Historische Postkarte
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Mein Sohn Klaus war etwa 13 Jahre, als mich einmal mein alter Kumpel Heinz Sachse in Berlin besuchte. Wir redeten in der Küche stundenlang über unsere Jugend und den Krieg – und haben uns kaputtgelacht! Klaus sagte am nächsten Tag bestürzt: „Also wenn man euch so reden hört, wünscht man sich ja fast, dass wieder Krieg ist.“ Ich verstand was er meinte, doch wenn man so eine schlimme Zeit überlebt hatte, will man das Erlebte verdrängen und redet nur noch über die schönen Dinge.

Bei Hitlers Machtantritt 1933 war ich noch keine acht Jahre alt. Zur damaligen Zeit war ich in den Augen der neuen Machthaber ein so genannter „Vierteljude“, da ein jeder Deutsche dazu verpflichtet wurde, seinen Stammbaum drei Generationen zurück nachzuweisen. Mein Großvater mütterlicherseits, der die Nazi-Zeit glücklicherweise nicht mehr erleben musste, war Jude und trug zudem mit „Kohn“ einen typisch jüdischen Namen. Zunächst bekamen wir keine Probleme. Dennoch erinnere ich mich an jenen Novembertag ’38, als man sich überall erzählte, dass die Synagoge in Brand gesteckt wurde und die eintreffende Feuerwehr nur das daneben liegende Polizeipräsidium vor den Flammen geschützt hatte. Ich weiß noch, dass es nach dieser Nacht unzählige jüdische Läden am Ring nicht mehr gab. Auch waren plötzlich einige Nachbarn „umgezogen“ und meine Eltern tuschelten nun öfter in der Küche.

Privatsammlung Höcker
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Tante Agnes klebte sich sogar „arisch“ unter „Kohn“ auf das Klingelschild, damit man sie in Ruhe ließ. Ich verstand das alles nicht, auch nicht, dass sie mir immer, wenn ich in HJ-Uniform bei ihr erschien, mit dem Nudelholz hinterher rannte. Ich dachte, sie mache Spaß, denn ich war ja ein glühender Anhänger und marschierte mit meiner Gefolgschaft immer singend durch die Straßen. Meine Jugend war also eher eine Mischung aus Schule, Schwimmverein und dieser neuen Gemeinschaft der Hitlerjugend.
Ich sah darin nichts Verwerfliches, denn viele Lehrer, Radiosendungen und Zeitungsberichte ließen mich glauben, dass es nichts Ehrenwerteres gäbe.

Zu Hitlers Geburtstag bekamen wir immer eine Bockwurst mit Brötchen und als er 1934 einmal zu Besuch nach Breslau kam, war das ein gigantisches Volksfest. Überall hingen Transparente, unzählige Buden waren aufgebaut und fast alle schwenkten Hakenkreuzfähnchen hinter den Absperrungen der SA-Truppen. Unzählige BdM-Mädels mit geflochtenen Zöpfen versammelten sich vor dem Rathaus und Kreischten: „Lieber Führer sei so nett, komm zu uns ans Fensterbrett. Heil, Heil, Heil.“ Unvorstellbar? Nein! Auch ich reckte den rechten Arm zum „Deutschen Gruß“, als er dann endlich erschien.

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Natürlich wunderte ich mich, dass meine Eltern diese Euphorie nie teilten und erst Jahre später ahnte ich, dass sie mit einem stolzen Hitlerjungen als Sohn nicht über politische Einstellungen haben sprechen können – es wäre für uns durchaus gefährlich gewesen, wenn ich mich in der Schule verplappert hätte.
Meinem Vater, dem langjährigen SPD-Mann und Gewerkschafter war das Hitlerbild, welches ich in der Stube anbringen lassen wollte, gleich zweimal heruntergefallen. Er war eigentlich ein Handwerker mit „goldenen Händen“ und ich begriff nicht, dass es pure Absicht gewesen war. Der „Führer“ hatte bei uns nichts zu suchen und auch in der Nachbarschaft grüßte man sich weiterhin mit „Guten Tag“ statt mit „Heil Hitler“.

