berühmten Gelben direkt gegenüber hört man kaum einen Mucks.

Zwölftausend Berliner singen so laut, wie sie nur können. Letztendlich wird die Partie mit 15 Minuten Verspätung angepfiffen, bis auch die letzte rote Regenjacke im Stadion ist. Ich weiß nicht, ob schon jemals so viele Unioner zu einem Auswärtsspiel gefahren sind. Mehr als die halbe Alte Försterei ist heute anwesend.

Vom Spiel kann ich nur wenig berichten. Wir sind alle voller Endorphine. Es wird gesungen, vor allem ultralaut und im Wechselgesang: „Eisern“ – „Union“ und ewig lang: „Dem Morgengrauen entgegen, zieh’n wir gegen den Wind“. Tausende Schals kreisen durch die Lüfte. Unvergessliche Bilder. Doch Dortmund schießt in der 44. Minute das 1:0, was auch noch als Eigentor von Parensen gewertet wird.

Scheißegal, kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit wird ein riesiges Banner mit dem Konterfei von Damir Kreilach hochgezogen und dann beginnt eine Pyro-Show vor der mächtigen Zaunfahne „1. Fußballclub Union Berlin“. Feuer, Rauch, Nebel und Krach!

In der 81. Minute drischt Steven Skrzybski den Ball aus gut 20 Metern volley in die Maschen. Ausgleich!  Eine Seite des Stadions explodiert augenblicklich und selbst Billy springt in seiner Ekstase in die Lüfte und brüllt danach –nicht nur aus purer Freude.

Für die meisten ist es schon jetzt die größte Partie der Vereinsgeschichte vor 79.037 zahlenden Zuschauern, wie uns die Anzeigetafel verrät …“

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Zum Weiterlesen: EINHEIT UNNORMAL

von Mark Scheppert und El Rubio.

BoD-Verlag; 128 Seiten; 9,90 €

ISBN: 978-3751967013

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„11 kleine Union-Geschichten rund um Heim- und Auswärtsspiele einer sagenhaft trinkfesten Truppe namens EINHEIT UNNORMAL von Mitte der 80er bis heute, nicht chronologisch geordnet, dafür unglaublich lustig erzählt. Sehr zu empfehlen“

Christian Arbeit, Stadion- und Pressesprecher 1. FC Union Berlin

Und hier noch drei Bewegtbilder:
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