WP_20140702_046Im Vorfeld der WM 2014 gab es in Brasilien in vielen Orten massive und zum Teil gewalttätige Proteste gegen die allgegenwärtige Korruption, gegen Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Misswirtschaft und soziale Ungerechtigkeiten. Mit Anpfiff der Spiele hatten sich die Demonstranten eine Pause verordnet – das große Volksfest mit Menschen aus aller Welt war ihnen dann doch wichtiger. Kurzzeitig.
In Belem werde ich jedoch sofort daran erinnert, worum es den gastfreundlichen Menschen eigentlich ging, denn die Stadt im Nordosten des Landes ist ein abgeranztes, muffiges Rattenloch und wirkt wie eine überdimensionale Favela. Von der lieblichen „Stadt der Mangobäume“ mit fantastischen Prachtbauten – wie es im Reiseführer heißt – keine Spur. Die größtenteils dunkelhäutigen Bewohner wirken seltsam traurig und vom Leben ernüchtert. Belem war leider das einzig bezahlbare Flugziel gewesen, um das Amazonasgebiet zu verlassen. Eine dreitägige Bootstour wäre eine Alternative gewesen, wobei wir dann auch hier gestrandet wären.
„Bitte nicht zu ‘nem Franzosen“, bettelt Jenna am Flughafen. „Doch!“, rufe ich, da das „Hotel le Massilia“ unsere Unterkunft im Zentrum sein wird. Und es ist die richtige Entscheidung, denn das zweistöckige Haus ist Oase und Festung zugleich. Im Innenhof befinden sich ein verwunschener Garten mit seidigem Pool und ein Bistro mit französischer Küche. Am liebsten würde ich das Kleinod nie wieder verlassen. Doch kurz nach der Ankunft rennen wir schon wieder los. In wenigen Augenblicken spielt Deutschland sein letztes Gruppenspiel gegen die USA. Es ist kurz vor 13 Uhr.
Am Estação das Docas haben das dortige Brauhaus und zwei Cafés zwar geöffnet, aber die TV-Geräte nicht angeworfen. So sitzen wir in einer Art Shoppingmall mit den Ausmaßen des Leipziger Hauptbahnhofs zu fünft mit zwei Einheimischen vor einem Bildschirm, auf dem man aufgrund der Sonneneinstrahlung fast gar nichts erkennen kann.
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Der Ton ist ein Witz und von allen Seiten erschallt brasilianische Mallorca-Musik. „Das ist ja wohl die allergrößte Scheiße. So möchte ich nie mehr ein Spiel der Deutschen sehen“, wüte ich. Obwohl unsere Fußball-Leidenschaft ganz unterschiedlich ausgeprägt ist: hier haben wir alle die Arschkarte gezogen.
„Wasserschlacht! Chaos! Ich bin drin! Wie geil ist das denn!“, schreibt Trueman in einer SMS. In Recife muss es gerade so stark regnen, dass die Straßen der Stadt hüfthoch geflutet und einige Fans noch immer nicht im Stadion sind, ermittelt unser Telefonfräulein Erni via Live-Ticker. So gesehen, kann ich Truemans Euphorie zwar verstehen, bin aber froh, mir das extrem langweilige Spiel – Deutschland „müllert“ sich irgendwie zum 1:0 – nicht vor Ort bei Starkregen angeschaut zu haben. Wobei: wenn ich mich hier so umschaue, wäre das durchaus klüger gewesen. Jenna und ich sitzen wie zwei Doofs in National-Trikots herum während der dritte im Bunde (Erni) gerade mal wieder versucht, Kohle aus einem Geldautomaten zu ziehen. Als die deutschen Fans in Recife und Daheim den Einzug als Gruppensieger ins Achtelfinale feiern, trödeln wir auf zugemüllten Straßen an offenen Abwasserkanälen entlang. In den Shops gibt es ausschließlich Plaste- und Elektroschrott zu kaufen aber auch Fußballtrikots für unter 5 €, die man sicherlich nur einmal tragen kann, bevor sie verrotten. Willkommen in der dritten Welt Brasiliens.
Lediglich rings um das Eisenkonstrukt des „Ver-o-Peso-Marktes“ kommt Amazonas-Feeling auf, da es viele der angebotenen Fisch-, Kräuter-, Gemüse- und Obstsorten nur in dieser Region gibt. Im Gegensatz zu den hunderten tiefschwarzen Aasgeiern am Hafen sind wenigstens die Menschen Belems friedlich und lassen uns an vielen Ständen Dinge kosten. Doch nur Sylvie und ich trauen dem Frieden (für den Magen) und essen Fisch mit Reis zu erschwinglichen Preisen. Der Rest futtert Burger im einzigen globalen Ketten-Restaurant weit und breit.