Um zu beschreiben, wie schwierig es für mich war, diese Welt zu verstehen, ein Beispiel aus späteren Zeiten: Auf einer Messe traf ich jemanden, der Goldmann hieß. Schnell stellte sich heraus, dass auch er eine „Breslauer Lerge“ war. Mit dem Wissen über Verfolgung und KZs fragte ich etwas genauer nach, da der jüdische Name Goldmann in der damaligen Zeit praktisch nicht mehr existierte. Bis er erwähnte, dass er damals noch Quiel hieß. Ich schaute ihn an und rief: „Mensch du bist das! HJ-Gefolgschaft 27.“

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Obwohl die Kriegsvorbereitungen überall in vollem Gange waren, lebten wir auch zu dieser Zeit – gefühlt – in einer normalen Welt. Im September 1939 spielte mein Vater mit einem Kollegen und Rudi, dem Freund von Tante Agnes, bei uns zu Hause Skat, als wir im Hof militärisches Stiefeltrampeln hörten. „Jetzt hol´n se mich“, rief Vater und tatsächlich hievte er noch an diesem Abend den Pappkarton vom Schrank in dem seine Wehrmachts-Uniform lag und zog wenige Tage später in seinen zweiten Krieg. In den folgenden Monaten stimmten die Erfolgsmeldungen aus unserem Volksempfänger noch mit den Berichten meines Vaters überein. Wir bekamen unzählige Briefe, in denen er uns schrieb, dass es ihm gut ginge und der Krieg bald gewonnen sei. Als er das erste Mal auf Heimaturlaub am Breslauer Hauptbahnhof ankam, sah er aus wie ein „Paket auf zwei Beinen“, so viele Geschenke brachte er mit. Sogar eine geschlachtete Ziege, die wir in einem großen Fest mit den Nachbarn verspeisten, schleppte er in einem Zinkeimer an. Auch für Familien von Freunden, die mit ihm an der Front waren, hatte er stets etwas dabei. Als ich nach dem Krieg einmal bei Heinz Schreckenbach in Westdeutschland klingelte und „einen schönen Gruß von Bruno Schubert“ bestellte, rief seine Frau aus der Küche: „Ach der Horst – das ist ja schön!“ Sie kannte mich nur, weil ich als Jugendlicher zweimal die Präsente meines Vaters vorbeigebracht hatte.

Privatsammlung Höcker
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Ich wurde zunächst von der Hydrometer AG nach der Ausbildung übernommen und 1942 zum Reichsarbeitsdienst in den Sudetengau nach Wichstadl einbestellt. Auch wenn wir dort Bäume fällten und Gräben aushuben, war der „Ehrendienst am deutschen Volke“ militärisch organisiert. In erdbrauner Uniform und mit einer Mütze, die wir aufgrund ihrer Form „Arsch mit Griff“ nannten, sollten wir Achtung vor körperlicher Arbeit bekommen. Ich machte mich wohl ganz gut, denn man wollte mich als Ausbilder da behalten. Eines Tages rief mich der Oberfeldmeister zu sich und sagte mir ab, da ich ja wohl ein „Nichtarier“ sei. Ich akzeptierte es, ohne zu hinterfragen, warum nur Leute mit „Ariernachweis“ andere Menschen ausbilden dürfen. Wahrscheinlich war es mir sogar recht, denn ich wollte ja sowieso lieber als Technischer Zeichner arbeiten.

Doch Ende 1942 kam der Einberufungsbefehl zur Wehrmacht.
Am ersten Tag mussten wir uns um 10 Uhr im Wehrbezirkskommando melden und da ich meinen Kumpel Edmund Schuster unterwegs traf, verquatschten wir uns, sodass wir zu spät erschienen. Der Buchstabe „S“ war schon durch und so saßen bald nur noch wir auf den Bänken im Gang. Ein Offizier kam heraus und rief: „Ist hier noch jemand, der nicht aufgerufen wurde?“ „Ja, wir!“, nuschelten wir kleinlaut. Wir hatten mitbekommen, dass bisher alle nach Brieg, unweit von Breslau, einberufen wurden.

