777 salickMeine allererste Fußball-WM auf deutschem Boden! Es hätte ein großes, bedeutendes Ereignis für mich werden können. Aber nein!
Zum einen fand das Turnier auf der falschen Seite der Mauer statt, zum anderen war ich gerade erst drei Jahre alt. Das Endspiel 1974 verlief in etwa so: Mein Vater und mein Onkel Wolfgang haben sich im von uns so genannten „Scheppert-Eck“ Mollstraße / Ecke Hans-Beimler-Straße beim Frühschoppen so dermaßen einen eingeholfen, dass sie beim Finale BRD gegen Holland schnarchend auf unserem Wohnzimmerteppich lagen und ich mit Mutter das Spiel allein anschaute. Die BRD, der kapitalistische Klassenfeind, wurde Weltmeister im eigenen Land und ich – trotz allem – irgendwann zum Fußballfan.

Meine zweite Fußball-Weltmeisterschaft auf deutschem Boden! Es sollte ein großes, ein bedeutendes Ereignis für mich werden. Aber nein!
Ich befinde mich im fußballbegeisterten Südamerika, doch am Tag des bedeutenden Eröffnungsspiels gegen Costa Rica, renne ich im Deutschlandtrikot panisch durch die staubigen Straßen eines bolivianischen Hochgebirgskaffs. Das kann doch jetzt alles nicht wahr sein. Tupiza hat 24.000 Einwohner und niemand interessiert sich hier für Fußball? „Seid ihr alle bescheuert, oder was?“, frage ich fast schon weinerlich in den Kneipen auf meinem Weg. In einer Bar schauen vier junge Kerle gelangweilt zu mir auf. Im Fernseher läuft ein asiatischer Actionfilm in voller Lautstärke. Irritiert hetze ich weiter und ahne langsam, warum sich Bolivien nicht für diese WM qualifiziert hatte.
Endlich sehe ich eine Art Kino, wo ein paar Leute gerade eine große Leinwand aufbauen und an einem antiken Beamer herumfummeln. Das muss die örtliche Fußballkneipe sein, denke ich erleichtert. Ich frage – nur zur Sicherheit – einen der Betreiber: „Futbol después aqui?“ (Fußball nachher hier?). Er schaut mich an, als ob ich nicht ganz dicht wäre und deutet auf ein Plakat im Eingangsbereich. Um 12 Uhr, um 16 Uhr und um 20 Uhr läuft heute der Hau-Drauf-Streifen „Showdown in Seoul“. Das ist das Kino! Ich beginne stark zu schwitzen.
Im Reiseführer hatte ich gelesen, dass sich die berühmten amerikanischen Outlaws Butch Cassidy und Sundance Kid eine beträchtliche Zeit in Tupiza aufgehalten hatten und im Jahr 1908, nach einem Raub im nahe gelegenen San Vicente vom Militär gestellt und bei der Festnahme kaltblütig erschossen wurden. Ich gehe zurück in die erste Kneipe und drohe den bolivianischen „Karatekids“ mit vorgehaltenem Colt, dass ich gleich mit Sylvie zum Fußballschauen vorbeikommen werde.

