Foto: H. Hendel
Foto: H. Hendel

Leseprobe aus dem Buch „Alles ganz simpel“
.
…der Wunsch nach Freizeitbeschäftigungen war schon in den Nachkriegsjahren sehr groß und so hatten sich Ende 1949 in den Buna-Werken bereits 17 Sportabteilungen gebildet. Dort gab es mittlerweile sogar eine Betriebssportleitung mit vier hauptamtlichen Mitarbeitern. Einer von ihnen sprach mich eines Tages an, ob ich an einem Übungsleiterlehrgang an der Landessportschule teilnehmen wolle. Da ich dafür sechs Wochen freigestellt wurde, war das wie ein bezahlter Urlaub und so ließ ich mich gerne nach Freyburg an der Unstrut schicken.
Da ich mich dort scheinbar nicht ganz dumm angestellt hatte, delegierte man mich direkt im Anschluss zu einem fünfmonatigen Übungsleiterlehrgang, der auf höherem Niveau in Leipzig stattfand. Dieser sollte die Kursteilnehmer zur Hochschulreife führen und zur Vorbereitung der Gründung einer Sporthochschule dienen. Wir waren sozusagen die Versuchskaninchen. Im Anschluss daran wurde ich gefragt: „Willst du denn nun hier studieren oder nicht?“ Wollte ich nicht! Mir gefiel meine Arbeit in den Buna-Werken und höhere Ziele hatte ich mir nie gesteckt.
Foto: G. Hafenberg
Foto: G. Hafenberg

Letztendlich war es mein Vater, der stundenlang auf mich einredete und immer wieder betonte: „Wir hatten nie diese Möglichkeit. Nutze deine Chance!“ Somit gehörte ich im Herbst 1950 zusammen mit 91 anderen Frauen und Männern zu den ersten Studenten an der neu gegründeten DHfK (Deutsche Hochschule für Körperkultur) in Leipzig. Um es vorweg zu nehmen: trotz der wenigen Damen (26) gab es in unserem Studienjahrgang am Ende sage und schreibe 14 Paare und 13 davon heirateten später sogar.
Zwei Dinge änderten sich in meinem Leben als angehender Diplomsportlehrer maßgeblich. Zum einen musste ich nun ins Internat in die Friedrich-Ebert-Straße ziehen und zum anderen begann ich meine verloren gegangene Jugend nachzuholen. Wir hatten allesamt diesen fürchterlichen Krieg und die bitteren Jahre danach erlebt, doch während des Studiums kehrten wir endgültig ins Leben zurück.

Das Studium war für mich überraschend einfach zu bewältigen, wahrscheinlich auch, weil ich es nicht so bitterernst nahm. Natürlich hatten die meisten – wie ich – nur eine achtjährige Volksschulbildung absolviert und die lag oftmals schon Jahre zurück, sodass man sich ans Pauken erst wieder gewöhnen musste. Doch wir verstanden uns alle vom ersten Tag an prächtig und halfen uns gegenseitig, wenn Not am Mann war, aus der Patsche.

Foto: H. Hendel
Foto: H. Hendel

In Leipzig zeigte sich schnell, dass meine vielleicht größte Stärke das Organisieren ist. Ich wurde zum 2. Sekretär der FDJ-Hochschul-Gruppenleitung gewählt, um zusammen mit Günter „Paddel“ Hegewald die Interessen der Studenten zu vertreten. Oftmals mussten wir Hannelore Bänder vom Deutschen Sportausschuss energisch bearbeiten, dass man Studenten, die die Hausordnung mal eigenmächtig außer Kraft gesetzt hatten, nicht bestrafte. Nachtruhe war nämlich bereits um 22 Uhr, doch man durfte sich eigentlich bloß nicht vom Pförtner erwischen lassen und musste am nächsten Tag anwesend sein. Obwohl wir um 6 Uhr von Lautsprechern geweckt wurden und die Vorlesungen zum Teil schon um 7 Uhr begannen, gab es nie Klagen.
Wir verteilten Handzettel, gestalteten Partys und organisierten sogar einen DHfK-Funk, indem wir die Sprechfunkanlage in den Gängen mit einem Radio und Mikrofon koppelten. Günter und Manfred richteten sogar ein eigenes Fotolabor ein und zweckentfremdeten dafür nachts eine Toilettenkabine. Mein Freund Günter war sowieso ein Multitalent, denn er konnte sogar die singende Säge melodisch erklingen lassen, während sie bei mir nur quälende Jammertöne hervorbrachte.