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Zeit für den Zauberpool beim Franzosen, den ich nach dem dornenreichen Tag bis zur Nachtruhe nicht mehr verlassen will. Auch das Spiel Algerien gegen Russland schaue ich dort, um unseren „Freilos-Gegner“ im Achtelfinale (Algerien wird es) wenigstens einmal zu begutachten. Meine Freunde versuchen ihr Glück in der verruchten Gegend rund um das Hotel und kehren nach einer Stunde konsterniert zurück, wenngleich sie das Bündel kleiner Geldnoten, welches bei einem Überfall auszuhändigen ist, noch bei sich tragen.

Okay, ich möchte nicht überall und jederzeit erreichbar und online sein. Das Internet ist auf solchen Reisen jedoch ein Segen. Man muss keine kiloschweren Reiseführer mehr herumschleppen oder stundenlang in zwielichtigen Reisebüros darauf warten, überteuerte Angebote unter die Nase gerieben zu bekommen. Nach eingehender Recherche im hiesigen W-LAN buchen wir einen Flug von Paranaiba nach Recife – dem Endziel für den Heimflug. Dorthin werden wir in einer 14stündigen Busfahrt gelangen. Auch diesen Ritt können wir bei Zigaretten und Bier im Netz reservieren. Nach getaner Arbeit ruft Jenna: „Wisst ihr eigentlich was über Parnaiba bei Wikipedia steht? Ein einziger Satz: Parnaíba ist eine Stadt des Bundesstaates Piauí im Nordosten Brasiliens und hatte im Jahr 2010 etwa 146.000 Einwohner.“ „Na das klingt doch spannend“, antworte ich und meine es auch so, denn was gibt es Schöneres, als irgendwo in der Fremde mit einem dreckigen Rucksack zu landen. Danny sieht das anders und recherchiert sofort hektisch, was man dort überhaupt machen kann und ob es Hotels gibt. „Wird schon was geben“, antworte ich, da Ungewissheit noch immer ein berauschender Zustand für mich ist. „Es gibt was!“, ruft sie todesglücklich. So unterschiedlich sind die Vorstellungen Abenteuerreisen!
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Danny hatte folgendes herausgefunden: Das eher unscheinbare Parnaiba am Ufer des gleichnamigen Flusses ist umgeben von vielen Stränden und vor allem das Einfallstor zum drittgrößten Delta der Welt, welches mit spektakulären Ansichten zu überraschen weiß. Was sie jedoch nicht gegoogelt hatte, dass Brasilien nach der (dann doch) 16stündigen Reise gerade sein Achtelfinale gegen Chile spielt. Am Busbahnhof stehen Taxis und Stadtbusse bereit, aber kein einziger Fahrer sitzt in seinem Gefährt. Was soll’s – für mich beginnt die WM nun sowieso erst richtig. Bei angenehmen 28 Grad und salziger Luft darf ich bereits um 13 Uhr das erste Bier in der Mitropa mit den Jungs ordern. Inmitten der versammelten Bahnhofstruppe schauen wir an einem Ort mit angenehmer Atmosphäre eine rasante erste Halbzeit, die 1:1 endet.
Sylvie kommt auf die wahnwitzige Idee, in der 15minütige Pause eine Unterkunft zu suchen und überredet einen Mann, auf komplett autofreien Straßen an einen der Strände zu rasen. Der Atlantik ist dann doch ein Stück entfernt und als uns weder das erste (zu teuer) noch das zweite Hotel (zu einsam) zusagt, wird der Fahrer allmählich unruhig. Ich auch, weil die Partie längst wieder läuft. Da dann auch die nächste Unterkunft (zu dreckig) am nunmehr dritten Beach nichts taugt, bettelt er regelrecht darum, dass wir zahlen, damit er endlich verduften kann. Nix da: nach einer extrem teuren Irrfahrt (nach 90 Minuten steht es weiterhin 1:1) landen wir in der „Vila Parnaiba“ in der Nähe der Altstadt, in genau jener Pousada, in die wir Jungs von Anbeginn eigentlich wollten.
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Die Frauen suchen in der Verlängerung (!) tatsächlich noch weiter, obwohl wir unsere Traumhütten in einem liebevoll gestalteten Garten vor blauem Pool mit großer Bar und Flachbildschirm längst gefunden haben. „Soll’n se mal alle machen“, äffe ich den Spruch eines verschollenen Freundes nach, ordere drei Brahma und setze mich mit Jenna und Erni vor die Kiste. Riesige Leguane sind außer und die einzigen Gäste.
