1996 Santiago Zimmerleute
Ein trauriger Blick zurück. Jeannet steht vor dem Check-In und weint mit rot unterlaufenen Augen. Ich winke ein letztes Mal und verschwinde dann um die Ecke. Auch mir kullern warme Tränen über die Wangen, die ich mir mit dem Ärmel vom Gesicht wische. Betröpfelt reihe ich mich in die Schlange ein und besteige den Flieger. Wir verabschieden uns in unterschiedliche Richtungen im Leben.
Ich bin jetzt fast 25. Seit dem Mauerfall hatte ich nur herumgelungert und mich mit Nebenjobs über Wasser gehalten. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich endlich einmal etwas Sinnvolles anpacken müsse. Doch was, wann und wo? Spontan hatte ich mir einen Flug nach Santiago de Chile gebucht. Auf dem Ticket schien „Ausgang aus der Verwirrung“ zu stehen. Die sieben Wochen würde ich ernsthaft dazu nutzen, um über meine Zukunft nachzudenken.
So groß der Abschiedsschmerz auch war: der Flieger saugt mich in eine andere Welt. Wie auf Knopfdruck kehrt diese intensive Neugier nach dem Fremden zurück. Ich weiß, dass ich jetzt einfach nur abwarten muss, dass etwas mit mir passieren wird. Nur unterwegs entdecke ich Dinge und mich ständig neu. Wie zur Bestätigung, setzen sich zwei Jungs neben mich und grüßen auf Deutsch. Sven aus Braunschweig und Jörg aus Zürich sehen sehr speziell aus. Ich hatte zwar schon einige durch meine Stadt laufen sehen, aber nie geahnt, dass ich die ersten auf einem Flug nach Südamerika kennen lerne.
Beide tragen weite schwarze Schlaghosen aus Cord, dazu passende Westen und ein Jackett mit großen Knöpfen. Darunter weiße Hemden und Krawatte. Sven hat einen Hut mit breiter Krempe und Jörg einen Zylinder auf dem Kopf. Es sind Zimmerleute auf der Walz. Ihre Habseligkeiten hatten sie in einem kleinen Bündel (Charlie) zusammen mit ihrem Stock (Stenz) in den Ablagen verstaut.
Begeistert lausche ich den Geschichten ihrer Wanderzeit und stelle fest, dass es, sobald wir die deutsche Grenze überflogen haben, kein Ost oder West, arm oder reich, schlau oder ungebildet mehr gibt. Alles, was jetzt noch zählt, ist Sympathie. Der Schweizer schüttet mir mitten in der Nacht ein Bier über den Schädel, da er der Meinung ist, dass wir jetzt Äquatortaufe feiern müssten. „Bist du bescheuert oder was?“, schreie ich künstlich entsetzt, aber er hat ja recht, auch ich überquere erstmals diesen Breitengrad. Die Jungs sind sympathisch!
Da sie ohne Reiseführer nach Chile fliegen und kein Wort Spanisch sprechen, fragt Sven mich, ob wir die ersten Tage gemeinsam verbringen können. Als wir in die Stadt fahren, beobachte ich, wie sie ihre ersten südamerikanischen Eindrücke gierig aufsaugen. Santiago wirkt im Gegensatz zu Mexiko City modern, sauber und unaufgeregt. Nur die Außentemperaturen lassen zu wünschen übrig. Ich Idiot fliege in den chilenischen Winter, während in Europa gerade bei Sonnenschein die Fußball-EM zu Ende geht. Diese Reise war mir wirklich wichtig gewesen!
Um dem Jetlag zu entgehen, kaufen wir Rotwein und beginnen im Hotel, mit einer Streichholzschachtel zu spielen. Derjenige, der an der Reihe ist, schnippt sie in die Luft und je nachdem auf welcher Seite sie landet, gibt es verschiedene Punkte. Wer die siegbringenden 22 Zähler als Erster erzielt, muss aufspringen und „Leckarsch“ brüllen. Wir lachen Tränen und duellieren uns bis tief in die Nacht.
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Am nächsten Tag fallen wir nicht nur beim Bummel durchs Kneipenviertel „Bellavista“ und der Fahrt mit der Seilbahn auf den Hausberg auf. Während für uns der Panoramablick auf die von den Anden umrahmte Stadt eine Sensation ist, sind wir es für die Einheimischen. Ich passe als großer, blonder Typ schon nicht so recht ins Stadtbild, doch die Wandergesellen sind der Knaller. Überall verursachen wir einen kleinen Menschenauflauf. „Carpintero“ (Zimmermann) wird das dritte Wort, was Sven und Jörg auf Spanisch lernen. „Tres cervezas“ (drei Bier) waren die ersten gewesen. Doch auch ich bin fasziniert von den beiden. Mit einer fast kindlichen Naivität erkunden sie die Stadt, schäkern grinsend mit den Frauen, bringen Kinder zum Lachen oder ziehen charmant vor älteren Herren den Hut. Aber ich beneide sie nicht nur um ihre Ausstrahlung. Sie verkörpern in meinen Augen das Wort „Freiheit“ in Reinkultur. Sie können jederzeit überall hinfahren, arbeiten und einfach wieder abhauen. Es gelten immer nur ihre eigenen Regeln. Sie sind unabhängig und mindestens für drei Jahre und einen Tag unterwegs. Ich wäre gerne wie sie.

