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Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Seit Wochen, nein Monaten wachte ich nun jeden Sonntag gegen 9 Uhr auf, weil irgend so ein Arschloch sein Glas im Hinterhof in den Altglas-Tonnen zerdepperte. Wieder klirrte Glas, doch diesmal reichte es mir und ich sprang auf. Wutentbrannt öffnete ich das Fenster. Ich wollte gerade „Schnauze“ oder „Verpiss dich“ brüllen, als ich meinen Irrtum bemerkte: Es schmiss hier niemand seine leeren Pullen in die Container – es wühlte jemand angestrengt darin herum.

Das Zauberwort, mit dem man in der DDR Flaschen in Kleingeld verwandelte, hieß SERO. Sekundärrohstoffe wie Papier, Gläser, Flaschen, Schrott, Lumpen, Plaste und Elaste gaben die Menschen in den SERO-Sammelstellen ab und erhielten pro Stück oder Kilogramm einige Pfennige dafür. Es hieß, die zahnlosen Leute, die dort arbeiteten, kämen direkt aus dem Knast in Rummelsburg zur Wiedereingliederung zu diesem grauenvollen Job.

In dem alten ausrangierten LKW-Anhänger direkt an der Büschingstraße stank es stets muffig und nach Alkohol. Der Planwagen mit dem SERO-Logo war irgendwann einmal wie ein Fremdkörper zwischen all den zehngeschossigen Hochhäusern mitten auf dem Gehweg abgestellt worden. Unser Mann, Herr Lepro, konnte tatsächlich aus einem Bildband über noch lebende Kinderschänder, Mörder oder Vergewaltiger entsprungen sein. Unrasiert, die Haare klebrig über die Stirn gekämmt und stets übellaunig saß der tätowierte Hüne auf den Stufen der rostigen Treppe, die zu seinem Bauwagen hinaufführten und blickte uns böse an. Er hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Riesen aus der beliebten Kinderserie „Spuk unterm Riesenrad“. Dort stellten sich aber Hexe, Zwerg und auch der Riese schnell als liebenswerte Zeitgenossen heraus. Bei Herrn Lepro war dies nicht der Fall. Der Alkoholgestank im Inneren seines Wagens ging nicht nur von den Hunderten leerer Schnapsflaschen, sondern wohl auch von seinen Atemwegen aus. Seine sozialistische Aufgabe war es, Altstoffe von braven Bürgern gegen Geld anzunehmen und sie in die volkseigene Produktion zurückzuführen.
Vorher war unsere Altstoff-Annahme „jwd“, also „janz weit draußen“ gewesen, und als der Wagen über Nacht plötzlich an dieser Stelle aufgebaut worden war, freuten sich Benny und ich.

Schließlich mussten wir immer Vaters Schnaps- und die bulgarischen Rotweinpullen unserer Mami entsorgen. Mein kleiner Bruder ging jedoch nur wenige Male zum Altstoff-Mann. Klar sah der Typ finster, gemein und hinterhältig aus, aber dass Benny gar nicht mehr einschlafen konnte und Alpträume bekam, wenn er an den Lepro dachte, fand ich ein bisschen übertrieben von dem Kleinen. Na gut: ich hatte Schiss vorm Wäschemann.

Mit seinen dicken Oberarmen stapelte Lepro Papier, Pappe, Schrott und Lumpen bis unters Dach und ließ Flaschen und Gläser in riesige Kisten verschwinden. Da ich nie mitbekam, wann der Wagen geleert wurde, stellte ich mir immer vor, wie Herr Lepro, unser Monster, des Nachts mit riesigen Rucksäcken voller Altstoffe durch Berlin zum zentralen SERO-Hof stiefelte, um sie dort brüllend bei anderen tätowierten Monstern abzuliefern.

Natürlich mussten Altstoffe auch regelmäßig für die Schule gesammelt werden, um die erzielten Erlöse diversen Kindern in Angola, Vietnam und Nicaragua zu schicken. Papier, Schrott und Schnapsflaschen für den Frieden konnten montags ab 7.30 Uhr im Altstoffkeller der Schule abgegeben werden und wurden von den verantwortlichen Schülern in Listen eingetragen – 100 Soli-Punkte brauchte jeder Schüler im Jahr. Wir staunten nicht schlecht, als wir mit einer einzigen großen Fuhre Altpappe, die wir von Bommels Bibliothekars-Mutter geschenkt bekommen hatten, unseren Pionierauftrag des Jahres 1981 übererfüllt hatten. Ab jetzt konnten wir die Sachen also komplett in eigenes Taschengeld umwandeln und schleppten die nächsten Pappen zum Altstoffhändler. Mürrisch drückte uns Herr Lepro zehn Mark in die Kinderhände – jedem! So entstand ein ziemlich ungewöhnliches Hobby für einen Elfjährigen: Altstoffsammeln! Jeder Betrag über zwei Mark war für uns eine unglaubliche Summe und wir hatten durch unseren ersten Zehner Blut geleckt.
Bommel hatte mir von einem Laden in der Torstraße berichtet, der Fußball-Wimpel von allen Oberliga-Mannschaften für acht Mark verkaufte. Als erstes kauften wir uns beide den von Wismut Aue, weil wir die gekreuzten Hämmer und das große „W“ auf lila-weißem Grund so toll fanden.
Wir grasten den kompletten Wohnblock ab, klingelten an jeder Tür und fragten: „Haben Sie Altstoffe?“ Natürlich bekamen wir unsere bunten Stoffbeutel und Netze fast überall prall gefüllt. Viele Leute waren einfach zu faul, die Sachen selbst wegzubringen, und die Menschen soffen zu unserer Überraschung alle so viel wie unsere Väter. In fast jedem Haushalt gab es hinter einem Vorhang eine Abstellnische mit Dutzenden weißer Schnaps- und grüner Weinpullen.

