P1110239„Geheimnisvolle Wahrsagungen, Spinnen, Krebse und eine innere Stimme sagen mir, dass Deutschland 2014 Fußball-Weltmeister wird.“ Mark Scheppert, Juli 2011
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„Mein Gott, ja, die deutsche Mannschaft hat den WM-Titel geholt. Das ist auch schon alles. Wenn ich nochmal irgendwo lese, wie deutsch alles ist und wie toll oder doof das ist, lasse ich auf den Schreiber einen deutschen Schäferhund los! Oder eine britische Bulldogge, ist mir ganz schnuppe.“ Agnieszka Debska, Juli 2014
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22. Juni 2014. Ein sternenklarer Himmel erstrahlt über der Honiglippen-Bucht von Fortaleza und der Mond übergießt sie mit sanftem Licht. Doch die subtropische brasilianische Stadt schläft noch nicht. Auf der lang gezogenen Strandpromenade spielt sich gerade ein episches Drama ab – und ich bin mittendrin. Vor 30 Minuten hatten wir einen zusammengewürfelten Haufen von Ausländern zusammengestellt, um gegen heimische Jungs in einem spontanen Fußballmatch anzutreten. Sechs gegen sechs mit zwei Wasserflaschen als Pfosten, auf den noch immer warmen Steinplatten der fünftgrößten Stadt des Landes. Es ist ein hart umkämpftes Match mit einem äußerst unerwarteten Zwischenergebnis.
Doch genau in diesem Moment verlieren wir das Leder und die oberkörperfreien Gegner starten einen Angriff. Der Ball läuft plötzlich schnell, gekonnt und über viele Stationen durch ihre Reihen, ohne dass wir eine Chance haben, an ihn zu gelangen. Fast vorhersehbar, gelingt als Abschluss der Stafetten ein sehenswerter Treffer ins lange Eck. Doch kein lauter Jubel oder Freudenschrei ertönt. Ganz im Gegenteil: Der stämmige Anführer des Trupps schnappt sich mit wütendem Gesichtsausdruck den Ball, ruft seiner Clique etwas zu und verschwindet mit ihnen – nachdem sie uns auch noch die Pfosten geklaut hatten – in eine dunkle Seitenstraße.
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„Hey, lasst doch wenigstens den Ball hier“, ruft Erni auf Deutsch hinterher. Doch sie können oder wollen ihn nicht verstehen. Ein Typ, der mir schon im Spiel auf die Eier ging, dreht sich noch einmal um, macht eine eindeutige Handbewegung und rennt dann den anderen hinterher. Wir schauen uns an – und grinsen. Erni stimmt ein Lied von Queen an und zusammen mit den uns bisher so frenetisch unterstützenden Zuschauerinnen schreien wir es in die laue Nacht von Fortaleza. Soeben wurden all meine Zweifel bezüglich eines möglichen WM-Halbfinales gegen Brasilien beseitigt. Selbst wir Anfänger hatten diese eigensinnigen Kids leicht & locker im Team-Play mit 6:1 geschlagen. Und das nur wenige Stunden nach meinem ersten, live im Stadion erlebten WM-Match von Deutschland gegen Ghana! Kann jetzt mal bitte alles kurz stillstehen? Kann diese Welt mal ganz kurz aufhören, sich weiterzudrehen? Es ist ein Augenblick der wie eine Lichterkette durch mein Herz rast. Nur für diese eine Nacht hat sich diese Reise schon mehr als gelohnt!

2006 hatte mir Sylvie die Pistole auf die Brust gesetzt! Weltreise, jetzt, sofort! Ohne Rücksicht auf eine Fußball-WM im eigenen Land. 2014 konnte ich mich revanchieren und ihr eine Panzerfaust an die Schläfe drücken. Die WM in Brasilen, jetzt, sofort! Ohne Rücksicht auf Verluste.