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Natürlich lege ich nur 50 Bolivianos auf den Tresen und sage mit drei Ausrufezeichen in der Stimme: „Futbol después aqui!!!“ Sie nicken, wenn auch gequält und widmen sich sofort wieder dem herum springenden Freak in der Glotze.
Nun sitzen wir also vor dem Miniaturfernseher mit verrauschtem Bild in der scheinbar einzigen Kneipe, in der das Eröffnungsspiel läuft. Und unsere neuen Freunde sehen aus, als würden sie gerade das Sandmännchen schauen. Für Millionen Deutsche, Europäer, aber eben auch Südamerikaner ist es das Spiel der Spiele, einfach nur deshalb, weil das jahrelange Warten vom Endspiel der letzten Fußball-WM bis zum erlösenden Wiederanpfiff endlich vorbei ist. Der Jubel der Massen im Münchner Stadion, die unter die Haut gehende Stimmung bei den Nationalhymnen, das wunderbare Tor von Phillip Lahm – all das finden die hiesigen bolivianischen Zuschauer ausgesprochen langweilig und am liebsten würden sie sofort in der Halbzeitpause zum Actionfilm auf Kanal 2 zurückschalten. Dabei bestätigen mir nur Tage später sogar einige Engländer, dass das 4:2 gegen Costa Rica fantastisches Entertainment gewesen war. Aber den vier „Chicos“ bedeutet das alles rein gar nichts. So ist meine Fußball-uninteressierte Sylvie, diejenige, die an meiner Seite am zweitlautesten jubelt. Wenige Minuten nach dem stimmungsgeladenen Spiel bereue ich, nicht vor einer Großbildleinwand auf einer ohrenbetäubend lauten Fanmeile in „good old“ Deutschland gestanden zu haben.
In Bolivien wird nur Sekunden nach dem Abpfiff zum Actionkracher zurückgeschaltet. Bedacht zärtlich nehme ich meine Sylvie in die Arme und flehe sie an, schon heute ins fußballverrückte Argentinien zu fahren. Bereits eine halbe Stunde später sitzen wir im Bus an die Grenze. Ich muss zwar fast in meine Wasserflasche pinkeln, so sehr drückt das Siegerbier, aber schon kurz hinter dem Schlagbaum beglückwünscht mich ein argentinischer Grenzer – ich trage noch immer mein Deutschlandtrikot – zu unserem Sieg und erzählt mir, dass die Polen gerade gegen die Ecuadorianer 0-2 verkackt hätten. Ganz Südamerika jubelt nun auch!
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Geschafft! Ich sehe eine Fußball-WM in Argentinien. Im Land von Mario Kempes, Gabriel Batistuta und von Diego Maradona. Das war schon immer ein großer Traum, der nun endlich in Erfüllung geht. Pünktlich zum ersten Spiel der „Gauchos“ landen wir in San Salvador de Jujuy im äußersten Norden des Landes am Ostrand der Anden. Die Menschen sind völlig am Durchdrehen. Es gibt es praktisch kein anderes Thema außer „futbol“. Jede Werbung im Fernsehen – und damit meine ich wirklich jede – dreht sich um das Spiel. Überall hängen Fahnen, Wimpel und Banner aus den Fenstern oder an Laternen und viele Lebensmittel gibt es nun auch in Fußball-Form. Sogar die circa 60-Jährige, offensichtlich halbblinde Friseuse, bei der sich meine Freundin die Haare schneiden lässt, ist so ein riesengroßer Fußballfan, dass sie Sylvie zum Abschied ganz begeistert umarmt und abgeknutscht, nur weil aus „Alemania“ kommt. Schon am Tag vor dem ersten Argentinienspiel laufen tausende Menschen in himmelblau-weißen „Messi“-Trikots durch die Stadt. Den jungen Spieler kenne ich bisher noch gar nicht richtig, weiß nur dass er bei „Barca“ kickt.
Um 15 Uhr, eine Stunde vor Spielbeginn gegen die Elfenbeinküste, sind die Straßen der 230.000 Einwohnerstadt menschenleer. Jujuy hält den Atem an. Kein einziges Auto fährt, es herrscht eine gespenstische Stille und das schmucke Kino hat heute Ruhetag. Nur wir rennen durch die Innenstadt, denn auch in Argentinien scheint Public Viewing ein Fremdwort zu sein. Endlich entdecken wir eine geöffnete Kneipe. Der Pub ist enttäuschend. Es gibt zwar eine Leinwand, doch wir sind umzingelt von zwanzig Familien, die mehr auf ihre schreienden Gören achten, als auf das eigentlich aufregende Spiel zweier guter Mannschaften. Zur richtigen Zeit am falschen Ort. Schon zum zweiten Mal brüllen Sylvie und ich am lautesten herum – von Reporter im TV einmal abgesehen. Sein „Goooool de Argentinaaa!“ dehnt er auf gefühlte fünf Minuten. Wahnsinn!
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Die Einheimischen schütteln über das irre Deutsche Pärchen nur die Köpfe und nach dem knappen 2:1 für die „Argies“ gehen alle brav nach Hause. Kein Autokorso, keine wilde Straßenparty – gar nichts in Downtown Jujuy. Die nordargentinischen Spaßbremsen laufen fast nüchtern nach Hause. Lediglich zwei leicht angetrunkene Deutsche taumeln durch die einsamen Straßen und brüllen „Olé, olé“.
Unverhofft finden wir dann doch noch eine vernünftige Bar wo siegestrunkene Jungs eine Runde Bier nach der anderen auf die „Albiceleste“ spendieren. Wenig später fahren sie eine nationale Spezialität auf. Sie bringen uns einen tiefen Teller mit grünen Coca-Blättern und einen kleinen mit feinem weißem Pulver darauf. Der Kellner schaut uns ermunternd an und da wollen wir ja auch nicht unhöflich sein. Also ab in den Mund und abwarten was passiert. Natürlich ist das weiße Zeug nur ein kalkhaltiger Geschmacksverstärker, der vom etwas unangenehmen bitteren Aroma der Blätter ablenken soll. Trotzdem schniefe ich davon eine gehörige Nase mit einem 100 Peso Schein vom Tisch. In falschem Spanisch rufe ich dem Kellner zu: „Una linea para Argentina“ (eine Linie für Argentinien). Die Leute in der Kneipe und meine nun schon stark schwankende Sylvie finden das lustig. Weil ich bescheuert bin!
Zum ersten Mal nehme ich nun auch die Flimmerkiste über dem Tresen wahr. Sie bringen ununterbrochen hintereinander die Wiederholung des Argentinien-Spiels. Augenblicklich denke ich: ‚Spielfilme wird es im Lande Maradonas wohl bis zum Abpfiff der WM nicht mehr im Abendprogramm geben. Keine argentinischen, keine englischen und vor allem keine asiatischen Actionfilme. Solamente futbol.’

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