Mark ScheppertMeine ersten Freunde im Leben kamen aus Vietnam, Jugoslawien und Bulgarien. An den kleinen Tuan Tui aus dem Kindergarten kann ich mich zwar kaum noch erinnern, aber meine Mutter beharrt darauf, dass ich damals bei der Familie mit den dunklen Augen beinahe zu Hause war. Zumindest schickte ich anschließend immer aus Solidarität brav Spielzeug in die Volksrepublik Vietnam.
Im Abitur gab es den Strafko aus Sofia. Er war ein Wirrkopf, der sagenhaft schelmisch dreinblicken konnte. Otmar und ich brachten ihm die schlimmsten deutschen Schimpfwörter bei und stellten ihn Mädels als Sohn von Jean-Paul Belmondo vor, da er gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler hatte. Im Gegenzug musste ich bei meiner ersten Flugreise zusammen mit Kosbi in die bulgarische Hauptstadt für die Übernachtung nichts bezahlen. Wir konnten bei Strafkos Eltern wohnen.
Zwischen Kindergarten und Abi traf ich jedoch meinen wichtigsten Ausländer: Dejan. Der Diplomatensohn aus Sarajewo war ein Geschenk des Himmels. Er saß ab der 5. Klasse neben mir und wurde mein wichtigster Freund. In Zeiten, in denen man für abfotografierte Fotos aus der Bravo 15 Mark bekam und für originale Doppelseiten sogar 40, konnte Dejan nach Westberlin fahren und diese Kultzeitschrift besorgen. Einfach so. Mit seinen Eltern und ihrem Dienstwagen. Fortan kümmerte ich mich in besonderer Weise um meinen allerbesten Freund und wartete gespannt darauf, wann er wieder nach Drüben düsen würde. Erst als er plötzlich, wie zuvor Tuan Tui und später Strafko, aus meinem Leben verschwand, kapierte ich, was mit ihm so alles möglich gewesen wäre: Er hätte mich mal im Kofferraum in den Westen schmuggeln können – und zurück!
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Im Juni 1988 hatte Dejan keine Zeit und auch Stefan und ich wollten eigentlich nur mal kurz vorbeischauen: Vielleicht gab es ja noch eine Karte an der Rennbahn in Weißensee. Es war nicht irgendein Konzert: Bryan Adams sollte heute hier spielen. Allein, dass er aus Kanada kam und nicht Stern Meißen Combo oder Petra Ziegler hieß, war die große Sensation. Wir waren ziemlich früh losgefahren, sodass wir zwar mit mehr Menschen als üblich in der Straßenbahn saßen, aber Massen waren es noch nicht. Auch am Kartenhäuschen war nicht viel los und so standen wir maximal zwei Minuten davor, bis wir stolz unsere Karten zum Einzelhandelsverkaufspreis EVP 15 Mark in den Händen hielten. Der Einlass war noch geschlossen und so schlenderten wir gut gelaunt die Straße zurück. Bereits nach ca. 200 Metern sprachen uns die ersten Leute an: „Ey Piepel, habt ihr vielleicht noch Karten?“ Nee – hatten wir nicht und gingen weiter.
Immer mehr Menschen strömten jetzt aufgeregt in Richtung Konzertgelände. Zwei dicke Typen mit Dauerwelle fragten uns, ob wir „zufällig ne Karte zu viel“ hätten. 30 Mark würden sie uns dafür geben – pro Karte! Wir brauchten uns gar nicht lange zu beraten und schwuppdiwupp waren wir unsere Bryan-Adams-Tickets wieder los.
Zurück am Schalter mussten wir nun schon 15 Minuten warten, bekamen aber ohne Probleme vier neue Eintrittskarten. Ohne groß zu überlegen, rannten wir die Straße hinunter und flüsterten den ankommenden Rockfans zu: „Braucht ihr noch ne Karte? Nur 30 Mark.“ Viele staunten nicht schlecht: „Gibt’s denn keene mehr vorne?“ – „Nee, total ausverkauft“, antworteten wir mit verschwörerischer Miene. Recht schnell brachten wir die heiße Ware an den Mann.
Zum ersten Mal ahnte ich, was meine Mutter unter „Bückware“ verstand. Wir spurteten zum Eingang zurück und reihten uns in die lange Schlange des Kassenhäuschens ein. Sie stellten uns keine Fragen, für wen wir die vielen Tickets brauchten und verkauften uns acht neue. Gegen 19 Uhr waren wir die reichsten Jungs von Berlin-Weißensee. Zwei allerletzte Tickets hatten wir nicht verscherbelt und so gingen wir freudestrahlend auf das riesige Openair-Gelände der Radrennbahn. Doch von Bryan Adams kann ich nicht viel berichten; ich lief mit 800 Mark in kleinen Scheinen in ausgebeulten Hosentaschen zwischen den 80.000 Menschen umher und dachte die ganze Zeit nur an eines: Du musst die Kohle sicher nach Hause bringen!