Foto: M. Reichenbach
Foto: M. Reichenbach

Im Russischunterricht verstand zum Beispiel nicht nur Lothar Mosler beim Thema „Woksal“ (Bahnhof) oftmals nur selbigen. Legendär waren seine Antworten, wenn er von Lehrer Georg Franke angesprochen wurde, um etwas zum jeweiligen Sachgebiet zu sagen. Er sagte dann immer „Da.“ (Ja) Der Lehrer: „Geht das auch ein bisschen zusammenhängender?“ Lothar nickte: „Da, da, da!“ Doch auch Franke schmunzelte in sich hinein. Als er uns mal ein russisches Lied beibringen wollte, welches wir nicht kannten, rief er: „Mensch, das grölen die Russen doch immer auf ihren LKWs.“
Weder das Wort „grölen“ war nun noch erwünscht noch „Russen“, da es nur noch im Wortschatz der Westdeutschen vorkam. In der DDR waren es längst die „sowjetischen Freunde“. Erst im Laufe der Zeit verstanden wir, dass der Schorsch (Georg) nur das tat, wozu er beauftragt war: uns die russische Sprache zu lehren. Eine sowjetische gab es nämlich nicht.
Franke war sowieso ein ungewöhnlicher Mann. Einmal nahm er eine Zeitung vom Katheder, zeigte sie uns und sagte: „Dies ist die ‚Prawda’. Das ist in der Sowjetunion das, was früher bei uns der ‚Völkische Beobachter’ war.“
Erst Jahre nach Stalins Tod, ahnte ich, dass er mit seiner krassen Einschätzung der damaligen Parteizeitung gar nicht so falsch gelegen hatte. 1951 bekam er für diese Aussage nur deshalb keinen Ärger, weil ihn niemand verpfiffen hatte. Wir mochten seine direkte Art und die Antwort auf die Frage, ob bei diesem eigenwilligen Lehrer alle den Abschluss erlangt haben, lautet: „Da!“ Manche Mädchen auch nur: „Weil sie immer so gut gerochen haben“, gestand uns Schorsch auf einem späteren Treffen.

Foto: J. Cords
Foto: J. Cords

Im Biologie- und Geografieunterricht galt mein bester Freund Heinz Sachse als Wackelkandidat, der in diesen Fächern zwischen zwei Noten schwankte. Nur diese Studenten wurden mündlich getestet. Es gab also einen Aushang mit den Namen der Prüflinge, doch das Prüfungsfach fehlte. Heinz spekulierte auf Biologie, da er dort ziemlich dicht vor dem Abgrund stand. Er hatte gebüffelt und aalte sich mit uns am offenen Fenster in der Sonne, als die Geografie-Lehrerin vorbeikam. „Na den Herrn Sachse sehen wir ja gleich!“ Wie von der Tarantel gestochen, rannte er aus dem Zimmer und stürmte den Gang entlang. Er hatte Glück und konnte die Lehrerin abpassen. Mit zittriger Stimme erklärte er ihr, dass er lediglich von Mitteldeutschland etwas Ahnung hätte. Vom Titicacasee und Popocatepetl habe er auch schon mal was gehört.
In der Prüfungskommission ergriff sie sofort die Initiative und schickte einige Prüflinge auf eine Reise um die komplette Erde. „So und nun zu Herrn Sachse“, sagte sie irgendwann. „Kommen wir bei Ihnen einmal zu heimischen Gefilden, genauer gesagt zu den mitteldeutschen Gebieten der DDR.“
Es muss eine denkwürdige Geografieprüfung gewesen sein, denn Lothar Mosler korrigierte den Fragesteller aufgebracht, als es darum ging, welche Getreidesorte in einem bestimmten Teil der Sowjetunion angebaut wird. „Nein, da muss ich ihnen widersprechen. In dieser Region wird überwiegend Roggen angebaut! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“ Die Weisheiten aus einem Lehrbuch kamen gegen die Lebenserfahrung eines deutschen Soldaten oftmals nicht an. Als ein anderer Schüler bei den höchsten Vulkanen Amerikas stockte, fragte die Geografielehrerin: „Herr Sachse, können sie vielleicht weiterhelfen?“ „Ja, z.B. der Popocatepetl bei Mexiko Stadt.“ Bald wurde nach dem größten Binnensee von Südamerika gefragt. „Da können wir ja sicherlich noch einmal den Herr Sachse fragen?“ „Klar, kein Problem“, antwortete dieser selbstbewusst. „Gesucht ist der Titicacasee zwischen Peru und Bolivien.“ Für Heinz war alles prima gelaufen. In Biologie wurde er nicht mehr geprüft und in Geografie hatte er sich, dank einer herzensguten Lehrerin, sogar um eine Note verbessert.