Gut gelaunt kehren wir zurück. Vor unserem Hotel wird gerade ein Film gedreht. Schnell kommen wir, mit einem Becher „Gato Negro“ Rotwein in der Hand, mit den Akteuren ins Gespräch und da zumindest ich ein paar Brocken verstehe, erfahren wir, dass sie einen Kinderfilm produzieren. Wir genießen die angenehme Stimmung in der Abenddämmerung und versuchen die Handlung herzuleiten. Tief in der Nacht – wir spielen längst wieder „Leckarsch“ – haben die Geschehnisse so eine Eigendynamik entwickelt, dass wir uns nur noch mit unseren neuen Namen ansprechen: Sven ist nun „Ulf der irre Igel“, Jörg „Klaus-Dieter das lachende Lama“ und ich bin „Tobias das gütige Gürteltier“.

Am nächsten Tag fahren wir ans Meer und behalten die Namen einfach bei. Wir übernachten in einem Kaff, auf dessen Fischmarkt etliche Seelöwen und Pelikane herumlungern, bevor es weiter nach Cartagena geht. In einem Restaurant lernen wir Chilenen in unserem Alter kennen. Trotz Sprachbarrieren mögen wir uns auf Anhieb und quartieren uns in deren Hostal ein. Wir verlieren gegen die Jungs im Strandfußball und beim Wettschwimmen im eiswürfelkalten Meer, was sie dazu animiert, lauthals: „Chi, Chi, Chi, le, le, le“, zu brüllen. Dafür schlagen wir sie locker im Tischfußball und beim „Leckarsch“. Ulf und ich rufen: „Deutsch, Deutsch, Deutsch, land, land, land.“, doch nur die Chilenen hatten es ernst gemeint.
1996 Chile Neruda
Besonders mit Valeria und der kleinen Saqui verstehe ich mich blendend. Bei Kerzenlicht, Wein und Gitarrenmusik erzählen sie mir, dass sie einer linken politischen Gruppe angehören. Ich weiß natürlich, dass sich auch in Chile seit 1989 einiges verändert hatte. Die ersten freien Wahlen nach 15 Jahren Pinochet-Diktatur waren für sie die große Erlösung – der chilenische Mauerfall – gewesen. Ich ahne, was ihnen die neu gewonnenen Freiheiten bedeuten und bewundere sie dafür, dass sie noch immer aktiv an der Neugestaltung ihres Landes mitwirken. Ich bin, obwohl ich Anfang der 90iger noch Juso-Chef von Friedrichshain war, politisch gesehen, extrem ernüchtert und desillusioniert. Eine „unterm Strich zähl ich“-Mentalität hatte langsam von mir Besitz ergriffen.
Beim Ausflug nach Isla Negra zeigen sie uns voller Stolz das Arbeitshaus von Pablo Neruda. Die Ausstellungsräume gleichen einem voll gestopften Museum, da der Literaturnobelpreisträger scheinbar von einer ungeheuren Sammelleidenschaft besessen war. Alle Zimmer sind voller Kitsch und Tinnef. Trotzdem ist es ergreifend, durch die Wohnräume von Chiles größtem Poet und Messie zu wandeln. Ein verloren geglaubtes Gefühl kehrt zurück. Die Bibliothek meiner Kindheit hieß aus Solidarität mit dem chilenischen Volke „Pablo Neruda“. Ich nehme Valeria und Saqui in die Arme. Was würde ich den Mädels wohl in Deutschland zeigen wollen?
In den Adern von Saqui fließt das Blut der Mapuche-Indianer. Blauschwarze Haare bedecken ihren fast kreisrund wirkenden Kopf und ihre Nase ist fast so breit wie der immer lächelnde Mund. Mit den dichten Augenbrauen und stolzen Indianeraugen sieht sie eher aus, wie ich mir eine Frau aus dem äußersten Norden der Erde vorgestellt hätte. Ich nenne sie deshalb: Eskimo. Obwohl es zwischen uns, außer herzlichen Umarmungen, zu keinerlei körperlichem Kontakt kommt, sehe ich in ihrem feurigen Blick, dass dies nicht immer so bleiben müsste.
1996 Chile Mapuche
Um mein Gewissen zu beruhigen, telefoniere ich mit Jeannet. Als ob ich im Ferienlager wäre, erzähle ich überschwänglich, dass ich gut angekommen bin und schon richtig gute Freunde gefunden habe. Sie klingt ein wenig verstimmt und sagt mir, dass ich mich sofort bei Matze melden soll. Wäre wohl wichtig. Außerdem hätte Deutschland das Endspiel der EM erreicht. Diese Info würde mich ja sicherlich auch interessieren. Ihr Unterton irritiert mich. Erst als ich auflege, bemerke ich, dass ich vergessen hatte, „Ich liebe dich“, zu sagen. Ich wähle die Nummer meines Freundes und gehe dann zurück zu den anderen. Ulf Igel und Klaus-Dieter Lama sitzen zusammen mit den Chilenen, brüllen schon wieder „Leckarsch“ durchs halbe Hostal und rücken eiligst einen weiteren Stuhl an den Tisch heran.

Als ich mich in Santiago von den herzensguten Zimmerleuten verabschiede, kullern mir beinahe Tränen über die Wangen. Sie waren mir in dieser Woche richtig ans Herz gewachsen. „Mach’s gut Tobias Gürteltier“, rufen sie zurück und winken ein letztes Mal, bevor sie um die Ecke verschwinden…
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Zum Weiterlesen: 90 Minuten Südamerika
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Kleiner Nachtrag: Kennt die Jungs (Zimmerleute) zufällig jemand? Seit dieser Reise habe ich nur Ulf Igel einmal getroffen und danach beide – in Zeiten ohne E-Mail-Adresse oder Handy – nie wieder gesehen.
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Nur diese Bergleute, aber da waren sie nicht dabei …