Die einjährige Tour wird wohl die schönste Reise meines gesamten Lebens bleiben und seither bemitleide ich Menschen, die immer mit aller Härte auf ihre Träume eintreten, die stets Zweifel plagen und eine Ausrede finden, allerlei Vorhaben ins Alter zu verschieben. Kennt ihr jemanden, der auf dem Sterbebett bereute, nicht noch mehr Zeit in einem stickigen Büro verbracht zu haben? Brasilien ich komme!

Nach einer kurzen Nacht fliegen wir zu fünft um 7 Uhr nach Lissabon. Dort haben wir Aufenthalt bis 13 Uhr. Wir tuckern mit der U-Bahn in die Altstadt bevor es zurück zum Terminal geht. Als ich dort auf einen der Bildschirme starre, falle ich fast in Ohnmacht. Unser Flug hatte Lissabon um 10.40 Uhr in Richtung Recife verlassen. Mir wird kotzübel und auch Jenna läuft sofort kreideweiß an. Scheiße, haben wir gerade wirklich unsere Brasilien-Maschine verpasst? Die Mädels grinsen – ich würde ihnen am liebsten eine reinzimmern. Freund Erni versteht nur Bahnhof.
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Am Flugsteig herrscht heilloses Durcheinander. Auch vielen anderen Reisenden steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Erst nach zwei quälenden Stunden stellt sich heraus, dass dies der Flieger vom Vortag gewesen war. Wir müssen nun eine Nacht warten. Busse bringen uns in ein Marriott mit Suiten und einem Mega-Pool, doch unser Gepäck ist bereits eingecheckt. Im Schlüpfer hechten wir in hellblaue Fluten während Danny bezahlbares Bier in der Gegend besorgt. Gutes Mädchen!
Um 4 Uhr morgens werden wir wieder zum Flughafen gekarrt. Dort heißt es einmal mehr Warten, doch um 7 Uhr startet unter lautem Jubel endlich der Flieger ins Land von Pelé und Neymar. Um 10 Uhr ist das Bier und um 12 Uhr der Wein an Bord alle!
Anders als geplant, erreichen wir Recife nun gegen Mittag und da der Fahrer nun fast schon einen Tag – mit einem „Mark Scheppert-Schild“ auf uns wartet, lassen wir uns von ihm ins Hotel nach Olinda chauffieren, obwohl wir tagsüber auch mit Bus und Bahn für ein Viertel des Preises hingekommen wären. Die in der Sonne funkelnde Stadt hat sich herausgeputzt. Ein grün-gelbes Girlanden-Meer bis zum Horizont. Brasilien ist im Fußballfieber. Ein Traum wird wahr – mit Zuckerhut!
Da Recife – auch als Austragungsort von WM-Spielen – als gefährliche Metropole gilt, nicht nur weil es in der Stadt, deren Name sich von „Riff“ ableitet, öfter zu tödlichen Haiangriffen kommt, haben wir uns in die historische Altstadt von Olinda, knapp 20 Kilometer entfernt, eingebucht. Doch in dem idyllisch an grünen Hügeln gelegenen Weltkulturerbe-Ort scheint während der Fußball-WM, der Hund begraben zu sein. Alle Kopfsteinpflaster-Straßen entlang pastellfarbener Kolonialhäuser sind zwar reich geschmückt aber fast menschenleer.
In der Pousada „São Francisco“ reichen dann allerdings einige elegante Wörter, um sofort die Herzen der Angestellten zu erobern. „Por favor“ (Bitte), „Obrigado“ (Danke), „Muito bom“ (Super) gehören ebenso dazu, wie „Cerveja” (Bier), „Caipirinha“ und „Cinco mais” (noch fünf). „Brasilianisch” ist eben eine melodische Sprache, die einen gewissen Swing hat und Unbekümmertheit ausstrahlt. Eine Sprache zum Verlieben. Im Pool beginnen wir uns augenblicklich so wohlzufühlen, dass es unmöglich ist, sich daran zu erinnern, wie beschwerlich die Anreise eigentlich gewesen war.