In Deutsch gehörte Heinz Sachse zu den Besten und da auch ich mit dieser Sprache ganz gut umgehen konnte, hatte uns Studienrätin Dr. Malige ins Herz geschlossen. Viele andere hatten das Volksschuldeutsch fast vergessen und vor allem Probleme mit der Kommasetzung. Uns lobte sie immer als Gegenbeispiel und fragte, wo wir das so gut gelernt hätten. „Ich setze die Kommata eigentlich einfach nach Gefühl“, sagte ich beiläufig. Heinz nickte bestätigend. „Um Himmels Willen“, sagte die Lehrerin. „Aber gut, jetzt habt ihr ja die Regeln gelernt und macht es bitte nun auch danach.“ In der nächsten Arbeit schrieben wir beide eine Vier. Der Text wimmelte nur so vor Fehlern. Frau Dr. Malige bat uns, nach der Stunde kurz zu bleiben. „Setzt die Zeichen in Gottes Namen bitte wie vorher nach Gefühl!“ Und siehe da: danach flutschte es wieder.

Foto: R. Schramme
Foto: R. Schramme

Dann gab es da noch die Abschlussprüfung in Physiologie bei Dr. Kurt Tittel. Der hatte angekündigt, dass er aus den vier Problemkreisen der Physiologie drei Themen für die schriftliche Prüfung auswählen werde, aus denen wir Delinquenten ein uns genehmes aussuchen könnten. Wir waren kühle Rechner: man müsse sich dann ja nur auf zwei Themen vorbereiten. Zum Beispiel Atmung und Blutkreislauf oder Ernährung und Muskel. Im ungünstigsten Fall wäre eines dieser Themen auf jeden Fall mit dabei.
Am Prüfungstag stellte sich Dr. Tittel vor den Pult und erklärte nuschelnd: „Leider sind ja einige Studenten heute nicht anwesend, da sie Wettkämpfe haben. Deshalb werde ich heute nur zwei Themengebiete zur Auswahl stellen, damit für die anderen noch etwas übrig bleibt.“ Totenstille im Saal. Als die Fragen kamen, hörte man einige erleichtert aufatmen. Bei nicht wenigen hingegen wechselte die Gesichtsfarbe von leichenblass in tiefrot. Es waren genau die Themen, die sie nicht gelernt hatten.
Obwohl wir die Toilette nur einzeln und nacheinander aufsuchen sollten, marschierten wir unter dem Vorwand eines „plötzlichen, fürchterlichen Durchfalls“ oder einer „hartnäckigen Nierenerkrankung“ scharenweise aufs Klo, wo sich dann die „Glücklichen“ mit den „Pechvögeln“ trafen. Bei so viel Kameradschaft und auch wegen der wohl gesonnen Einstellung des Lehrkörpers, was die Einhaltung der Toiletten-Vorschriften betraf, konnten am Ende fast alle die Abschlussprüfung in Physiologie bestehen. So gesehen: Eigentlich war alles ganz simpel…
.
Cover Alles ganz Simpel-klein

Zum Weiterlesen Buch: „Alles ganz simpel“
.
Lesen Sie nächste Woche im zweiten Teil der Leseprobe, wie mein Opa die Praxis an der DHfK erlebte.