BrasilTosende Wellen ersticken den Wind und eine urwüchsige Brandung übertönt jedes andere Geräusch, obwohl all meine Freunde zu juchzen scheinen. Seit zwanzig Minuten kämpfen wir nun schon mit den Wassergebirgen – stürzen uns, sobald ein neuer Brecher heranrollt, auf seinen Kamm und rasen auf ihm mit aller Gewalt in Richtung Strand. Ich habe ein gutes Timing für den Absprungs-Moment auf die weiße Schaumkrone und würde einen internen Bodysurf-Cup wahrscheinlich gewinnen. Oftmals zische ich fast bis zur Uferkante, um mich mit aufgeschürften Knien sofort wieder knapp sechzig Meter in die aufgewühlte See zu stürzen. Plötzlich sehe ich Danny, die als einzige draußen geblieben war, hektisch am Strand winken. Sie möchte uns etwas zurufen und deutet mit dem Zeigefinger aufgeregt in Richtung der sich vor uns auftürmenden Brecher.
Ich habe keine Ahnung, was sie will, denn wir sind hier im brusttiefen Wasser nicht sonderlich in Gefahr und auch ein Tsunami rollt gerade nicht gen Küste. Sylvie, Jenna und Erni bemerken das wild gestikulierende Rumpelstilzchen erst gar nicht.
IMG_5741
Doch da sie mit ihrem Gezappel gar nicht mehr aufhören will, lasse ich mich im Weißwasser an die Küste fluten und auch Sylvie, Erni und Jenna waten alsbald an Land. Danny kommt uns entgegen und brüllt: „Habt ihr denn nicht die Delfine gesehen?“ „Welche, was?“, nuschelt Erni, wie immer ein wenig begriffsstutzig. „Mensch! Delfine, die direkt hinter euch in die Luft gesprungen sind!“, ruft sie entsetzt, ob unserer Blödheit. Und richtig, als wir den Hügel, dort wo unsere Sachen liegen, erklommen haben, sehen wir unzählige Finnen der grazilen Wesen unmittelbar hinter der ersten sich brechenden Welle aus dem Wasser ragen. Dann hebt einer ab. „Wow, Scheiße“, stottern wir im Chor, da zwei von ihnen dabei fast schon akrobatische Figuren vollführen. Wir befinden wir uns an der Baia dos Golfinhos und hätten soeben die magischen Tiere der Meere fast berühren können. Als ich das allmählich realisiere, ist Danny längst in Richtung Pazifik gestürzt und auch Sylvie und die Jungs folgen ihr im Laufschritt. Nur ich setze mich in den warmen Pulversand.
Dies ist nun meine zehnte Reise nach Lateinamerika. Anfangs war ich oftmals ohne Sinn und Verstand durch diese exotischen Länder getingelt und hatte nie hinterfragt, warum ich das eigentlich tat. Doch mittlerweile kann ich das Augenblicksglück einfangen, weiß um meine Sterblichkeit und genieße Momente, die es nur im Hier und Jetzt gibt. Das ist so einer.
IMG_5726
Ich schaue Danny und Erni hinterher, die im Gegensatz zu Sylvie und Jenna schon die letzte Welle bezwungen haben. In Zeitlupe sehe ich sie im delfinverseuchten Wasser als Punkt am Wellenhorizont verschwinden. Sie spüren dabei sicher gerade die kribbelnde Freiheit zwischen ihren Fingern. Gebannt beobachte das Schauspiel.
Die beiden sind zum ersten Mal in Südamerika und seit unserer Ankunft beneide ich sie darum, dass sie viele Gefühle auf diesem Kontinent gerade zum ersten Mal in ihrem Leben verspüren. Ich bin eben schon mit Delfinen geschwommen, hatte ihre elastische Haut befühlt und danach fast geflennt. Mit leuchtenden Augen reisen die „Neuen“ seit Tagen mit uns durch das Brasilien. Danny, die in der Heimat kaum mit Fremden redet und wegen Kontaminierungsgefahr am liebsten den ganzen Tag mit Handschuhen herumlaufen würde, gibt sich besonders volksnah und berührt jede ihr unbekannte subtropische Pflanze, Korallenart und sogar Käfer oder Insekten mit einer ansteckenden Neugier. Und Erni, der niedlich sächselnde Sachsen-Anhalter, findet sowieso alles „Dib Dob“ (Tip-Top). Ich würde vieles dafür geben, bestimmte Gefühle auch noch einmal, zum ersten Mal so intensiv zu spüren. Eine Sehnsucht, so groß wie der Pazifik. Sylvie winkt mir lächelnd aus diesem zu. Ich leihe mir ein Surfbrett von den Strandnachbarn und paddele meiner Freundin und den Flippern entgehen. In diesem Augenblick ahne ich: So glücklich werde ich nie mehr im Leben – kurz vor einem WM-Spiel mit eigener Eintrittskarte – sein. Niemals!