In der letzten Minute der Verlängerung – ein Chilene ballert gerade einen Schuss an die Querlatte der Brasilianer und sorgt für Entsetzensschreie – kommen unsere Damen zurück und murmeln: „Wir bleiben.“ „Die Suche hat ja auch nur ein WM-Spiel lang gedauert“, lästert Jenna mit Augenzwinkern in meine Richtung. ‚Und was für eins‘, denke ich beim Blick auf den Bildschirm.
Der Elferkrimi beginnt und der Hotelfachwirt stellt ungefragt Schnäpse auf den Tisch. Das nun folgende Schauspiel verursacht Ohrenchaos. Wir sitzen in einer ruhigen Runde beisammen, aber aus der Ferne sind Detonationen zu hören, als befänden wir uns in der Nähe eines Kriegsschauplatzes – so als würden hunderte polnische Knalltöpfe gleichzeitig explodieren. Die Zeit ist zu knapp, um zu schauen, was da eigentlich los ist. David Luiz schnappt sich das Leder. Bomben und Granaten verstummen, während im Stadion, aber auch in unmittelbarer Hörweite, „Eu sou Brasilero“ erklingt. Gänsehaut überzieht meine Arme und Beine großflächig. Als der Spieler den Elfmeter-Punkt erreicht, wird es wüstenstill. Luiz läuft an – und versenkt. Knall, Bumm, Peng – Raketenstart in Cape Canaveral und Baikonur gleichzeitig!
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Brasilien gewinnt das Herzinfarkt-Drama – nach etlichen Fehlschüssen auf beiden Seiten – mit 3:2 und zieht ins Viertelfinale ein. Die zwei Angestellten schreien ihre Freude heraus, doch ganz in der Nähe breitet sich eine Druckwelle aus, die mich in einer noch nie zuvor erlebten Intensität überrollt.
Ich war beim allerersten WM-Erfolg der Spanier 2010 in Madrid und auch den Titel von Chelsea in München 2012 habe ich live im Stadion erlebt, aber hier – in Parnaiba – werden die Vulkanausbrüche der Fans allesamt getoppt; und das bei einem piefigen WM-Achtelfinale! Wir gehen jetzt doch mal nachschauen. Letztendlich stellt sich heraus, dass die hiesige Fanmeile nur vier Straßen entfernt – mit Leinwand, Musikbühne, Boxentürmen, Fress- und Getränkeständen – aufgebaut ist. Sicher 10.000 Leute tanzen sich dort bei lauter Musik in einen Siegesrausch.
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Das ist uns nach der langen Fahrt zu anstrengend, wobei sich nach zwei Stunden Mittagsschlaf nicht viel verändert hat – außer, dass die hin und her flutenden Fans nun noch aufgedrehter und betrunkener sind. Jenna und ich tragen alte Deutschland-Trikots und werden alle zwei Minuten angequatscht: „Final? Brasil – Alemanha?“ Beim ersten schüttele ich noch den Kopf, da das die Auslosung gar nicht hergibt und rufe „Semifinal“. Den nächsten zwanzig antworten wir einfach „Claro, amigo“, und müssen alsbald vor dem spendiertem Bier flüchten, um nicht granatenbesoffen unterzugehen. Das momentan laufende Spiel von Kolumbien gegen Uruguay (2:0) interessiert dann wieder einmal niemanden.
Wir finden ein Restaurant in welchem die Fisch- und Garnelengerichte fantastisch schmecken. Allerdings hatte sich der neugierige Erni „Caranguejo toc-toc“ bestellt, was sich als Eimer gekochter Schalentiere entpuppt hatte und mit „Klopf-Klopf-Krebsen“ zu übersetzten wäre. Über zwei Stunden müssen wir warten bis er mittels Holzkolbens alle Panzer aufgeklopft und aus jedem noch so dünnen Ärmchen – mit den Bewegungsabläufen eines Faultiers – die Fleischanteile herausgezutscht hat. Ein Spaß, während um uns herum noch immer alle freidrehen. Irgendwann ruft er: „Könnmageen“, was ich mit „Wir können jetzt gehen“ übersetzen würde.
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Was für ein Land! Was für eine Zeit! Am von rauen Felsen umgebenen Leuchtturm-Strand „Pedra do Sal“ schauen wir Holland gegen Mexiko (2:1). In einer rustikalen Strandhütte bei einer Caipi das Elferschießen von Costa Rica gegen Griechenland (5:3), während Surfer dem roten Sonnenuntergang davonreiten und am kommenden Tag Frankreich gegen Nigeria (2:0) am wohlklingenden „Praia do Coquero“ (Strand der Kokospalmen) mit Crepés am Stil in der Hand. Überall spielen die Menschen Fußball: Kinder, Jugendliche, alte Männer, Frauen und später auch wir. Ich bin im schönsten Land der Erde und es laufen die Achtelfinals einer Fußball-WM. Kann das nicht immer so bleiben? Nein. Schon um 15 Uhr dränge ich zur Rückfahrt, denn das Deutschland-Spiel müssen wir schon anders zelebrieren.