Olly ich

Doch das Erlebnis war nicht einmalig und längst nicht unerreicht …

Als ich am 7. März 1988 morgens in die Schule kam, wusste ich noch nicht, dass ein besonderer Tag meines Lebens vor mir lag. Sabine aus meiner Klasse und Vorsitzende unseres Freundschaftsrates passte mich auf dem Flur ab und sagte zu mir, dass sie drei Eintrittskarten für eine westliche Musikgruppe bekommen hätte, welche sie an Schüler mit besonders guten gesellschaftspolitischen Leistungen verkaufen sollte. Obwohl ich wusste, dass Sabine ein gewisses Faible für mich hatte, wollte ich mich gerade umdrehen und sagen, dass sie sich ihre Karten sonst wohin stecken könnte. Auf die Bands, die in die DDR eingeladen wurden, konnte man in der Regel locker verzichten. Die 15 Mark machten mich jedoch stutzig; das waren ja kanadische Bryan-Adams-Preise. Deshalb fragte ich freundlich: „Welcher bedeutende Künstler beehrt denn unser sozialistisches Heimatland?“ Die Antwort ließ mich erstarren. Ich, der 16-Jährige, neuerdings dauergewellte Junge, hörte den Namen wie einen Donnerschlag: „Depeche Mode.“
„Zeig her!“, brüllte ich und entriss ihr die bräunlichen Pappkarten. Da stand es, schwarz auf braun: „FDJ & DT64 Geburtstagskonzert: Depeche Mode am 7. März in der Werner-Seelenbinder-Halle, Einlass 18 Uhr“.
Icke Bad Boy
Wir standen uns schweigend gegenüber: auf der einen Seite der größte DEMO-Fan Ostberlins und auf der anderen die Frau mit den magischen Papieren. Die Band war zu diesem Zeitpunkt die bedeutendste Rockgruppe, das sagte zumindest Dejans Bravo, egal ob in Ost oder West; sie waren die Superstars, die Beatles unserer Generation.
Ich (!) war es doch gewesen, der die ersten Lieder der Engländer auf unseren Schuldiskos gespielt hatte. Mein jugoslawischer bester Freund Dejan hatte mir (!) doch die erste Platte zum Freundschaftspreis von 100 DDR-Mark und das Poster aus Westberlin mitgebracht. Mein Vater nannte mich (!) doch nur noch People A (und Benny People B), weil selbst ihm schon das „People are People“ ein Ohrwurm war. Eigentlich hatte ich (!) Depeche Mode in der DDR eingeführt, noch bevor sich alle Mädels in die Bandmitglieder verliebt und man zu ihren Liedern Breakdance auf den Schulhöfen getanzt hatte. Scheiße, ich (!), der Typ mit den blonden Martin Gore-Locken, verdiente diese Karte.
Sabine merkte nicht, dass ich ganz blass um die Nase geworden war und sie ahnte auch nicht, dass ich für meine Depeche Mode-Dauerwelle zwei Stunden lang beim Frauenfrisör äußerst verschämt aus dem Fenster geschaut hatte und zu Hause „Zwergpudel“ genannt wurde. Ich säuselte ihr lieblich ins Ohr: „Mensch Sabs, da können wir doch nächste Woche mal zusammen ins Café am Leninplatz gehen. Was hältst Du davon?“ Sie schaute mich skeptisch an und lächelte: „Aber nur, wenn Du bezahlst.“ Natürlich ginge das, ganz klar, drei Schweden-Eisbecher mit extra viel Eierlikör – ich musste bloß lebend mit dieser Karte aus dem Zimmer kommen. Sie zwinkerte mir zu und drückte mir das wichtigste Stück Papier meines bisherigen Lebens in die Hand. Wow – ein Depeche-Mode-Ticket!
People A und B
Natürlich gab es an diesem Schultag noch großen Ärger wegen der Verteilungskriterien der Karten. Wütend wurde Sabine beschimpft, dass die Tickets nicht ordnungsgemäß an die besten FDJler und anständigsten Menschen vergeben wurden, aber ich besaß eins und würde es auch nicht wieder hergeben. Am Abend fuhr ich ganz allein mit der Straßenbahn zum Konzert ins Glück. Die Sache hatte sich herum gesprochen. Vor der Halle gierten tausende aufgeregte Leute nach Karten. Man munkelte, dass 6.000 Tickets im Umlauf und diese nur an vorbildliche FDJler (wie mich!) verteilt worden waren.
Es gab regelrechte Tumulte, viele versuchten über die gut geschützten Zäune hinein zu kommen, einige hatten sich schon am Vormittag im Innengelände versteckt. Alle anderen versuchten auf legale Weise, an die Tickets zu gelangen – für illegal viel Geld. Ich sah keinen einzigen Menschen mit blauem FDJ-Hemd, fast alle trugen Schwarz von Kopf bis Fuß. Hunderte sprachen mich an und boten mir Schwindel erregend viel Geld – einer sogar sein Moped der Marke Simson. Bei eisiger Kälte und leichtem Schneefall schüttelte ich erbarmungslos den Kopf. Dass die beiden anderen Karten besitzenden Mädels aus meiner Schule diese für je 800 Mark verscheuert hatten, erfuhr ich erst am nächsten Tag. Ich hatte drei Monate später 27 Bryan-Adams-Tickets dafür gebraucht!