Vor dem fiesen Altstoffhändler Lepro verloren wir langsam unsere Scheu. Wir merkten, dass auch für ihn dieses Geschäft mehr als gut zu laufen schien. Besonders scharf war er auf Zeitschriften, Papier- und Buchlieferungen. Erst Jahre später, als auch ich nach Westzeitschriften, Postern und verbotenen Büchern gierte, wurde mir bewusst, wie viel Kohle der alte Knacki da nebenher gemacht haben musste.
Wir entwickelten eine symbiotische Geschäftsbeziehung. Er bekam seine Westliteratur und wir unsere ostdeutschen Aluminumchips, also DDR-Geld. Wir handelten einmalige Privilegien aus und mussten so nicht mehr die ollen Metall-Ringe an den Flaschenhälsen mit dem verrosteten Schraubenzieher selbst abschlagen, nicht mehr um jedes Gramm Papier feilschen – es wurde auch mal aufgerundet.
An einem kühlen Herbsttag – wir hatten ihn gerade wieder beliefert und abgerechnet – sagte Herr Lepro, dass er noch etwas für uns hätte. Wie immer roch er ein wenig süßlich nach Alkohol, aber seine rot unterlaufenen Augen deuteten so etwas wie ein Leuchten an. Er ging die Treppe hinunter nach draußen vor den Altstoff-Wagen zu einem dunklen Lada, öffnete den Kofferraum und stellte uns grimmig lächelnd einen riesigen selbstgebauten Bollerwagen vor die Füße: „Na, wat sagt ihr nun, Jungs?“ Der wahrscheinlich freundlichste SERO-Mitarbeiter der Welt strahlte.
Mit der neuen Handkarre konnten wir plötzlich viel größere Strecken bewältigen und uns endlich auch in andere Stadtteilecken wagen. Nur ein einziges Mal, in Höhe des Hotel Berolina, trafen wir die wesentlich älteren Jungs der Konkurrenz, die uns deutlich klarmachten, dass wir dort überhaupt nichts zu suchen hatten. Die restlichen, endlosen Häusermeere gehörten uns allein. Vom S-Block bis zum Scheppert-Eck, vom Leninplatz bis zum Märchenbrunnen reichte nun unser Altstoffmonopol.

Wir ließen meine Mutter per Schreibmaschine Zettel schreiben, auf denen stand: „Die jungen Pioniere kommen am: 22.09.1981 zum Altstoffsammeln in Ihr Haus. Bitte stellen Sie Flaschen, Gläser und Altpapier im Müllschluckerraum bereit.“ Auf die Mieter in unserer Gegend war in der Regel Verlass – die Räume waren am gewünschten Tag immer rappelvoll, als hätten sie am Wochenende extra für uns ihre noch halbvollen Pullen ausgesoffen.
An einem kühlen, regnerischen Herbstnachmittag hatten wir geschuftet wie noch nie. Es war die größte und schwerste Altstoff-Ladung zusammengekommen, die jemals in Berlin gesammelt wurde. Unser Wagen war vollkommen überladen und wir mussten beim Transport die gestapelten Papierpakete, Flaschen und Gläser an der Seite festhalten und gleichzeitig mit schier unmenschlicher Kraft ziehen, um das Gefährt in Richtung Altstoffhändler zu bewegen.
Natürlich krachte der Wagen mit einem riesigen Knall ausgerechnet auf der viel befahrenen, vierspurigen Mollstraße auf die Seite. Überall lagen zersplitterte Flaschen Nordhäuser Doppelkorn, kaputte Spreewälder Gurkengläser rollten in Richtung Bordsteinkante und ein dickes Paket gebündelter „Neuer Deutschlands“ fiel auseinander. Und das im Feierabendverkehr.
Schnell bildete sich ein langer Stau wütend hupender Autos. Eigentlich alles kein Problem, doch ausgerechnet meine Mutter hatte das Malheur aus dem Fenster des neunten Stocks beobachtet. Wütend stand sie wenig später mit unserem Besen bewaffnet neben uns und schrie mich an: „Womit habe ich das alles verdient?“ Zum Glück sagte Bommel energisch: „Vielleicht würden Sie uns erst einmal helfen, die Sachen von der Straße zu schaffen, Frau Scheppert.“
Inzwischen hatte sich auf beiden Spuren in Richtung Alex ein langer Stau gebildet. Die widerlich quäkende Trabi-Hupe war aus mehreren Fahrzeugen zu hören. Ein älterer Herr mit Schiebermütze stieg aus dem Wagen und beschimpfte meine Mutter. Eine jüngere Passantin half uns dabei, die überall verstreut liegenden Zeitungen und Bücher, Gläser und Flaschen auf die gegenüberliegende Seite zu schleppen, und eine ältere Dame hantierte wie wild mit unserem Besen herum. Nicht wenige im zweiten Gang vorbeischleichende Wagenbesitzer zeigten uns einen Vogel.