P1010435
Wir befinden uns in Praia de Pipa. Das ehemalige Geheimtipp-Dörfchen an der brasilianischen Ostküste, welches sich an vertikale Klippen mit dahinter liegendem atlantischen Regenwald und die vielleicht schönsten Strände des Landes schmiegt, beherbergt in seinen unzähligen Pousadas zur Zeit fast ausschließlich Fußballfans aus aller Welt. Das sonst so hippe Örtchen ist dem WM-Fieber erlegen, da es zu den Spielorten nach Recife, Natal und Fortaleza nur einen Katzensprung ist – in südamerikanischen Maßstäben.
Wir waren drei Stunden zu sechst in einem Kleinwagen durch endlose Zuckerrohr-Plantagen gefahren. Mit der Pousada Tartaruga (Schildkröten-Pension) hatten wir nicht nur eine Traumunterkunft gefunden, sondern auch den Beweis erbracht, dass es während der WM 2014 möglich ist, sehr gut und günstig zu übernachten, ohne vorgebucht zu haben. Uns alle macht das in Hinblick auf die nächsten Wochen Hoffnung. Der Wohlfühlpool inmitten von acht Bungalows gehört uns allein und kleine Weißbüscheläffchen beobachten uns beim Frühstück.
P1110115
Jeden Nachmittag treffen sich die verschiedenen Länderfraktionen zu „ihrem“ Spiel und besonders bei den Knaller-Partien wie Brasilien gegen Mexiko, Spanien gegen Chile oder Uruguay gegen England explodieren die Kneipen entlang der sandigen Wege regelrecht. Trotz unerwarteter Niederlagen des einen oder anderen Favoriten geht es in Pipa harmonisch zu. Fast alle scheinen eine relaxte Zeit im tropischen Paradies verbringen zu wollen und selbst die krebsroten Briten kloppen niemanden auf den Kopp nach ihrem Ausscheiden nach nur zwei Spielen. Das Brasilien-Match gewinnen – in Fangesängen gemessen – sogar ihre Gegner. Die Mexikaner gehen emotional total durch die Decke! Mit Sombreros oder verrückten Boxer-und Rugbymasken bekleidet, schreien und singen sie fast ununterbrochen. Es hilft, denn ihr Team holt ein erstaunliches 0:0 gegen die Gastgeber.
Selbst die US-Boys treten geschlossen herzlich auf. Soccer ist in den USA traditionell eher ein Spiel der Looser, aber eben auch eines für Andersartige. Fast alle Typen sind schwerstens tätowiert, tragen Rasta, Iros oder lange Mähnen und zerzauste Bärte. Ein wilder Haufen! Zwei offenherzige Brüder – aus dem unaussprechlichen Massachusetts – lernen wir näher kennen und verbringen mit ihnen einen lustigen Abend in einem Rodizio, wo sie köstliches Fleisch mit Fleisch servieren.
P1110138
Und obwohl Deutschland im hiesigen Zeitfenster gar nicht spielt, strecken uns alle im Dorf die Daumen entgegen sobald sie erfahren, dass dies unser Heimatland ist. Der glorreiche Sieg gegen Portugal hat Eindruck geschunden. „Muito bom“. So kann es weitergehen!
Auch an den Stränden, mit solch klangvollen Namen wie Baia dos Golfinhos, Praia do Madeiro oder Praia do Amor, liegen überall Leute aus den Teilnehmerländern der Fußball-WM herum. Sie sind immer gut zuzuordnen, da fast jeder – trotz dreißig Grad im Schatten – voller Stolz das Trikot seines Teams am Meer spazieren trägt. Nur die dunkelhäutigen Brasilianer und rothäutige Engländer zeigen durchtrainierte Bäuche oder Wampen. Allerdings hat kaum jemand Frauen mit dabei – auch die anderen Deutschen nicht. Wir sind da eher die Ausnahme, aber ich glaube, dass Danny und Sylvie die Pfiffe und Blicke innerlich genießen.