Endlich war ich drin, mein Kopf glühte und mein Herz pochte, als tausende Menschen die Vorband „Mixed Pickles“ von der Bühne buhten. Ich kämpfte mich bis ganz nach vorn durch und nachdem die Band unseres Jahrzehnts das erste Lied unter ohrenbetäubendem Lärm noch hinter einem geschlossenen Vorhang gespielt hatte, begrüße Dave Gahan eine durchdrehende Meute. Ich verstand nur irgendetwas von „East Berlin“, denn rechts und links von mir gab es kein Halten mehr. Die vollkommen überfüllte Halle tobte, sprang und sang, wie ich es nie zuvor (und danach) erlebt habe. Was für eine geile FDJ-Veranstaltung!
Demo-Ticket (2)
Es war das Konzert meines Lebens. Nach dem vierten Lied bekam ich keine Luft mehr und schaffte es gerade noch, ohne zusammenzubrechen etwas weiter nach hinten. Zwei Songs später drängelte ich erschöpft zum etwas leereren Ausgangsbereich. Plötzlich bemerkte ich das niedliche Mädchen neben mir; auch sie schien vollkommen atemlos zu sein. Wir schauten uns lange in die Augen, lauschten der Musik und nahmen uns zärtlich in die Arme. Bald umarmten wir uns immer inniger und sangen gemeinsam die Lieder unserer Helden aus dem Radio. Bei einer herzzerreißenden Ballade zog sie mich plötzlich zu sich hinüber und gab mir den innigsten, wärmsten und schönsten Kuss meines gesamten DDR-Lebens. Nach dem Konzert sahen wir uns nie wieder. People are People!

Nachdem ich Sabine tatsächlich drei riesige Becher mit Vanille-Eis, Apfelmus, Eierlikör und Sahne – unsere so sehr geliebten Schweden-Eisbecher – im Café am Leninplatz spendiert hatte, war ich durch das Konzert endgültig zum Musikfan geworden, erlebte später auch Bruce Springsteen in Weißensee und vor allem durch meinen Freund Otmar, der Schlagzeuger war, auch viele kleinere, durchaus ansehnliche und kritische DDR-Bands. Beim Mauerfall war ich 18 – es war nicht zu spät, die vielen verpassten Gelegenheiten nachzuholen. Ich kaufte und tauschte Schallplatten, ging in riesige Hallen und fuhr auf legendäre, schmuddelige Openair-Festivals. Mit Bestimmtheit kann ich sagen, dass ich die bedeutenden Bands meiner Zeit mindestens einmal live gesehen habe.
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In der Bar in Asuncion, der Hauptstadt Paraguays, war ich der einzige blonde Mensch, der einzige Deutsche und überhaupt der einzige Ausländer. Sylvie hatte sich einen Grippevirus eingefangen und sich frierend richtige Blocker in Tablettenform reingezogen und schlief jetzt tief und fest. Doch mir ging es blendend, also schlenderte ich in die belebte Stadt und fand recht schnell eine gemütliche Kneipe. Nach ein, zwei Bier kam ich mit ein paar hübschen Mädchen ins Gespräch, die vorschlugen, noch gemeinsam in eine benachbarte Kellerbar zu gehen. Ich ließ mich überreden, doch in dem Lokal wurde mir schnell klar, dass ich in einer Karaoke-Bar gelandet war. Aber egal – ich war gut drauf, angeheitert und sowieso noch nie in so einem Ding gewesen.
Weitere Freundinnen der Mädels kamen an unseren Tisch und orderten verführerisch lächelnd noch mehr alkoholische Getränke für mich. Die hiesigen Menschen sahen fantastisch aus, irgendwie geheimnisvoll, und waren vor allem in einer Art und Weise gastfreundlich, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Plötzlich drückte mir Marcia das Mikrofon in die Hand und die etwa hundert Gäste des Clubs sahen mich erwartungsvoll an. Natürlich konnte ich die Leute jetzt nicht enttäuschen und ließ mir ein Buch mit Plastikseiten geben, in denen die Titel von sicher 500 Liedern standen, die meisten davon in Spanisch. Als ich es fast schon aufgeben wollte, entdeckte ich jedoch einen Song, den ich kannte. Vor einer begeisterter Meute sang ich lauthals „People are People“ von Depeche Mode ins Mikrofon. Ich war jetzt endgültig der ausländische Star des Abends.
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Zum Weiterlesen: People A, People B bei Spiegel Online
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Zum Gesamtkunstwerk: Mauergewinner oder ein Wessi des Ostens
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