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Später schlendern wir durch die verträumte Kleinstadt mit den kachelverzierten Häusern und treffen am Pazifik an einem Kiosk auf zwei Einheimische, die uns sogleich mit Kaltgetränken und Garnelen versorgen. Sie gehören wohl eher zu den Ärmeren des Landes, dennoch sieht man, wie stolz sie sind, uns während der WM in ihrer Heimat, bewirten zu können. Der Anreisetag endet mit einem Abendmahl am Marktplatz. Nun ist auch Olinda in Partylaune. Auf der einen Seite schauen die Leute gebannt auf zwei Großleinwänden das Spiel des Erzfeindes Argentinien, auf der anderen Seite heizt eine Band mit Forro-Rhythmen ein und in den Palmen dazwischen ertönt Grillen-Gezirpe. Ein irrer Sound. Messi trifft. „O, linda!“ – Wie schön. Die Einheimischen fluchen mit Eisfachvisagen – drei Sterne plus!

Am nächsten Morgen bin ich aufgeregt wie ein Kleinkind vor Heilig Abend. Während wir auf den Bus warten, hole ich eine Runde „Cerveja Skol“ zum Runterkommen am gelben Kiosk. Heute findet – nachdem nun schon fast alle Teams gezeigt haben, was sie so draufhaben – unser erstes Gruppenspiel gegen Portugal statt. Das Warten von einer Fußball-WM bis zur nächsten ist endlich vorbei. Wir wollen das Match auf dem „FIFA-Fan-Fest“ schauen, doch zunächst müssen wir die uns zugelosten WM-Tickets in einem Shoppingcenter abholen. Im Hotel wurde behauptet, Bus Nr. 214 bringt uns dort hin. Der Witz: alle vorbei rauschenden Schrottkarren haben gar keine Nummern, sondern zeigen lediglich ihre Zielorte an. Außerdem muss man sie, falls es der richtige ist, mit lautem Schreien, oder einem gezielten Sprung vor die Frontscheibe, anhalten. Eine ältere Frau erklärt uns, dass wir den „Neves-Bus“ nehmen müssen. Nach nur 50 falschen Wagen rennt sie plötzlich wild gestikulierend los, hechtet auf den Asphalt und schiebt uns dann freudestrahlend durch die enge Fahrgasttür.
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Erst im Inneren fällt mir auf, wie cool Erni aussieht. Er hatte sich ein weißes Trikot und eine schwarze (extrem kurze) Hose gekauft und die Mädels machen sich darüber lustig, da sie solche Shorts das letzte Mal beim Turnunterricht in der 8. Klasse gesehen haben. Auch seine Adiletten finden sie todeskomisch. Jenna und ich tragen hingegen ganz gediegen die aktuellen schwarz-rot gestreiften Deutschland-Trikots, weswegen uns zwei Kids sogleich „Flamengo!“ zurufen und mit Händen und Füßen erklären, dass dies ihr Lieblingsverein in Brasilien ist. Nur Danny und Sylvie müssen wir echt noch einkleiden!
Wir sind spät dran, doch der Fahrer rast wie ein Henker und lässt das Gefährt in „Colt Seavers-Manier“ über diverse Buckel regelrecht abheben. Besonders in den Kurven und bei der Fahrt über schwindelerregend hohe Brücken kotze ich fast. Kurz vor 11 Uhr erreichen wir endlich das „Shoppi“ in der Nähe des Strandes. Hinter uns erhebt sich nun ein bedrohlich wirkendes Hochhausmeer aus Beton und Glas.
Das Einkaufsparadies ist weitläufig und verkauft Luxusartikel in einer Gegend, die eher ärmlich wirkt. Bis wir uns durchgefragt haben, dauert es, doch dann begleiten uns sogar zwei Uniformierte auf Segways in den heiligen Bereich. Ich schwitze aufgrund der fortgeschrittenen Zeit. Eine Frau mit ultratiefem Ausschnitt erklärt mir minutenlang weit vorgebeugt, wie ich meine VISA-Karte in den Automaten zu schieben habe. Zehn Minuten später halte ich WM-Tickets für das Match gegen Ghana in den Händen, auf denen tatsächlich unsere Namen stehen. Es ist der erste magische Moment dieser Reise.