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Jetzt putzen sich sogar die Mädchen heraus – vermutlich wollen sie den Brasilianern zeigen, dass auch Europäerinnen in voller Montur abgehen können. Froh gelaunt schlendern wir zur Fanmeile. Doch was ist im Kneipenviertel „Beira Rio“ los? Nichts, gar nichts – null nüscht! Keine einzige Bar hat um 16.30 Uhr geöffnet und die Bühne ist sowieso verwaist. Okay, das ist nicht dramatisch; in der Pousada läuft ja auch die Übertragung, aber irgendwie bin ich traurig. Ein bisschen mehr Euphorie, wenigstens während der Ausscheidungs-Spiele, hätte ich in Brasilen (bei ihrer Heim-WM) dann doch erwartet.
Letztendlich finden wir dann doch noch die Frittenbude „Lanchonete Crespo – Route 66“. Der Besitzer sieht aus wie Tom Gerhardt aus der Serie „Hausmeister Krause“ und schleppt den klobigen Röhren-TV auf einen der Plastiktische, während Erni etwas lustlos die Deutschland-Fahne davor aufhängt. Hammer-Atmosphäre! In der Halbzeit – es steht lediglich 0:0 gegen die Typen aus Nordafrika – wollen uns zumindest ein paar Dorfkids als WM-Touristen fotografieren.
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Obwohl Krause total verschnupft ist und ständig durch die Gegend rotzt, bestellt Jenna einen Hamburger und alle schließen sich an. Danach brauchen wir Schnaps, da der Wirt in der Küche ununterbrochen und lautstark auf unser Essen genießt hatte. Das dramatische Spiel in Porto Alegre – Neuer fängt halsbrecherisch etliche Konter der Algerier schon im Mittelfeld ab – nötigt uns dazu, die Cachaça-Flasche gleich am Tisch anzuketten. Eigentlich alle Deutschen spielen unterirdisch während der Gegner sein Bestniveau abruft. Tausende Kinder in der Heimat wollen nach dem Spiel sicherlich Torwart werden. Aber auch wir staunen über das leere Tor und die Heldentaten von Manu dem Libero. Mittlerweile schreien sich alle die Seele aus dem Leib, sodass sich ein kleiner Trupp neugieriger Einheimischer hinter uns aufreiht. Einen richtig peinlichen Moment liefert unser Team in der 87. Minute. Wahrscheinlich will Müller über den Ball springen, um den Gegner zu verwirren und Kroos dann schießen lassen, aber er rutscht unelegant weg und sorgt für eine unfreiwillige Slapstick-Einlage, da auch Toni danach nur zu einem sinnlosen Lupferchen ansetzt. Ach du Scheiße – Verlängerung!
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„Noch so ein Spiel halte ich definitiv nicht aus und wo ist eigentlich Sschhgodraan?“, nuschelt Danny, wobei mir der Satz noch aus dem Ghana-Spiel in den Ohren klingt und Mustafi längst ausgewechselt ist „Und das gegen diese Luschen aus Algerien, Meiner“, gibt auch noch Erni seinen Senf dazu. „Wat willste? Glaubste etwa, unter den letzten 16 iss noch ‘ne Karnevalstruppe? Tooor!“, antworte ich kreischend und springe wie ein Rumpelstilzchen auf. Schürrle trifft zu Beginn der Nachspielzeit. Mit der Hacke. Aus vollem Lauf. Als Aufsetzer. Geiles Tor! „Mann, hätte der das nicht drei Minuten vorher machen können?“, ruft Jenna gewohnt nüchtern. Ich atme durch und warte bis mein Puls wieder auf Normalfrequenz runtergefahren ist. Noch fast eine halbe Stunde zittern. Özil trifft in der 119. Minute zum 2:0, wobei kurz darauf das 2:1 (und Danny) fast in Ohnmacht fällt. Dann ist das Spiel endlich aus. Ich liege Silvie glücklich und schweißgebadet in den Armen.
Dieter Krause aus Parnaiba-Kalk spendiert eine Runde vollgehustetes Feuerwasser und sorgt somit endgültig dafür, dass wir uns blau trinken – und vermutlich Dengue-Fieber bekommen. „Para Alemanha“, röchelt er und prostet uns alkoholblöd zu. Deutschland steht im Viertelfinale gegen Frankreich. „Kasalla!“ – würde der echte Kölner Hausmeister Krause wohl sagen. Prüfung bestanden!
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