Foto: Sportverlag Berlin
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Lesen Sie im ersten Teil wie die tragische Friedensfahrt 1956 begann.

…wir drückten dem tapferen Kerl, Aurelio Cestari, in diesen Tagen genauso die Daumen wie unserem Täve nach all den Tragödien. Der bekannte Kurort Karlovy Vary war erreicht und die Zuschauer feuerten ihn heißblütig an. Doch plötzlich – etwa 1000 Meter vor dem Ziel – lag der Italiener auf dem Pflaster: die Kette war ihm herausgesprungen. Was für eine unglaubliche Pechsträhne! Obwohl er relativ schnell wieder auf den Beinen war, jagten der Holländer van ten Hof und der Franzose Inquel noch an ihm vorbei. Cestaris „Lohn“ für seine Alleinfahrt war abermals nur der dritte Platz.
Die 10. Etappe brachte keine Veränderungen und alle freuten sich daher auf das 11. Teilstück in die mährische Hauptstadt Brno (Brünn). Sie galt als schwerste Bergetappe der diesjährigen Friedensfahrt und alle ahnten, dass zwei der besten Amateurradsportler der Welt ihr ihren Stempel aufdrücken werden: Gustav Adolf Schur und Aurelio Cestari.

Als nach etwa 50 Kilometern der kleine Ort Vyskytna auftauchte, von wo sich die Straße hoch und steil den Berg hinaufschlängelte, war dies das Signal zum Sturm. Der blonde Täve stieg aus dem Sattel und nur der dunkle Schopf eines Italieners tauchte hinter ihm auf und konnte folgen. Noch waren 125 km zu fahren und einige Fahrer konnten aufschließen. Doch für uns stand schon jetzt fest, dass nur Schur oder Cestari heute gewinnen würden. Dem einen wünschten, dem letzteren gönnten wir es. In den Straßen von Brno ging ein Ruck durch die Spitzengruppe und die beiden konnten sich tatsächlich lösen. Die 60000 Leute im Stadion gerieten schier aus dem Häuschen, als sie erfuhren, wer hier allein dem Ziel entgegen jagte.

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Cestari bog auf die Aschenbahn ein, gefolgt von Täve. Wie wild spurtete der Italiener die Gegengerade hinunter, doch Täve kam ein wenig näher. Der Italiener trat jetzt noch schneller in die Pedalen und wurde dabei in der Zielkurve nach außen getragen. Täve erkannte blitzschnell seine Chance und zog innen an ihm vorbei. In einem grandiosen Finish sprintete er als erster über den weißen Zielstreifen und errang seinen dritten Etappensieg in diesem Jahr.

Karl-Marx-Stadt, Karlovy Vary und Brno – zum dritten Mal wurde Cestari der bereits sicher geglaubte Lorbeerkranz entrissen und einem Besseren – einem Glücklicheren – zuteil. Damals schrieb ich für das Deutsche Sportecho die Schlagzeile: „Triumph und Tragik – hauchdünn liegen sie oft beieinander“, aber seit jenem Tag habe ich den Begriff „Tragik“ nur noch sehr selten in Sportberichten verwendet.
Wer bei der Friedensfahrt 1956 am Ende die ersten drei Plätze belegte, kann man nachschlagen. Es waren weder Schur noch Cestari, doch nur diese Namen haben sich im Rückblick auf das Jahr in mein Gehirn gebrannt.

Aber es gab noch einen anderen Mann, der die ganze Härte dieses Sports verkörperte, der stets mit eiserner Disziplin seine Ziele verfolgte und vor dem ein ganzes Land deshalb mit großer Hochachtung sprach: Erich Schulz. An einem herrlichen Julitag 1956 brach deshalb für viele Radsportanhänger in der DDR eine Welt zusammen.

Schon als 15-jähriger trat Erich dem Berliner RV Arminius bei. Ohne vermögende Eltern konnte er sich keine eigene Rennmaschine leisten, doch er hatte eine Vision. Als Botenjunge verdiente er ein paar Mark für den Familienhaushalt dazu und legte Groschen um Groschen davon zurück, bis das Geld endlich für ein gebrauchtes Rennrad reichte. Dieses Rad wurde bald sein Ein und Alles und als blutjunger Anfänger ließ er beim Jahresabschluss der Saison 1930 seine 80 Konkurrenten einfach stehen und verbuchte seinen ersten Sieg.