Wir machen einen Fehler: satt noch einmal den Hügel mit Panoramablick auf die Delfinbucht zu erklimmen und vor dem Riff mit unseren neuen Freuden im lärmenden Geschnatter um die Wette zu surfen, laufen wir rechterhand an eine andere Bucht von Pipa. Dort wehen rote Fahnen vor blauschwarzen Wellenmonstern und niemand ist im Meer. Freund Erni, dessen Mansfelder Dialekt oftmals ein bisschen dümmlich klingt, wobei er vermutlich der Intelligenteste unserer Truppe ist, ruft dennoch: „Also ich geh jetzt rinn in die Brühe“. Niemand hindert ihn daran.
Wir bestellen jeder ein großes, auf 7 Grad heruntergekühltes Brahma und vertiefen uns in die von mir so geliebten „Dämlich-Laber-Gespräche“. Nach zehn Minuten sehe ich jemanden im Ozean aufgeregt mit den Armen wedeln. Das Problem: jeder würde seine Bewegungen wahrscheinlich als Winken, Freude oder Euphorie deuten, doch ich sehe auch aus der Ferne seine stark geweiteten Augen. Diese Unfassbarkeit hatte ich selbst schon einmal erlebt – mein Freund ist in Todespanik.
IMG_1819
Ich springe auf, renne zu ein paar Typen, die gelangweilt mit ihren Surfbrettern im Sand liegen und schreie sie in einem Sprachen-Wirrwarr-Mix an. Ich habe Glück, denn einem der Jungs ist sofort klar, was da draußen geschieht. Er spurtet mit dem schmalen Brett unter dem Arm in die schäumende See. Alle sehen, wie der sportliche Typ schon mit den ersten Wellen zu kämpfen hat, um sich Erni auch nur ansatzweise zu nähern. Er riskiert gerade sein eigenes Leben, um einen fremden Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Plötzlich taucht ein weiterer Retter – fast aus dem Nichts – auf und versucht ebenso in Richtung meines Freundes zu paddeln. Er trägt ein gelbrotes Shirt – es ist ein Rettungsschwimmer.
Wenige Minuten später haben sie den noch immer nach Luft schnappenden Schwimmer an Land gezogen. Mittlerweile sind auch meine Freunde um ihn herum versammelt. Der Liveguard fragt in gutem Englisch mit brasilianischer Gelassenheit, ob wir total bescheuert wären? Erst gestern sei ein Argentinier genau an dieser Stelle ersoffen. Erni, der das nicht hört, röchelt: „Alles Dib-Dob!“. Aus dem Augenwinkel beobachte ich zwei halbnackte brasilianische Grazien, die das Schauspiel ziemlich ungerührt beobachten.
P1110154
Wenige Minuten später hat sich die Gruppenkonstellation geändert. Während der fast Ertrunkene mit Sylvie zurück zur Pousada läuft, machen Danny und Jenna Hand in Hand einen Spaziergang am Strand. Nur ich bin geblieben, blicke hinaus aufs Meer und spüre meine eigene Endlichkeit. Die Gedanken spielen verrückt: ‚Wie krass ist das denn? Beinahe wäre diese Reise von heute auf morgen beendet gewesen. Und der arme Typ aus Argentinien. Nicht nur, dass seine Freunde und die Familie um ihn weinen. Er fährt vermutlich zur ersten Fußball-WM seines Lebens und stirbt dann. Vielleicht wird sein Team in ein paar Wochen sogar den Titel holen.‘

Ich habe mich nach dem Abtritt meines Vaters mittlerweile halbwegs mit dem Tod arrangiert, da wir uns ja alle mal verabschieden müssen. Doch in diesem Augenblick wird mir noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie einschneidend und nahezu unglaublich unsere Sterblichkeit eigentlich ist. Wir sollten besser auf uns aufpassen, denn das Leben birgt gerade jetzt eine große Verpflichtung: Wir müssen diesen Scheiß-Pokal nach 24 langen Jahren endlich wieder einsacken!
.
Zum Weiterlesen: 90 Minuten Update
.
.
.