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„Na das passt ja“, rief er, „ich brauche noch zwei Leute für die Kaserne in Breslau am Schwimmstadion.“ Wir schmunzelten und freuten uns, dass Zuspätkommen beim Militär sogar noch belohnt wurde. Gut gelaunt fuhren wir los, doch der Posten am Eingangstor sagte verwundert: „Die Ausbildungskompanie ist nicht mehr hier.“ „Wo ist die denn jetzt?“, fragte ich entsetzt. „Na in der Kürassierkaserne.“ Volltreffer! Das war in unmittelbarer Nähe von meinem Zuhause – besser hätte es nicht laufen können. Als wir die Anlage erreichten, war es bereits später Nachmittag. Wir meldeten uns beim Hauptfeldwebel, der uns mit den Worten begrüßte: „Unsere Rekruten beginnen doch erst nächste Woche.“ Edmund reagierte trocken: „Das ist ja nicht so schlimm, dann kommen wir eben erst nächste Woche wieder.“ „Nee, nee Jungs, wer hier einmal hineingekommen ist, kommt so schnell nicht wieder raus“, antwortete der neue Vorgesetzte grinsend.

In der Kleiderkammer händigten sie uns die Uniform und alle anderen Utensilien aus, doch als wir unsere Stube betraten, beobachteten wir, dass nach und nach die Leute die Kaserne wieder verließen. Ungläubig fragte ich einen Kerl: „Habt ihr denn Ausgang?“ Er antwortete beiläufig: „Bei uns gibt es keinen Ausgang. Wir haben um 18 Uhr Dienstschluss.“ Wir schlussfolgerten also: da hier viele Bedienstete in der Verwaltung arbeiteten, die einfach nach Hause gingen, fielen sicher auch Rekruten gar nicht auf, wenn sie abends durchs Tor marschierten. „Ihr müsst bloß Glück haben, dass nicht gerade Alarm ist und vor 24 Uhr zurück sein.“ Ich hatte an jenem Tag um 9 Uhr die elterliche Wohnung verlassen und stand also abends um 19 Uhr bei meiner Mutter vor der Tür und fragte, was es zu Essen gäbe. Nachdem sie den Schreck überwunden hatte und ich ihr klarmachte, dass ich nicht desertiert wäre, stellte sie mir glücklich lächelnd einen Teller Bohnensuppe vor die Nase.
Das war also die Wehrmacht. Eine Art Cowboy- und Indianerspiel, bei dem es einfach nur darum ging, Glück zu haben und möglichst clever zu sein. Im Prinzip alles ganz simpel!

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Im Februar 1943 brüllte Goebbels im Berliner Sportpalast, seine berühmt berüchtigten Worte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ und Anfang März, ich war noch keine 18 Jahre, saß ich in einem Zug gen Russland auf dem Weg an die Ostfront. Beim Abschied hatte ich meine Mutter sehr lange umarmt und ihr ins Ohr geflüstert: „Jetzt ist der Vater bald zu Hause, denn nun kommen wir ja und machen Schluss!“ Ich ahnte nicht, dass mich nun die Hölle auf Erden erwarten würde, dass ich meine Eltern und die geliebte Heimatstadt sehr lange nicht mehr sehen würde. An diesem Tag wurde mir ein Stück meiner Identität, ein Teil meiner Vergangenheit und für lange Zeit auch das Gefühl der Geborgenheit genommen.

…lest auch im dritten und letzten Teil dieser Leseprobe wie Schubert 1953 die Rückkehr in seine Heimatstadt erlebte.

Hier gehts zurück zum ersten Teil und zum Weiterlesen: Alles ganz simpel
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