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Schon im folgenden Jahr fuhr Erich in die Spitzenklasse der deutschen Jugendfahrer hinein und errang die inoffizielle Jugendmeisterschaft. Er trainierte weiterhin eisern und die Erfolge ließen die Fachleute aufhorchen. Sie beschlossen, ihn bei den „Großen“ mittrainieren zu lassen. Die Meistermannschaft von BRV Arminius hatte in Deutschland einen guten Ruf und wer zu ihr gehörte, konnte sich sehen lassen. Das jüngste Mitglied war nunmehr ein schmächtiger, kaum 17 Jahre alter Junge. Im Titelkampf des Jahres 1932 unterlag man zwar knapp den Jungs von Grün-Weiß – aber der vierte Mann im Team hieß bereits Erich Schulz.
Doch offenbar hatten die Trainer ihm zu viel zugemutet, denn der Körper des Jungen war noch nicht richtig entwickelt, um den harten Belastungsproben standzuhalten. Auch hier zeigte sich wieder der starke Charakter des Berliners. Er erkannte, dass eine längere Pause durchaus notwendig war und hielt diese auch durch.
Das Jahr hatte ihm gut getan und 1934 arbeitete er sich mit frischen Kräften schnell wieder in die A-Klasse vor. Große Siege blieben jedoch aus.
Immer wenn er mir später von jenen Jahren erzählte, sagte er, dass es ihm nicht an Kraft und Ausdauer gemangelt habe – sondern am Rennverständnis. Er hatte stets versucht die Entscheidung mit seinen schnellen Beinen zu erzwingen. Erst nach und nach merkte er, dass auch ein kluger Kopf einen guten Straßenfahrer ausmachte. Doch die „Alten“ im Verein erkannten das außergewöhnliche Talent ihres neuen Konkurrenten schnell und so fiel es ihnen nicht im Traum ein, taktische Schliche zu verraten. Erich musste sich dieses Können selbst erarbeiten. Und siehe da: plötzlich stellten sich auch im Männerbereich erste Erfolge ein.

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Doch. Bereits im Jahre 1936 wurde seine viel versprechende Laufbahn von heute auf morgen unterbrochen, denn Erich musste in die Kasernen der Hitlerschen Wehrmacht einrücken. Jung, gesund und voller Lebensmut. Neun Jahre später kehrte er als kranker Mann mit Geschwüren und Magenbluten ins Zivilleben zurück.
An Sport war in den Nachkriegstagen kaum zu denken. Erich besuchte wehmütig die ersten Bahnrennen im Stadion Mitte. Es begann zu kribbeln, wieder einen Rennlenker zwischen die Finger zu bekommen, und bald darauf bastelte er sich eine Rennmaschine zusammen. Allerdings lautete der Rat der Ärzte: „Bei Beschwerden unbedingt wieder aufhören!“ 1947 bestritt er bereits die ersten kleineren Wettkämpfe auf der Bahn. Doch um sein Leiden nicht zu verschlimmern, musste er alsbald zur Kur. 1950 konnte er als geheilter Mann auf das Rennrad steigen. Und er stürmte los. Platz 8 bei Berlin-Leipzig, er gewann die Harzrundfahrt und wurde 3. bei der DDR-Rundfahrt. „Eiserner Ete“ wurde er von nun an überall in der Republik genannt, denn ein jeder kannte seinen Leidensweg.
In den kommenden Jahren fuhr er von Erfolg zu Erfolg, doch im Gegensatz zu seinen Lehrjahren gab der Altmeister die Erfahrungen und Taktiktipps an Jüngere weiter. 1953, bei meiner allerersten Tour, führte er die DDR-Mannschaft als Kapitän zur Friedensfahrt. Eine Knöchelverletzung, die er sich bei einem Sturz zugezogen hatte, war am Ruhetag dick angeschwollen, doch er raunte mir zu: „Laufen kann ich nicht, aber Radfahren“. Er humpelte davon und trat am nächsten Tag wieder in die Pedalen.

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Sein letztes Rennen war die DDR-Rundfahrt 1956. Nach seinem Sieg auf der ersten Etappe und beim Mannschaftszeitfahren seiner SV Post stellten sich immense Sitzbeschwerden ein. Er war die Etappe nach Halle mehr oder weniger im Stehen gefahren. Danach reinigte er erst seine Maschine und redete mit jedem Teamkollegen bevor er sich behandeln ließ. Erich war eben ein charakterfester Mensch und der beste Freund seiner Kameraden, der seine Karriere gerne mit dem Sieg dieser Rundfahrt gekrönt hätte.
Am 11. Juli geschah es. Nach 16 Kilometern gab es einen furchtbaren Massensturz auf der Rollsdorfer Höhe kurz hinter Halle. Doch während sich alle wieder erhoben, blieb ein Fahrer liegen und stand nie wieder auf. Ein doppelter Schädelbasisbruch hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Einer der liebenswertesten Menschen und besten Sportler der DDR war mit 42 Jahren von uns gegangen: der eiserne Ete.

Lesen Sie im ersten Teil wie die tragische Friedensfahrt 1956 begann.

Cover Alles ganz Simpel-klein

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