Trotz der vielen Scherben am Straßenrand und einer wirklich mies gelaunten Mutter: Für diese einzige Lieferung bekamen wir genau 96 Mark! Das war Weltrekord, auch für uns, die legendäre
„Altstoff-Mafia“.
Schon mit zwölf hatten Bommel und ich prallgefüllte Sparbücher und die Fußball-Wimpel aller Oberliga-Mannschaften – sogar einige aus der 2. DDR-Liga. Erst mit 14 stellte ich überrascht fest, dass ich mir außer diesen sportlichen Stoffdreiecken davon überhaupt nichts Vernünftiges kaufen konnte. Bei der Währungsunion 1990 waren deshalb noch 1.500 Mark vom damaligen Altstoffgeld übrig, die ich 1:1 in Westgeld umgetauscht bekam – vielen Dank Herr Kohl, Herr Lepro und SERO. Kurz nach dem Mauerfall war der Planwagen so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Den „Herrn der Altstoffe“ sah ich im Leben nie wieder.

Vor einer Woche war es wieder einmal soweit. In unserer Küche stapelten sich kiloweise Papier, reichlich leere Rotweinflaschen, über 50 Bierpullen und allerlei Plastikgelumpe des Coca-Cola-Konzerns. Seit einigen Jahren hat sich die Mülllandschaft gründlich geändert. Auf fast jedem Hinterhof gibt es mittlerweile Papier- und Flaschencontainer. Selbst Pappe und Plastikwaren können wir trennen und in eine scheinbar grüne Welt zurückbefördern. In den Tonnen meines Hauses wühlt sonntags noch immer diese ältere Frau auf der Suche nach versehentlich entsorgten Bier-, Wasser- und Fantaflaschen.

Doch von mir wird sie leider nichts finden. Ich lud mein Leergut in insgesamt 5 große Tüten und machte mich auf den Weg zu REWE. Dort gibt es keinen hilfsbereiten Herrn Lepro. Ein hochmoderner Automat schluckt das Leergut, sogar ganze Bierkästen. Auf Knopfdruck erhält man am Ende einen Bon und an der Kasse das Pfandgeld. Vor mir und der Maschine standen lediglich zwei andere Leute. Nachdem das junge Mädchen etwa die Hälfte ihrer Flaschen in den rotierenden Automaten gesteckt hatte, blieb das Ding plötzlich stehen. Nichts rührte sich mehr und nach mehrmaligem Ermuntern rief der verpickelte Typ an der Kasse endlich ins Mikrofon: „Herr Egner bitte einmal zum Pfandautomaten.“

Herr Egner ging in den Raum hinter dem Automaten. Da er die Tür hinter sich nicht schloss, konnten wir sehen, dass das riesige Förderband komplett mit leeren Flaschen gefüllt war. Das Faszinierende: Das Band musste so oder so manuell geleert werden, also nicht nur im Fall einer Havarie. Wahrscheinlich war Herr Egner sonst immer in diesem Raum und füllte leere Kästen mit Flaschen, die auf seiner Seite aus dem Automaten kamen. Diesmal brauchte er ca. 20 Minuten bis er Bescheid gab, dass es weitergehen konnte. Entnervt drückte das Mädel irgendwann auf den Bon-Knopf und nickte dem Typen vor mir zu. Der hatte einen riesigen Sack mit verschiedenen Plastikflaschen dabei. Einige dieser Wasserpullen nahm der Automat offenbar nicht an, doch er versuchte verzweifelt, jede einzelne mindestens acht Mal in die Öffnung zu schieben. Dort rotierten diese minutenlang bevor der Automat acht Mal das gleiche Ergebnis anzeigte: Flasche nicht erkannt.

Hinter mir standen mittlerweile sicher 15 Leute und nicht wenige davon hätten den Kerl am liebsten erwürgt, bis dieser endlich seinen Bon zog. Zur Freude aller lief bei mir alles glatt, die Flaschen wurden erst vom Automaten und dahinter von Herrn Egner erkannt, entgegengenommen und wenn nicht, warf ich sie lässig in den Müllcontainer. Nach geschlagenen 30 Minuten Wartezeit hatte ich meinen Zettel über 2,48 € in der Hand. Ich schwor mir, dass ich nie wieder Bier trinken oder zumindest nie wieder Flaschen bei einem Automaten abgeben würde.
An den zweiten Vorsatz habe ich mich bis jetzt gehalten.

Zum Weiterlesen: Mauergewinner oder ein Wessi des Ostens von Mark Scheppert


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