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Nach zwei Fotos vor einem menschengroßen Gürteltier-Maskottchen rennen Sylvie und Danny plötzlich los, da sie noch shoppen wollen. Ich sprinte hinterher und bin kurz davor, einen Herzkasper zu bekommen. Es sind jetzt nur noch 40 Minuten bis zum Anpfiff. Vier lange Jahre habe ich auf diesen gewartet! Beim ersten Streit der Reise gehe ich als Punktsieger hervor, denn sie folgen mir angekotzt zum Ausgang.
Leider, so warnt das Personal, wäre das hier eine gefährliche Ecke, sodass sie uns raten, mit dem Bus zum Flughafen, um von dort aus mit der Metro ins Altstadtviertel zu fahren. Was für ein Umweg, aber nach der letzten Diskussion möchte ich die sehr sparsam lächelnden Frauen nicht auch noch überfallen und vergewaltigen lassen. Außerdem hat Danny die WM-Tickets in ihrer Tasche!
Als wir die „Estação Central“ erreichen, ist es bereits 12.50 Uhr. Ich sprinte zu einem Taxifahrer, wedele mit Geldscheinen und überzeuge ihn, auch mit fünf Fahrgästen augenblicklich nach „Recife Antigo“ loszurasen. Punkt 13 Uhr laufen wir durch ein geschmücktes Tor und hören die deutsche Nationalhymne, welche gerade vom Team auf der Leinwand mitintoniert wird. Geschafft – die WM beginnt!
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In der Altstadt wollen nur etwa 400 Leute das Spiel sehen – zu meinem Erstaunen sind davon 200 Deutsche und nur wenige Portugiesen. Ich hatte gedacht, dass die ehemaligen Kolonialherren mehr Fans motivieren können. Vorteil an der geringen Besucherzahl: leicht unterhopft werden wir augenblicklich mit eiskaltem Cerveja versorgt, was gleichzeitig bedeutet: sie verkaufen alkoholhaltiges Bier! Nachteil: 32 Grad, kein einziges Schattenplätzchen und nach 12 Minuten ist das erste Getränk verschüttet, denn Müller trifft zum 1:0. Auch beim zweiten Brahma landen durch Hummels etliche goldene Tropfen auf dem heißen Asphalt. Das dritte wird kurz vor der Pause wieder wegen Müller in den brasilianischen Himmel gejubelt.
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Was ist denn hier bitteschön los? Wir tanzen, singen und schwingen Fahnen mit unseren Landsleuten. Abkühlen! Im Gebäude neben der Leinwand gibt es ein Eisgeschäft und sogar eine Schlittschuhbahn. Draußen, im Backofen von Recife, erhöht der unglaubliche Thomas Müller in der 78. Minute zum unfassbaren 4:0. Mein Herz brennt und in Leidenschaft bricht um mich herum fast alles zusammen. Ich würde vieles dafür geben, dieses herausgeplatzte Gefühl auf dieser Reise nie wieder zu verlieren. Jegliche Zweifel, dass Deutschland schon in der Vorrunde scheitert, sind innerhalb von nur 90 Minuten verflogen. So werden wir sicherlich ganz weit kommen. Halbfinale gegen Brasilien? Finale? Titel?

Doch leider kann ich jetzt noch nicht berichten, wie diese Reise ausgegangen ist, denn ich habe ein bisschen Angst vor dem Zitat von dieser Frau Debska.
„Wenn ich jetzt nochmal irgendwo lese oder höre, wie deutsch alles ist und wie toll oder doof das ist, lasse ich auf den Schreiber einen deutschen Schäferhund los! Oder eine britische Bulldogge, ist mir ganz schnuppe.“
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