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Hohe Wellen türmen sich vor mir auf und plötzlich springen zwei Delfine über die Schaumkronen. Langsam kommen sie mir entgegen geschwommen und lassen sich schließlich sogar berühren. Ein Glücksschauer läuft mir über den Rücken, als meine Hand über ihre elastische Haut gleitet. Ich hatte das immer als Unsinn abgetan, doch die beiden scheinen mich tatsächlich anzulächeln. Selbst als ich längst mit einer Zigarette am Strand sitze, strecken sie uns vergnügt die Köpfe entgegen. Sylvie legt einen Arm um mich. Unsere Zehen berühren die angespülte Brandung. Gebannt schauen wir aufs Meer und beobachten das einmalige Schauspiel. Ich weiß in diesem Moment: So glücklich werde ich nie mehr im Leben – vor einem WM-Halbfinale mit deutscher Beteiligung – sein. Niemals!

Wir verlieben uns sofort in das kleine Örtchen Itaunas mit seinen sandigen Wegen. Eine Pousada ist hier schöner als die andere und schließlich finden wir eine Traumunterkunft mit Pool und gemütlichen Hängematten vor den Zimmern. Marie zeigt uns den Weg zum Strand. Wir überqueren einen Fluss und hinter dem Nationalparkschild verstehen wir, warum alle Gassen des Ortes so weichgespült aussehen. Die sich vor uns auftürmenden Wanderdünen wehen unablässig beigefarbenen Sand in den Ort hinein. Dahinter liegt der blaue Atlantik.
Rechtzeitig sind wir zurück, duschen und streifen unsere Trikots über. Überall im Ort liegen grün-gelb-blaue Girlanden im Dreck. Brasilien hat abgeschmückt. Wieder einmal sitzen wir allein in einer Kneipe. Deutschland gegen Italien. Das scheint hier niemanden vom Hocker zu hauen. Nach der torlosen ersten Halbzeit gehen wir kurz in unsere Pousada und sehen im Restaurant nebenan, wo sich die Hardcore-Fans des Ortes aufhalten. Hier! Endlich treffen wir Mauro, den italienischen (!) Inhaber unseres Hotels, der uns, trotz falscher Trikotfarben, herzlich begrüßt und sofort mit seinen Dorfkumpels und drei Freunden aus dem Land des Stiefels bekanntmacht. Die zweite Halbzeit beginnt.

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Das Lokal ist in grün-weiß-roter Hand. Mauro und seine Gang tragen Trikots der „Squadra Azzurra“ und eine riesige italienische Fahne hängt von der Decke herab. Brahma-Bier und reichlich Kurze werden gereicht, was die Stimmung zusätzlich anheizt. Ich habe endlich das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Die Hütte brodelt, als ob wir uns in Sizilien befänden. Wir hatten nichts von dem italienischen Sender gehört, der mit seinen Anschuldigungen den Ausschluss von Torsten Frings verursacht hatte. Wir wussten nicht, dass gehässige Internetforen in Deutschland zum „Pizza bestellen“ während des Halbfinales aufgerufen hatten. Wir empfanden auch nicht, dass Italien unberechtigt so weit gekommen war. Dennoch bilden sich sehr schnell zwei Fan-Lager: Sylvie und ich gegen den Rest.
Das Spiel ist nicht gut, lebt aber von der Magenkrämpfe verursachenden Spannung und als nach 90 Minuten noch immer keine Tore gefallen sind, ordern auch wir erste Beruhigungsschnäpse.
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Mauro, der heißblütige und zugleich so schelmisch grinsende Kerl, dessen einziger deutscher Satz: „Du bist eine Scheiße-Italiener“ ist, platziert zur Verlängerung Heiligenfiguren im Raum. Die weihevolle Madonna direkt auf dem Fernseher wirkt in der 119. Minute. Das muss sie, denn Fabio Grosso ist der Torschütze. Der spielt bei Mauros Lieblingsverein: Palermo. Nach dem zweiten Tor dreht unser Hotelier endgültig frei. Die ganz große Freude. Zumindest für ihn und alle Italien-Fans auf dieser Welt.

Erstmals im Leben füllen sich meine Augen wegen eines Fußballspiels mit Tränen und Sylvie nimmt mich tröstend in die Arme. Nach und nach kommen die Gäste an unseren Tisch und drücken ihr Mitgefühl aus. Barbesitzer Cassio stellt die Flasche Cachaça vor uns ab und Mauro setzt sich dazu. Er bettelt fast, dass wir nun bis zum Finale bleiben, in der Suite – ohne Aufpreis. Ich spüre, wie meine Trauer allmählich verfliegt, erhebe mein Glas und rufe: „Du bist eine Scheiße-Italiener!“
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Zum Nachlesen: „Abpfiff am Ende der Welt“ bei Spiegel Online
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